In der aktuellen Wirtschaftskrise sind die Gewerkschaften wichtiger denn je. Umso dramatischer ist ihre derzeitige Schwäche angesichts der täglich neuen Hiobsbotschaften über Arbeitszeitverlängerung und Lohnsenkungen, über Stellenabbau und Job-Verlagerung. Auch die gesellschaftspolitische Bilanz ist nicht sonderlich eindrucksvoll: Nach den großen Demonstrationen mit 500.000 Teilnehmern im April 2004 folgte als Steigerung ein Arbeitnehmerbegehren, das gerade doppelt soviel Unterschriften brachte. Nur ein kleiner Teil der Mitglieder hat unterschrieben. Inzwischen gestand der DGB-Vorsitzende Michael Sommer die Niederlage bei der Mobilisierung gegen das Allparteien-Hartz-IV-Paket ein und verkündete seinen Frieden mit der Politik der Bundesregierung. Damit hat er das verbreitete "Loser"-Image der Gewerkschaften eindrucksvoll bestätigt: laut brüllen, wenig erreichen und schließlich zu Kreuze kriechen.
Die Londoner Financial Times vergleicht den momentanen Generalangriff auf Einkommen, Sozialversicherungen und Arbeitnehmerrechte mit dem Crashkurs Maggie Thatchers vor 20 Jahren. Damals wurde der britische Sozialstaat zerschlagen und die Macht der "Trade Unions" gebrochen. Diese prinzipielle Herausforderung wird von den deutschen Gewerkschaften immer noch nicht begriffen - weder im Kopf noch im praktischen Handeln. Statt aus bürokratisierten Apparaten wieder kampagnen- und konfliktfähige Organisationen zu machen, die eigenen Ziele neu zu formulieren und in die Öffentlichkeit zu bringen, werden gewerkschaftsinterne Sparprogramme als schlechter McKinsey-Aufguss exekutiert.
Die immer dreisteren Erpressungsversuche der Unternehmenschefs haben die konsens-verwöhnten Gewerkschaften in der Kuschelecke kalt erwischt. Plötzlich sind sie nicht mehr gefragt. Jetzt zeigen die Konzerne, wer das Sagen hat in dieser Demokratie. Bundesregierung und Landesregierungen parieren, und Gewerkschaften werden nur noch für die geräuschlose Abwicklung der so genannten betrieblichen Restrukturierungen gebraucht. Plötzlich müssen sich Organisationen, die über Jahrzehnte hinweg Konsenskultur und Gremienarbeit gelernt haben, vollständig umstellen und wieder begreifen, wie man Kampagnen organisiert, wie man die Köpfe und die Herzen der Beschäftigten und Arbeitslosen gewinnt.
PR- und Marketing-Desaster
Die Ware Arbeitskraft - auch die qualifizierte - gibt es weltweit im Sonderangebot. Mit den Transformationsökonomien Mittel- und Osteuropas, der Einbeziehung Chinas und Indiens mit ihren zig Millionen Arbeitskräften in den kapitalistischen Weltmarkt ist das Verhältnis von Angebot und Nachfrage für absehbare Zeit aus den Fugen geraten. Diese globale Verschiebung im Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit wirkt auf die nationalen Arbeitsmärkte, auch wenn gesetzliche und tarifliche Schutzmauern den Prozess verlangsamen. Statt Humanisierung der Arbeitswelt und weiterer Arbeitszeitverkürzung steht die Verteidigung von Einkommen und Arbeitnehmerrechten auf der Tagesordnung. Auch dabei kann man Erfolge erzielen. Das hat der Konflikt in der Siemens-Kommunikationssparte in München gezeigt. Dort scheiterte der geplante Personalabbau weitgehend, weil Beschäftigte, Betriebsrat und Gewerkschaft alle Möglichkeiten des Widerstands nutzten und vor allem die öffentliche Meinung bestimmten.
Gerade in Zeiten der Defensive ist der Wille zur ideologischen "Lufthoheit" unerlässlich. Nur wer von einer Sache überzeugt ist, ist auch zum Engagement bereit. Nur haben die Gewerkschaften den Kampf um die öffentliche Meinung seit langem verloren und inzwischen offenbar aufgegeben. Auch deswegen ist die Kampagne gegen die Agenda 2010 gescheitert. Nach Jahren erfolgreicher Kapitalpropaganda war der Boden für Eingriffe in den Sozialstaat bereitet. Das Unternehmerlager hat das Kunststück fertig gebracht, die Interessen einer kleinen, reichen Minderheit zur Mehrheitsmeinung zu machen. Im Vergleich dazu war der Widerstand der Gewerkschaften gegen die Allparteien-Agenda ein PR- und Marketing-Desaster.
Noch nie waren Gewerkschaften nötiger
Die Gegnerschaft der Gewerkschaften zum gesellschaftlichen Mainstream und damit auch ihre relative Isolierung ist im Kapitalismus die Regel. Sie sitzen grundsätzlich am kürzeren Hebel. Wenn sie zeitweilig mehr Einfluss und Durchsetzungsmacht haben, ist das eher die Ausnahme. Aber dass die Gewerkschaften heute auf vielen Politikfeldern und auch in der Tarifpolitik ideologisch unter Beschuss stehen, resultiert nicht zwangsläufig aus dem Übergewicht der anderen Seite, sondern auch aus eigenen Versäumnissen. Alle Umfragen zeigen: Nie waren Gewerkschaften in den vergangenen Jahrzehnten im Bewusstsein der Bevölkerung nötiger als jetzt. Und noch nie waren sie so wenig in der Lage, die elementaren Aufgaben zum Schutz der Beschäftigten wie der Arbeitslosen wahrzunehmen. Sie gelten nicht als Repräsentanten von Millionen, sondern als Lobby-Verein unter vielen.
Während sich Heiner Geißler, Horst Seehofer, Norbert Blüm, der katholische Sozialphilosoph Friedhelm Hengsbach und jetzt sogar SPD-Chef Müntefering als Gegner des Marktradikalismus profilieren und eine Chance nutzen, die von den Gewerkschaften längst hätte ergriffen werden müssen, haben diese den Kampf um die kulturelle Hegemonie faktisch aufgegeben. Ihnen fehlt das Verständnis dafür, dass in der Mediengesellschaft gesellschafts- und tarifpolitische Vorstellungen gezielt lanciert werden, dass Begriffe besetzt und neu definiert werden müssen, damit sie die öffentliche Meinung durchdringen und die eigenen Mitglieder erreichen.
Selbst beste Gelegenheiten wurden verpasst: So berichtete die Wirtschaftspresse, dass Deutschland nach langen Jahren wieder Exportweltmeister ist, weil die Löhne seit 1995 in der Konkurrenz zu den anderen Industrieländern zurückblieben. Es gibt also keinen Standortnachteil, zumindest nicht gegenüber den industrialisierten Ländern. Und das bedeutet auch: Die IG Metall hat durch relativ niedrige Lohnabschlüsse dazu beigetragen, dass die deutsche Industrie gegenüber anderen Ländern konkurrieren kann. Laut Financial Times Deutschland müsse man nach diesen Daten die ganze Standortdebatte hinterfragen und die Ursache der Stagnation im Lande selber suchen.
Kein Fürsprecher mehr
Sogar ureigene Gewerkschaftsthemen werden nicht offensiv vertreten. Beispiel Unternehmensmitbestimmung: Warum wird nicht die Offensive gesucht, um zu beweisen, dass alle Argumente gegen Mitbestimmung - zu wenig Sachkompetenz, zu langatmige Verfahren - letztlich gegen jede Form von demokratischer Vertretung gerichtet sind und aus einem elitären Gesellschaftsbild stammen? Warum dem Unternehmerlager kampflos Begriffe wie Modernisierung oder Liberalismus überlassen? Was hat es mit Markt zu tun, wenn Konzerne und Unternehmerverbände die Agenda der Regierung bestimmen? Wer enthüllt den perversen Zustand, dass die lautesten Verfechter deregulierter Arbeitsmärkte selbst ungeniert Subventionen und Steuervergünstigungen einstreichen, nach Monopolstellungen streben und staatlichen Schutz gegen Konkurrenten fordern? Warum sind die Gewerkschaften nicht fähig, gegen die "Initiative Neue soziale Marktwirtschaft" und andere dubiose Lobby-Verbände eine eigene Kampagne zu setzen - zwar mit weniger Geld, aber mit mehr Fakten und der Zustimmung einer Mehrheit der Bevölkerung. Warum gründen die Gewerkschaften nicht eine Initiative "Bürger für mehr Steuergerechtigkeit"?
Derzeit können die Gewerkschaften nicht ernsthaft behaupten, für die über 30 Millionen abhängig Beschäftigten in Deutschland zu sprechen. Das nimmt ihnen niemand ab. Sie haben die Autorität verloren, das schlimmste Elend und die schamloseste Ausbeutung anzuprangern, weil die Menschen in den prekären Jobs, die Illegalen und die Marginalisierten in den Gewerkschaften keine Fürsprecher mehr haben. Da sind die Wohlfahrtsverbände, die Kirchen und Flüchtlingsorganisationen besser. Was tun die Gewerkschaften für die Arbeitslosen, die Sozialhilfeempfänger - für alle, die aus der festen Beschäftigung in einem Mittel- oder Großbetrieb herausfallen? Praktisch herzlich wenig. Kampagnen, in denen man/frau mitmachen kann, gibt es nicht. Die Gewerkschaften müssen sich eingestehen, dass sie derzeit gar nicht in der Lage sind, den Schwächsten in dieser Gesellschaft eine Stimme zu geben, auch wenn sie es wollten.
Folglich klingt der Anspruch, für die Mehrheit zu sprechen, einigermaßen hohl. Viele bleiben in der Gewerkschaft, weil sie allein verloren sind. Aber jedes Mitglied kann erwarten, dass seine Organisation alles tut, um das Beste herauszuholen oder Schlimmeres zu verhindern. Und jedes Mitglied sollte in die Diskussion darüber einbezogen werden, ob und wie die Gewerkschaften Wege finden, um wieder offensiver zu werden.
Wolfgang Müller ist Mitarbeiter der IG Metall in München und Aufsichtsratsmitglied der Siemens AG.
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