Am 9. März hat der Bundestag beschlossen, das Renteneintrittalter auf 67 Jahre heraufzusetzen. Dagegen wollten die Gewerkschaften erst eine Verfassungsklage erheben. Sie haben es aus gutem Grunde letztlich nicht getan, auch wenn sie zu Recht davon überzeugt sind, dass ein Renteneintritt für alle ab dem 67. Lebensjahr nicht überzeugen kann. Zu viele Fragen sind offen, zu vieles bleibt unwägbar. Für Langzeitarbeitslose und Menschen mit einem unsteten Erwerbsleben kommt diese Entscheidung schlicht einer Kürzung ihrer Rente gleich, falls die Politik nicht weitere Optionen eröffnet.
Dennoch werden die Gegner einer solchen Politik den Betroffenen keinen Gefallen tun, wenn sie sich nunmehr in den populistischen Schmollwinkel zurückziehen. Vielmehr sollte die Entscheidung für ein höheres Renteneintrittsalter genutzt werden, um ein neues Kapitel in der Arbeits- und Rentenpolitik aufzuschlagen. Es geht um maßgeschneiderte Lösungen für die schwachen Gruppen, die Chancen dafür sind größer denn je.
Angesichts des demografischen Wandels und des Wandels auf dem Arbeitsmarkt lässt sich die Rentenpolitik der siebziger und achtziger Jahre nicht unverändert fortschreiben. Klar ist aber auch: Ein einheitliches Renteneintrittsalter, mit dem alle Beschäftigten tatsächlich in Rente gehen, kann es nicht geben. Die strukturellen Unterschiede - bedingt durch Gesundheit, Qualität des Arbeitsplatzes, Entwicklung des Arbeitsmarktes sowie die Wünsche und Interessen eines jeden Arbeitnehmers - führen notgedrungen zu verschiedenen Renteneintrittsaltern. Obwohl dies unstrittig ist, hat die Politik inzwischen nahezu alle Optionen abgebaut, die dem bisher Rechnung trugen. Elemente eines flexiblen Renteneinstiegs, der zudem sozial verträglich ist, fehlen inzwischen völlig.
Von hoher Bedeutung für eine zukunftstaugliche Rentenpolitik sind daher zunächst präventive Maßnahmen. Arbeit und Arbeitsplatz müssen so gestaltet sein, dass Menschen lange gesund und motiviert tätig sein können. Freilich steht eine Politik, die Bedingungen für eine "gute Arbeit" schaffen will, erst am Anfang. Zu schwer wiegt noch immer jene alte Politik, die im Vorruhestand für alle das Himmelreich auf Erden sah. Diese Fixierung nahm den Unternehmen fast jegliche Motivation, in Lernen, Gesundheit und Arbeitsplätze für Ältere zu investieren. Schließlich war es billiger und vor allem bequemer, die Leute aufs Altenteil zu schicken und dabei noch auf die Hilfe des Staates, der Sozialversicherungen und der Tarifpartner vertrauen zu können. Die Personalabteilungen konzentrierten sich zu lange auf das Leitbild einer olympiareifen Mannschaft von "jungen Hüpfern". Zugleich fanden die Älteren, die vorzeitig zu vergleichsweise günstigen Konditionen aussteigen konnten, diese Politik sehr gut. Jedenfalls lässt sich ohne diese außerordentlich hohe Akzeptanz der Erfolg der Vorruhestandspolitik nicht verstehen. Die geistige und politisch-materielle Kraft, die ein solches Konzept in den Köpfen und Strukturen noch immer entfaltet, muss man berücksichtigen, soll ein neues hegemoniales Projekt verwirklicht werden. Erst wenn die Politik einer passiven Stillstellung von Arbeitskraft überwunden ist, kann es eine neue aktive Politik geben, die dafür sorgt, dass es Arbeitsplätze und entsprechende Arbeitsbedingungen für ältere und alte Menschen gibt.
Vor diesem Hintergrund sind die staatlichen Programme zur Förderung der Beschäftigungsquote Älterer, wie die Initiative neue Qualität der Arbeit (INQA) und Initiative 50 plus, nicht mehr als Symbolpolitik. Sollten davon tatsächlich Anstöße ausgehen, die wirken, müssten viel mehr finanzielle und ideelle Ressourcen investiert und - abgesehen von Unternehmen - auch Betriebsräte und Gewerkschaften für diese Vorhaben gewonnen werden, denn diese Projekt sind alles andere als Selbstläufer. Eine Politik, die eine Ökonomie so umbauen will, dass ältere und alte Arbeitnehmer in ihr auch einen Platz haben, diese Politik verlangt strategische Entscheidungen von höchster Reichweite.
Zugleich muss etwas für diejenigen getan werden, die das Renteneintrittsalter nur schwer erreichen, die aber nicht unter die heutigen Regelungen zur Erwerbsminderungsrente fallen. Dazu gehören beispielsweise Arbeitnehmer, die körperlich sehr belastet werden, wie Band- und Schichtarbeiter. Derzeit kommt nur noch etwa ein Fünftel der neuen Rentner direkt aus einer normalen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung - die meisten haben Altersteilzeit, Arbeitslosigkeit und andere Formen eines vorzeitigen Ausstiegs aus dem Erwerbsleben hinter sich. Selbst wenn man diese Zahl verringern könnte - einer Politik der Differenz bedarf es immer. Sollte eine offensive Präventionspolitik dazu führen, die Beschäftigungsquote der Älteren stark zu erhöhen, blieben flexible und soziale Einstiege in die Rente notwendig - etwa in Gestalt einer modifizierten Form der Altersteilzeit, die auch nach 2009 noch einen wirksamen Beitrag zum Übergang in den Ruhestand leisten kann.
Für eine neue Politik zugunsten Älterer gilt jedoch: Regierung, Unternehmen und Tarifparteien müssen intensiver als bisher ihre Politiken koordinieren und zum Teil auch gemeinsam erneuern. Paradoxerweise bietet die derzeitige Konstellation günstige Chancen für eine neue altersdifferentielle Tarifpolitik. Es ist kein Luxus mehr, sich mit solchen Fragen zu befassen, sondern ein existenzielles Gebot für das deutsche Produktionsmodell und den deutschen Sozialstaat. Es ist absehbar, dass hiesige Unternehmen künftig mit grundsätzlich älteren Belegschaften ihre Wettbewerbsfähigkeit erhalten müssen, und der deutsche Sozialstaat nur finanzierbar bleibt, wenn viel mehr ältere Arbeitnehmer dauerhaft, motiviert und gesund in Arbeit sind.
Die große Aufgabe, Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass auch Ältere gut arbeiten können, darf nicht den Personalabteilungen allein überlassen bleiben. Es ist zu wenig, wenn etliche Vorzeigefirmen eine vorbildliche, am demografischen Wandel orientierte Personalpolitik verfolgen. Immerhin beschäftigen nach wie vor über 50 Prozent der Unternehmen keine über 50-Jährigen? Das ist ein Skandal! Deshalb sind flächendeckende Tarifverträge nötig, um positive betriebliche Einzelfälle verpflichtend zu verallgemeinern. Insofern können Betriebsräte und Gewerkschaften mit ihren Ideen und Instrumenten nicht nur zur Gestaltung des demografischen Wandels beitragen - sie können zugleich den Flächentarifvertrag stabilisieren. Der Kampf um eine soziale Gestaltung der Rente ab 67 hat erst begonnen. Er kann im Interesse der Beschäftigten gewonnen werden.
Professor Wolfgang Schroeder (46) hat derzeit den Lehrstuhl "Politisches System der Bundesrepublik Deutschland - Staatlichkeit im Wandel" an der Universität Kassel inne. Zuvor war er Leiter des Funktionsbereichs Sozialpolitik beim Vorstand der IG Metall.
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