Mitte Dezember haben die Ministerpräsidenten der Länder einstimmig der bei den Koalitionsverhandlungen mitbeschlossenen Föderalismusreform zugestimmt. Allenthalben gab es ein großes Aufatmen: Endlich könne die Blockade zwischen Bundestag und Länderkammer beim Verabschieden von Gesetzen aufgehoben werden. Durch strikter abgegrenzte Kompetenzen von Bund und Ländern sollen künftig nicht mehr rund 60 Prozent der Bundesgesetze, sondern nur noch 30 bis 35 Prozent einer Zustimmung der Länder bedürfen. Die erhielten im Gegenzug die nahezu ausschließliche Zuständigkeit im Hochschulwesen, mehr Rechte im Öffentlichen Dienst, bei den Beamten, bei den Umweltgesetzen und auf anderen Gebieten (z.B. bei einzelnen Steuergesetzen).
Der in der Bundesrepublik stark ausgeprägte Föderalismus war einstmals ein "Geschenk" der Alliierten. Niemals sollte Deutschland wieder in Gefahr geraten, dass eine mächtige Zentralregierung auf legalem Wege in eine Diktatur führt. Nicht zuletzt deshalb räumte das Grundgesetz den Ländern ein starkes Gegengewicht und effektive Kontrollrechte gegenüber dem Bund ein.
Nun lässt sich allerdings kaum bestreiten, dass der Bundesrat seit der "Sonthofen-Strategie" eines Franz Joseph Strauß gegen die damalige sozial-liberale Koalition bis hin zur Erzwingung einer faktischen großen Koalition zu Zeiten von Rot-Grün die Mitbestimmungs- und Zustimmungsbefugnisse der Länderregierungen als Kampfinstrument gegen die jeweilige Bundesregierung eingesetzt - ja, missbraucht - hat. Das war aber keinem Webfehler der Verfassung, sondern einer den Funktionssinn des Bundesstaates pervertierenden parteipolitischen "Machtbesessenheit" (R. v. Weizsäcker) geschuldet. Statt die horizontale Gewaltenteilung zu achten, statt den Subsidiaritätsgedanken zu stärken, statt den Bundesrat als integratives Instrument der Konfliktbewältigung zu nutzen, wurden die konstruktiven Funktionen des Föderalismus durch parteipolitische Machtspiele im Bundesrat desavouiert. Nicht eine Reform des Föderalismus hätte daher auf die Tagesordnung gehört, vielmehr hätte der machtpolitische Missbrauch des bundesstaatlichen Organs Bundesrat mit Nachdruck bekämpft werden müssen.
Bayern-München-Effekt
Die "Föderalismusreform" firmiert somit unter falschem Etikett, geht es doch mit diesem Vorhaben nicht darum, die seit Jahrzehnten erfolgreichen und nach wie vor vernünftigen Prinzipien des Föderalismus zu stärken. Ziel ist es vielmehr, der Bundesregierung ein "Durchregieren" in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu erleichtern, während als Gegenleistung die Regelungszuständigkeit der Länder gerade auf wichtigen Feldern wächst.
Statt dem Bundesstaat in Zeiten einer schrumpfenden Gestaltungsmacht des nationalen Gesetzgebers gegenüber global wirkenden Wirtschafts- und Finanzinteressen mehr Spielräume zu verschaffen, werden dem Bund durch diese "Reform" Kompetenzen auf vielen, zukunftsträchtigen Politikfeldern wie dem Hochschulwesen, dem Umweltschutz oder der Neuordnung des Öffentlichen Dienstes zugunsten der Länder entzogen.
Ausschließlich bei der inneren Liberalität wird im Gegenzug die Zentralisierung deutlich gestärkt, etwa durch die Ausweitung der Kompetenzen des Bundeskriminalamtes (BKA) zur Abwehr terroristischer Gefahren.
Als Begründung für mehr Länderzuständigkeiten spricht man landauf landab von mehr Autonomie, von mehr Deregulierung und mehr Wettbewerb zwischen den Ländern. Dies werde die Bundesrepublik - endlich - "voranbringen".
Nun erleben wir Tag für Tag, was mehr Deregulierung und mehr Wettbewerb auf transnationaler Ebene bedeuten. Sie lösen einen Wettlauf um die Senkung von Steuern oder von politisch erkämpften Umwelt- und Sozialstandards aus. Mehr Wettbewerb bedeutet schließlich auch, dass die Stärkeren sich gegen die Schwächeren durchsetzen und die gegenüber Umwelt- und Sozialstandards skrupelloseren Akteure diejenigen in Zugzwang setzen, die diese Normen als soziale Errungenschaften erhalten wollen. Was auf europäischer Ebene bis hin zur Bundesregierung inzwischen - etwa bei der Dienstleistungs-Richtlinie - wenigstens verbal bekämpft wird, weil es auf einen Verlust von über Jahrzehnte hinweg erkämpften sozialen Rechte hinausläuft, wird nun im Inland zum Prinzip erhoben. Ein paradoxer Vorgang.
So soll etwa die Abwerbung von Spitzenkräften durch die finanzkräftigen Bundesländer - ermöglicht durch die unterschiedliche Besoldung von Professoren, Lehrern oder Verwaltungsbeamten - künftig zum erwünschten Wettbewerb gehören. Wir bekommen sozusagen auf Länderebene einen "Bayern-München-Effekt": Die "Bayern" kaufen bekanntlich nicht so finanzkräftigen Klubs die hoffnungsvollen Spieler ab und bauen damit ihre Spitzenposition in der Bundesliga aus; die ärmeren Vereine tummeln sich dann am Tabellenende oder steigen gar ab. Was man beim Fußball noch hinnehmen kann, wird auf staatlicher Ebene weiter zu Lasten einheitlicher Lebensverhältnisse in Deutschland gehen - und das auf Kosten von Millionen Menschen, die eben nicht in den finanzstärkeren Ländern leben.
In der Umweltpolitik wird ein verschärfter Standortwettbewerb zwischen den Ländern - wie wir das international bereits erleben - zu einem Abschleifen ökologischer Standards führen. Logischerweise wird dort investiert, wo geringere Standortanforderungen geringere Investitions- und Produktionskosten zur Folge haben.
Angesichts des laufenden "Bologna-Prozesses", der auf einen einheitlichen europäischen Hochschulraum mit einheitlichen Abschlüssen und harmonisierten Studieninhalten zielt, ist es geradezu absurd, wenn in Deutschland ausgerechnet diese Regelungsbefugnis der Provinzialität anheim gegeben werden soll. Wird nämlich die gemeinschaftliche Finanzierung des Baus von Hochschulen und Forschungsgroßgeräten durch Bund und Länder abgeschafft, kann dies nur zu unsinnigen und teuren Mehrfachinvestitionen zwischen den "starken" Wettbewerbern führen, während die ärmeren Länder abgehängt werden, weil sie die "guten" - leider meist zu teuren - Wissenschaftler und Forschungsgroßgeräte nicht bezahlen können. Was das für die ärmeren Hochschulen in Ostdeutschland bedeutet, liegt auf der Hand. Damit wird einer der international anerkannten Vorteile des deutschen Hochschulwesens - der qualitativ einigermaßen gleichwertige Leistungsstandard aller Bildungsstätten - ohne Not verspielt.
Der Markt ist wertblind
Mit dieser Föderalismusreform haben sich einmal mehr jene Kräfte durchgesetzt, die von Deregulierung und Wettbewerb nicht nur mehr Effizienz erwarten, sondern darin das zentrale Steuerungs- und Allheilmittel sehen, nicht nur für die Wirtschaft, auch für gesellschaftliche und politische Abläufe überhaupt.
Nichts gegen Wettbewerb - schon gar nichts gegen Wettbewerb zwischen Betrieben und seine auf dem Markt unersetzbare steuernde Funktion. Das Wettbewerbsprinzip jedoch immer mehr und ohne nötiges Augenmaß auf Gesellschaft und Staat zu übertragen, birgt riesige Gefahren für den Zusammenhalt unseres Gemeinwesens und die Demokratie insgesamt.
Kaum jemand wird bestreiten können, dass hinter jedem Wettbewerb das Motiv des Eigennutzes steht - während eine demokratische Gesellschaft vorrangig für das Gemeinnützige oder sogar für das Solidarische steht. Wettbewerb lebt von der Konkurrenz - ein demokratisches Gemeinwesen ganz entscheidend von der Kooperation. Wettbewerb schielt auf den kurzfristigen Erfolg - was wäre ein Staat wert, der es nicht als seine Pflicht betrachtet, stets die längerfristigen Interessen der gesamten Bevölkerung im Auge zu haben?
Der Wettbewerb schafft äußere, fremdbestimmte Zwänge - Demokratie aber braucht das Prinzip der Selbstbestimmung wie die Luft zum Atmen. Es wird geradezu als Kult gepflegt, dass im ökonomischen Wettbewerb immer auch autoritäre Entscheidungen der "Unternehmensführer" geboten sind - die Gesellschaft, der Staat oder die Länder untereinander sind hingegen keine einzelwirtschaftlich agierenden Unternehmen mit Managern an der Spitze. Sie sind laut Grundgesetz demokratisch konstituiert. Wettbewerb hält Ungleichheit aus, ja, braucht sie als Antriebskraft - eine Gesellschaft jedoch bricht auseinander, wenn zuviel Ungleichheit herrscht.
Wettbewerb ist gewinnorientiert - aber eine offene demokratische Gesellschaft, die Zukunft gestalten will, braucht Spielraum für das Neue, das Unsichere, das sich nicht sofort und kalkulierbar in Profit Niederschlagende - man denke nur an Bildung und Forschung.
Wettbewerb mag zu einzelwirtschaftlicher Effizienz führen, die volkswirtschaftliche Effizienz misst sich am Allgemeinwohl und am allgemeinen Wohlstand, was ohne normativen Rahmen - etwa das Prinzip des Sozialstaats - nicht gewährleistet ist, denn der Markt ist wertblind.
Wie gesagt: Nichts gegen Wettbewerb, wo er einen Sinn ergibt und seinen Platz hat. Wird der Wettbewerbsgedanke jedoch zum herrschenden Funktionsprinzip für Staat und Gesellschaft, gerät die demokratische Substanz in Gefahr. Gewiss braucht eine demokratisch verfasste Gesellschaft den Wettbewerb als wichtiges Regulativ, aber die historische Erfahrung zeigt, dass Wettbewerb durchaus auch ohne Demokratie auskommt. Es ist schließlich kein Zufall dass selbst in faschistischen Diktaturen von Hitler über Franco bis Pinochet der kapitalistische Wettbewerb weitgehend unangetastet blieb.
Kanzlerin Merkel lobte, dass mit der Föderalismusreform "das Gemeinwohl und das gesamtstaatliche Interesse" nach vorn gebracht werden könnten. Doch mehr Zuständigkeiten für die Bundesländer sowie mehr Wettbewerb zwischen ihnen verheißen - abgesehen von den Risiken für die Demokratie - eher mehr Provinzialität. Die Wettbewerbs-Republik ausgerechnet in Zeiten globaler Herausforderungen und der Verlagerung nationaler Entscheidungsbefugnisse auf die supranationale europäische Ebene für einen erfolgreichen Weg in die Zukunft zu halten, scheint an der Zukunft ziemlich vorbei gedacht. Statt Wohlstand und gleichwertigen Lebensverhältnissen für alle, "voran" mit noch mehr Differenz, mehr Unterschied, mehr Ungleichheit!
Wolfgang Lieb ist Mitherausgeber der NachDenkSeiten, er war 1996 bis 2000 Staatssekretär im Wissenschaftsministerium von NRW.
Föderalismusreform
Tribut des Bundes - Trophäen der Länder
Die Rahmenzuständigkeiten des Bundes werden in vielen Bereichen nahezu komplett abgeschafft. Selbst dort, wo Zuständigkeiten des Bundes bleiben, soll es künftig für die Länder so genannte "Abweichungsregelungen" geben, etwa bei der Ausführung von Bundesgesetzen, bei der Umweltgesetzgebung, vor allem beim Naturschutz und bei der Landschaftspflege, beim Artenschutz, bei der Raumordnung und bei Regelungen des Wasserhaushalts.
Ohne Kompetenz
Durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hatte der Bund bei den Hochschulen schon bisher nur noch einen Rahmen ohne Kompetenz. Im vergangenen Jahr war der Länder-Egoismus durch zwei wichtige Urteile der Karlsruher Richter antizipiert worden: Sowohl bei der faktischen Verhinderung der "Juniorprofessur" wie auch der Aufhebung der bundesweiten Studiengebührenfreiheit. Künftig sollen die Länder auch noch von den Minimalvoraussetzungen eines einheitlichen Hochschulwesens, nämlich von bundesweiten Regelungen für den Hochschulzugang und für die Hochschulabschlüsse abweichen dürfen - der Bund darf zwar noch entsprechende Regelungen treffen, doch die Länder brauchen sich nicht mehr an sie zu halten.
Ohne "goldenen Zügel"
Die oftmals bespöttelten "hergeholten" Grundsätze des Berufsbeamtentums sollen nunmehr "fortzuentwickeln" sein. Die Länder erhalten die Regelungshoheit über die Angehörigen ihres Öffentlichen Dienstes bis hin zur Festsetzung der Besoldungshöhe und der Arbeitskonditionen für ihre Beamten.
Auch bei der "konkurrierenden Gesetzgebung", also dort wo der Bund sozusagen ein Recht des ersten Zugriffs hat, werden ihm engere Fesseln angelegt.
Bei den so genannten Gemeinschaftsaufgaben hatte der Bund bisher nur den "goldenen Zügel" - sprich: das Geld als Lenkungs- und Anreizmittel - in der Hand. Nun wird die Gemeinschaftsaufgabe in Gestalt einer Ko-Finanzierung beim Bau von Hochschulen sowie Forschungsgroßgeräten oder bei Vorhaben von nationaler Exzellenz komplett abgeschafft.
Außerdem gehen die Kompetenzen beim Versammlungsrecht, beim Strafvollzug, beim Ladenschlussrecht, beim Gaststättenrecht, bei Sport- und Freizeitanlagen, beim Lebensmittelrecht oder für die allgemeinen Rechtsverhältnisse der Presse komplett auf die Länder über. Auch beim Steuerrecht - etwa bei den Verbrauchs- und Aufwandssteuern, vor allem bei der Grunderwerbssteuer, erhalten die Länder eine größere Selbstständigkeit.
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