Haben die Deutschen aus ihrer Geschichte gelernt? Kann man überhaupt aus der Geschichte lernen? Oder ist das durchschnittliche Geschichtswissen hierzu ohnehin zu gering? Was kann, was sollte das Deutsche Historische Museum zum Verständnis der deutschen Geschichte beitragen?
Nach rund 20jähriger Vorbereitungszeit wurde nun die lange geplante ständige Ausstellung im Zeughaus eröffnet. Generaldirektor Hans Ottomeyer hatte das Haus 2000 von seinem Vorgänger Christoph Stölzl übernommen. Er stand unter dem Druck diese ständige Schau zügig zu realisieren. Ottomeyer setzt auf die Aussagekraft der originalen Objekte, auf die nonverbale Sprache der Dinge, Dokumente und Gemälde, die für die Lebenswirklichkeit aber auch für die politische Ikonographie aussagefähig sind. In ihnen, so meint er, werde Geschichte präsent. In dieser Welt von Zeichen und ihrer Mythen habe sich Europa in den letzten 2000 Jahren verständigt. Eine deutsche Staatsbürgerschaft gibt es dagegen erst seit 1918/19.
Für die ständige Ausstellung wurde das chronologische Prinzip eines Hauptweges mit "Vertiefungsräumen" gewählt. Das ursprüngliche Konzept von 1987 sah einen Zeitraum zwischen 1500, dem Entstehen eines sprachlich-kulturellen Eigenbewusstseins der Deutschen, und 1945 vor. Ottomeyer hat dies nun um eine erste Abteilung mit der Vorgeschichte vom 1. Jahrhundert bis 1500 erweitert. Auch wurde eine weitere Abteilung von 1945 bis 1994, dem Abzug der alliierten Besatzungstruppen, angehängt. Dazwischen folgt die Ausstellung den üblichen Zäsuren der frühen Neuzeit, der französischen Revolution von 1789 bis zu der von Bismarck eingefädelten Reichsgründung von 1871 in der Folge des Krieges gegen Frankreich, dem demokratischen Versuch von 1918/19 und der Weimarer Republik sowie dem Sieg des Nationalsozialismus nach 1933. Diese Zeiträume sind als Parcours angelegt, in den 8152 Objekte eingearbeitet wurden und der Besucher 8000 Quadratmeter Fläche zu bewältigen hat.
Aussagekräftig ist die Herkunft der Objekte, da seit Beginn des Projektes eines Deutschen historischen Museums im Jahr 1981 die Geschichte selbst hierauf eingewirkt hat. Im Zeughaus, seit 1990 Sitz des DHM, wurden seit 300 Jahren Objekte gesammelt, meist militärische Ausrüstung. Zudem hat jede politische Herrschaftsform an diesem Ort ausgestellt, so beispielsweise auch Hitler während des 2. Weltkrieges erbeutete Waffen. Seit 1952 waren im wiedererrichteten Gebäude mit der Gründung des Museums für deutsche Geschichte, nunmehr im sowjetischen Sektor von Ostberlin, die für die Darstellung des marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes interessanten Sammlungen angelegt worden, nicht zuletzt zur Zeitgeschichte der DDR. Daher ist es eine bemerkenswerte Fußnote der deutschen Teilungsgeschichte, dass etwa die Hälfte der Objekte der ständigen Ausstellung aus diesen ehemaligen DDR-Sammlungen stammt, die andere Hälfte aus den Neuerwerbungen des DHM.
Dieser beachtliche Fundus ist die Grundlage für Ottomeyers Credo vom "Sprechen" der Objekte, die den Parcours bilden. Sie sind für sich genommen sehenswerte Einzelstücke, so der Provinzialrömische Meilenstein aus der Zeit Caracallas oder das Adlerpult (Nordwesteuropa um 1200). Sie bilden Dingketten in Epochenzusammenhängen. Um sie deuten und in ihrer Aussage für den Zusammenhang dechiffrieren zu können, braucht der Betrachter allerdings ein breites Geschichtswissen. Um eine Leseausstellung zu vermeiden, wurden lediglich kurze Grundtexte zu den Epochen erarbeitet. Dreizeilige Objekttexte beziehen sich auf das jeweilige Ausstellungsstück. Zu zahlreichen Themen sind PC-Stationen eingearbeitet, die weitere Detailfakten anbieten. Viele Daten und Informationen. Kaum Reflexion. Hier stößt das gewählte Konzept an seine Grenzen.
Ohne hinreichendes Wissen über längerfristige Zusammenhänge der Geschichte gibt es keine geschichtliche Bildung. Es ließe sich zu Recht argumentieren, das aufzubereiten sei nicht die Aufgabe eines Museums, das eben durch das Sammeln dreidimensionaler Objekte definiert ist. Zahlreiche Stadtmuseen präsentieren mit Stolz ihre Dingschätze und verzichten auf weiterreichende Ansprüche. Doch gerade dies ist der Unterschied zwischen der Präsentation einer musealen Sammlung und dem systematischen Anspruch, der an eine problemöffnende Darstellung zur deutschen Geschichte im DHM zu stellen ist.
Die Ottomeyer´sche Rede vom "Sprechen" der Objekte, meint primär die ästhetische Eindruckskraft der Dinge und Bilder. Die Zusammenhänge der historischen Lebenswirklichkeit werden auf dieser Ebene jedoch nicht zugänglich. Was zeigen die Ritterrüstungen vom Krieg? Was erfährt der Betrachter durch den Anblick der "Zwirnmaschine mit 24 Flügelspindeln" (1820/40) von der Mühsal der Fabrikarbeit, von den alltäglichen Gefahren für die Arbeiterinnen und Arbeiter? Welche Geschichte wird hierdurch anschaulich? Was bleibt ausgeblendet?
Ottomeyer ist Kunsthistoriker. Er überträgt in seinen theoretischen Äußerungen den Glaubenssatz der älteren Kunstgeschichte, die Bilder sprächen für sich selbst, auf die Geschichte, auf Objekte zur Geschichte. Nein mit den Ausstellungsstücken werden nur Verweise auf historische Sachverhalte in den Parcours gestellt. Sie könnten in ihrer Zeichenhaftigkeit dann "sprechen", wenn sie zum sprechen gebracht würden. Die gezeigten Dinge haben mit der deutschen Geschichte zu tun, aber sie können nicht selbst von ihrer Bedeutung erzählen. Die Schau hat das alte Problem der begrenzten Aussagekraft nur eines Darstellungsmediums, hier der materiellen Kultur, der Dinge und Bilder, nicht gelöst. Die deutsche Geschichte wird erst in einem angemessenen Verhältnis von Wort und Objekt, der Ergänzung von verbalen und nonverbalen Zeichen sichtbar. Die Objekte bleiben in dieser ständigen Ausstellung Einzelstücke, für den streifenden Blick des Interessierten arrangiert. Genau genommen ist diese ständige Ausstellung lediglich ein dinglicher Anhang zur deutschen Geschichte. Sie ästhetisiert zudem die deutsche Geschichte, insbesondere bis 1914. Zahlreiche Uniformen, Rüstungen und Waffen ergeben eben kein Bild von der militärischen Gewalt und dem Leid der betroffenen Menschen.
Natürlich darf und kann das DHM kein geschlossenes Geschichtsbild liefern, wie dies bereits vor 20 Jahren postuliert wurde. Vielmehr müssten unterschiedliche Sichtweisen auf die Pluralität der Erfahrungen, wie sie in den Gesellschaften gemacht wurden, herausgearbeitet und zur Reflexion eingeführt werden. Doch nirgendwo geschieht dies. Die Lebens- und Arbeitswirklichkeit der Unterschichten und der Arbeiterschaft ist gänzlich weggeblendet. Hier fällt die ständige Ausstellung weit hinter den Forschungsstand und die historischen Ausstellungen der letzten Jahrzehnte zurück.
Die Ausstellungsmacher verweisen darauf, dass sie "ohne Ideologie" arbeiten würden. Das ist gut so. Doch sie arbeiten leider auch ohne Aussagen zur deutschen Geschichte, die übergreifende Zusammenhänge veranschaulichen würden. Zweifellos ist es richtig, die deutsche Geschichte im europäischen Kontext zu sehen. Allerdings darf dies gerade nicht von der Frage nach der Spezifik der nationalen Entwicklung der Deutschen wegführen.
Im Abschnitt zum Nationalsozialismus wird sehr aussagekräftiges Material präsentiert, doch es bleibt auch hier bei einem Nebeneinander von Einzelstücken: Plakate zum Rassismus, zum heroischen Menschenbild von HJ und BDM, Fotos von Pogromen, Erschießungen, Filmberichte der Propagandakompagnien. Der Besucher läuft das Material ab. Ist er mehr als beeindruckt von den Schrecknissen und Irritationen, die dieses Material heute auslöst? Die katastrophalen Fehlentwicklungen der deutschen Geschichte werden im bloßen Material nicht wirklich sichtbar gemacht. Und dann: Kann man hierzu lediglich informieren, diesen Dokumenten quasi neutral, ohne "Ideologie" und Werturteil - also mit beruhigter Indifferenz - gegenüberstehen? Ist hier nicht zwangsläufig die Frage zu stellen, weshalb diejenigen, die bereits in den 1920er und 1930er Jahren die nationalistisch-völkischen Bewegungen richtig einschätzten und vor der Gefahr warnten, nicht stärkere Unterstützung in breiteren Teilen der deutschen Bevölkerung gefunden haben?
In jedem Fall gehört die explizite Thematisierung dieses Problems in den Bildungsauftrag des DHM, der für die Begründung des Hauses und der ständigen Ausstellung herangezogen wird. Er ist jedoch mit der Fülle der Details und Fakten allein nicht eingelöst. Auch zum Verständnis des Nationalsozialismus hätte vielleicht eine Schrift von Heinrich Heine (bei Hoffmann und Campe) aus dem Jahr 1837 beitragen können, die im frühen 19. Jahrhundert ausgestellt ist. Ihr Titel: Über den Denunzianten. Sie erinnert daran, dass die Gegner der autoritären Herrschaft im Vormärz, im Kaiserreich des Sozialistengesetzes oder im Nationalsozialismus gleichermaßen von deutschen Nachbarn bespitzelt und angezeigt wurden. Die wissenschaftlichen Studien zur Gestapo zeigen leider, dass die Zahl der Denunzianten so groß war, dass der personell nicht umfangreiche Behördenapparat der Gestapo kaum ausreichte, um die eingehenden Hinweise auf "Verdächtige" zu überprüfen und abzuarbeiten. Doch dieses Problem weist in die Nähe der Nachbarschaft und ist nicht dazu angetan mit Distanz über "die Nationalsozialisten" als alleinige Akteure zu informieren, wie dies in der Ausstellung angelegt ist.
Der letzte Teil stellt die Entwicklungen in der Deutschen Demokratischen Republik und in der Bundesrepublik nebeneinander. Trabbi und VW sollen diese repräsentieren. Doch es sind ungleiche Brüder. Der VW wurde als Errungenschaft der NS-Volksgemeinschaft (als KDF-Wagen) entworfen und erst in der Nachkriegszeit in großen Stückzahlen auf den Markt gebracht. Dies ist ein schönes Symbol für die alltagskulturelle Kontinuität, auf die gleichfalls nicht eingegangen wird. Dagegen wurden zu Recht die Haftbedingungen in Bautzen nachinszeniert. Doch über die Stasi hinaus gab es die Alltagskultur der Menschen. Der Massenwohnungsbau, Konsumgüter wie beispielsweise Föhn oder elektrischer Rasierapparat werden in Objekten für beide Gesellschaften repräsentiert. Ferner das Design für die Kleidung der Betreuer der Olympiade von 1972 in München von Otl Aicher, die Fahndungsplakate der RAF und vieles mehr. Zwei Erinnerungskulturen sind nebeneinander gesetzt, wenn auch auf zu engem Raum.
Fragen bleiben. Kann diese Ausstellung mit ihrem vielem Material auch zu reflexiver Beschäftigung anregen, nach den Gründen zu fragen, warum es so gewesen ist, wie es gewesen ist? Und vor allem, wie es auch hätte anders sein können?
Die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte ist immer Teil des kulturellen Lebens einer Bevölkerung, ein aktiver Vorgang der Verständigung über die kollektiven mentalen Grundlagen, sowie über die eigenen Herkünfte, die kulturellen Leistungen und die erlittenen Traumata in der Zeitachse. Bei der deutschen Geschichte stehen bekanntlich die Verbrechen im Nationalsozialismus einer - von manchen angestrebten - "Normalisierung" im Wege. Jede Generation durchläuft diese Arbeit am kollektiven Gedächtnis und der eigenen Identität neu. Die Frage, wer bin ich und wer sind wir, "die Deutschen", muss daher in immer neuen Perspektiven gestellt und letztlich individuell beantwortet werden. Diese Ausstellung stellt ein Archiv mit Dingen und Dokumenten dafür bereit. Sie zu lesen bleibt eine kulturelle Aufgabe.
Wolfgang Ruppert ist Professor für Kulturgeschichte an der Universität der Künste Berlin.
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