Schon der erste Satz der Präambel des schwarz-roten Koalitionsvertrages kommt nicht ohne Widersprüche aus. "Deutschland steht vor großen Herausforderungen: Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, demografischer Wandel und Veränderungsdruck der Globalisierung verlangen große Anstrengungen, um heutigen und künftigen Generationen ein Leben in Wohlstand zu sichern", ist da zu lesen.
Nur bestreitet außer einem "Basarökonomen" aus München in Wirklichkeit kaum jemand, dass Deutschland als Exportweltmeister eher Gewinner als Verlierer der Globalisierung ist. Auch erscheint das Joch der "Überalterung" nicht so fest gezurrt, als dass es in der nächsten Legislaturperiode nicht von den "Babyboomern" aus den sechziger und siebziger Jahren gelockert werden könnte. Selbstverständlich haben wir ein unerträgliches Problem mit der Arbeitslosigkeit und mit einer prekären Lage der öffentlichen Haushalte. Doch entbehrt es jeder ökonomischen Logik, die entscheidende Ursache dieser Misere - nämlich eine depressive Wirtschaft und eine seit Jahren schwindsüchtige Binnennachfrage - nicht als die zentrale "Herausforderung" zu benennen. Ein Ankurbeln der Konjunktur, um Binnenmarkt und Wachstum zu stimulieren, hätte die Kernfrage sein müssen, auf die CDU/CSU und SPD Antworten suchen. Zumal im Koalitionsvertrag selbst darauf hingewiesen wird, dass schon ein halbes Prozent Wachstum 2,5 Milliarden Euro zusätzliche Steuer- und 2,3 Milliarden Mehreinnahmen für die Sozialsysteme brächte.
Offenbar gilt den Koalitionären ein Konjunkturaufschwung vorrangig als eine Frage des "Gottvertrauens" (Angela Merkel). Nicht ein Nachfrageschub, sondern die "Wiederbelebung der Investitionstätigkeit ist der Schlüssel für neues Wirtschaftswachstum", lautet wie schon bei Rot-Grün das Credo von Schwarz-Rot.
Im Koalitionsvertrag wird freimütig bekannt, dass die unter Kanzler Schröder gesenkten Steuersätze wohl den Unternehmen zugute kamen, aber leider mehr Ertragskraft nicht zu ausreichenden Inlandsinvestitionen geführt habe. Wenn das der Fall ist, weshalb bleibt dann auch die neue Bundesregierung fast ausschließlich auf die Angebotsseite der Wirtschaft fixiert? Warum dann dieses "weiter so"? Warum noch bessere Abschreibungsbedingungen, Erleichterungen bei der Schenkungs- und Erbschaftssteuer? Warum demnächst eine noch investitionsfreundlichere Unternehmenssteuerreform? Was haben denn bisher die "historisch einmaligen" (Gerhard Schröder) Steuersenkungen an neuen Arbeitsplätzen, an Schuldenabbau gebracht?
Eine Worttrias aus der Präambel des Koalitionsvertrages lautet: "Sanieren, reformieren, investieren". Schon die Reihenfolge spricht Bände: Erstens, sparen und nochmals sparen. Zweitens, die Sozialsysteme "reformieren" (will sagen abbauen). Und wenn noch etwas übrig bleibt, (sehr verhalten) investieren.
Zunächst einmal sollen bis 2007 im Bundeshaushalt 30 bis 35 Milliarden Euro eingespart werden, allein bei Hartz IV bis zu vier Milliarden, vom Aderlass bei der Entfernungspauschale oder bei den Zuschüssen für Rente und Gesundheit ganz zu schweigen. Darüber hinaus wird das Gegenteil von dem getan, was in jedem Ökonomie-Lehrbuch steht, und ab 2007 die Mehrwertsteuer um drei Prozent (oder 24 Milliarden/Jahr) erhöht, so dass der Konsum als schwächster Teil der Wirtschaft weiter geschwächt wird.
Wie soll da ein Investitionsprogramm, verteilt auf vier Jahre (!) und mit einem Volumen von 25 Milliarden, die Wirtschaft in Schwung bringen? Schaut man genauer hin, was in dieses 25-Milliarden-Paket gepackt werden soll, so wird vollends klar, dass da eine Mogelpackung auf den Weg gebracht wird: Fünf Milliarden an Abschreibungserleichterungen vorzugsweise für den Mittelstand, fünf Milliarden für die steuerliche Abzugsfähigkeit von haushaltsnahen Dienstleistungen (früher als "Dienstmädchenprivileg" bekannt), dazu das Elterngeld. Gewiss sind 4,3 Milliarden an Verkehrsinvestitionen und sechs Milliarden für die Förderung neuer Technologien nicht zu unterschätzen - aber diesen Bauchladen als "Investitionsprogramm" zu bezeichnen, ist lächerlich.
Berücksichtigt man zusätzlich, dass die staatlichen Bruttoinvestitionen, an denen das Grundgesetz nach Artikel 115 die Grenze der Neuverschuldung orientiert, von 30,7 (2004) um ein Viertel auf 23 Milliarden zurück gefahren werden sollen, steht außer Zweifel: Die große Koalition wird entschieden mehr Nachfrage drosseln als stimulieren.
Franz Müntefering hat während der Koalitionsgespräche stets erklärt, dass Sozialdemokraten für einen "handlungsfähigen Staat" kämpfen. Wer glaubte, damit sei ein Staat gemeint, der seine Aufgaben erfüllt, indem er dem Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft zum Durchbruch verhilft, sieht sich getäuscht. Vom "handlungsfähigen Staat" wird von den Koalitionären nur an wenigen Stellen gesprochen: Wenn es um einen konsolidierten Haushalt geht, um mehr Verwaltungseffizienz im Föderalismus und - man höre und staune - um innere Sicherheit und Terror-Bekämpfung. Ein "starker Staat" im Sinne von Law Order also, der zum wirtschaftsliberalen Paradigma dieses Koalitionsvertrages passt. Ein Staat, der für mehr Markt zu sorgen und mehr Eigenverantwortung zu verlangen hat, um die sozialen Sicherungssysteme zu privatisieren. Der die Verlierer der Marktgesellschaft "fordert" und - damit es in der Gesellschaft nicht zu sehr gärt oder gar explodiert - Ruhe und Ordnung garantiert.
Damit gewinnt ein Gesellschaftsbild an Schärfe, von dem sich die große Koalition leiten und das erkennen lässt: Die Entscheidung zwischen dem sozialen Wohlfahrtsstaat und dem wirtschaftsliberalen Staat hätte kaum eindeutiger ausfallen können. In der Überschrift des Vertrages heißt es: "CDU/CSU und SPD - gemeinsam für Deutschland". Tatsächlich müsste es heißen: Schwarz-Rot gemeinsam gegen eine Mehrheit der Deutschen, die am 18. September für den Sozialstaat und mehr Solidarität votierten.
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