Die Bundestagswahl 2009 war eine Zäsur. Mit ihr hat sich nicht nur das Fünf-Parteien-System in Deutschland endgültig etabliert. Die SPD, aber auch die CDU und CSU haben deutlich an Bindungskraft verloren. Die jahrzehntelange Dominanz der Volksparteien schwindet. Manche sprechen bereits von einem "Herbst der Volksparteien".
Naheliegend erscheint es, diese Entwicklung mit Makrotrends zu erklären. Denn wir leben in einer Zeit tiefgreifender Umwälzungen, die auch die Parteien nicht unberührt lassen. Die ökonomischen Grundlagen verschieben sich durch Globalisierung und technologische Innovationen. Der demographische Wandel, Migration und veränderte Erwerbsbiographien schaffen ein neues soziales Gefüge unserer Gesellschaft. Der soziale Wandel verbreitert Cleavages (neue Konfliktlinien) unserer Gesellschaft in Dimensionen wie Alter, Migrationshintergrund, Urbanität und Qualifizierungsgrad. Ist es nicht gerade zwangsläufig, dass dieser Wandel und die damit verbundene zunehmende Individualisierung auch zur Schwächung der „catch-all“-Parteien und zu einer Ausdifferenzierung der politischen Landschaft führen? Ja und Nein. Diese Umwälzungen erklären zwar die Schwierigkeiten der Volksparteien und die Stärkung der kleineren Parteien im Allgemeinen. Aber ist es nicht so, dass diese für die Volksparteien belastenden Megatrends bereits seit Jahren zu beobachten sind? Und warum wirken sich diese Entwicklungen in unterschiedlichen Phasen und zwischen den Parteien unterschiedlich aus? Auch wenn ein Auseinanderdriften zwischen Parteien und Gesellschaft unzweifelhaft zu beobachten ist, so ändert dies nichts an den unterschiedlichen Konsequenzen.
Die verschiedenen Dimensionen der Krise
Der Wandel der Parteienlandschaft und die Schwäche der SPD sind kumulative Ereignisse, die mehrere Dimensionen haben. In einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft formieren sich neue Gruppierungen und Interessen inner- und außerhalb der bestehenden Parteien (attac, Piraten). Auch wenn die Schwäche sozialdemokratischer Parteien ein gesamteuropäisches Phänomen darstellt, dem sich gegenwärtig wenige sozialdemokratische Parteien entziehen können, sind die konservativen Parteien auch von diesen Erosionsprozessen infiziert. Im Rahmen der strukturellen Schwächung der Volksparteien, die in vielen Ländern mit einer Differenzierung der jeweiligen Lager einhergeht, stellt sich vermutlich weniger die Frage, wie die einst starken Volksparteien wieder zu alter Stärke zurückkehren können, sondern vielmehr wie sie die Hegemonie in von ihnen zu konstituierenden und zu führenden Lagern herstellen können.
Im Zentrum der sozialdemokratischen Malaise stehen Abnutzung, personeller Verschleiß und Vertrauensverlust. Nach 11 Jahren waren die Wähler der Regierungs-SPD überdrüssig. Die „politische Körperhaltung“ der SPD strahlte zuletzt weder Selbstvertrauen noch Souveränität aus. Der personelle Verschleiß hat die Führungsstruktur der Partei beschädigt. Der unsolidarische, menschliche Umgang im Zusammenhang mit den häufigen Führungswechseln hat den Vertrauensverlust verstärkt. Die mittlere Führungsebene dominierte und ein handlungsfähiges, belastbares Machtzentrum, das die Kakophonie der Partei hätte eindämmen können, fehlte. Binnenfixiert wurde jahrelang über die eigene Politik räsoniert anstatt nach vorne zu denken.
Die doppelte Spaltung der Sozialdemokratie
Die SPD ist in zweierlei Hinsicht gespalten: Erstens ist sie unklar positioniert im Parteiensystem, zwischen einer gespaltenen Linken und einer sozialdemokratisierten Union. Zweitens war sie in der Regierungszeit zerrissen in eine hegelianische Staatspartei, die sich mit ihrer ultrapragmatischen Staatsräson immer weiter von der traditionsreichen, empathischen Programmpartei entfernte. Der Graben zwischen gemachter „Sachzwangs“-Politik und gefühlter Politik wurde immer tiefer. Die Dominanz der hegelianischen Staatspartei und die Dissonanzen im Zusammenspiel mit der Basis ließen Vertrauen und Glaubwürdigkeit in die SPD schwinden.
Was tun?
Zu einem Ausgleich gibt es aber keine Alternative, wenn die SPD handlungs- und mehrheitsfähig sein möchte. Sozialdemokratie muss einerseits pragmatisch sein, andererseits aber auch Leidenschaft und Empathie zulassen. Aufgabe der SPD ist es, wie 1969 und 1998 die Mitte sozialdemokratisch zu deuten und zu besetzen. Das heißt, empathiefähig und parteifähig zu sein und eine offensive Politik der Inklusion, der Verteilungspolitik und der sozialen Gerechtigkeit zu betreiben. Einen wesentlichen Mangel an Empathiefähigkeit hat die SPD in einem zentralen Feld offenbart, das eigentlich ein Heimspiel für sie ist: Sie hat das Vertrauen verloren, die Partei des sozialen Aufstiegs und der sozialen Gerechtigkeit zu sein. In der Regierungsbilanz hat die SPD noch keine Balance gefunden, einerseits Stolz auf die geleistete Modernisierung zu sein, andererseits kritisch zu analysieren, warum sie die wachsende Ungleichheit nicht in den Griff bekommen hat und selbst zur Analyse dieser Entwicklung nicht in der Lage war. Entscheidend ist: die SPD muss das Konzept der Mitte wieder sozialdemokratisch deuten und nicht als blutleere Staatsräson von echten und vermeintlichen Sachzwängen ableiten. Wenn die intellektuell ausgezehrte SPD sich wieder stärker auf das Potenzial ihrer Mitglieder besinnt, würde sie wieder unabhängig vom notorischen „externen Sachverstand“. Entscheidend wird sein, inwieweit es die Partei vermag, aus ihrer neuen Führung auch ein neues Zentrum zu machen, das die konkurrierenden Logiken von Staatspartei einerseits und Programmpartei konstruktiv auflöst.
Warum die SPD kein neues Programm braucht
Bei all diesen Herausforderungen muss betont werden: es besteht kein Bedarf an einer programmatischen Neuorientierung. Denn programmatisch ist die SPD gut aufgestellt. Ihr Hamburger Programm ist auf der Höhe des insgesamt sozialdemokratisch gestimmten Zeitgeistes und wird von einem breiten Konsens in der Partei getragen. Auch wenn es mitunter so scheint, als sei die SPD inhaltlich zerstritten: tatsächlich ist sie grosso modo mit sich programmatisch im Reinen wie lange nicht mehr. Es besteht lediglich Klärungsbedarf in einzelnen Punkten wie den umstrittenen Arbeitsmarktreformen und den Auslandseinsätzen der Bundeswehr.
FDP, Linke und Union hingegen haben ihren programmatischen Ansatz weitgehend aufgegeben. Zeugnis dafür sind bei Union und FDP der nichtssagende Koalitionsvertrag, der eine reine Absichtserklärung ist, die wirre Kommunikation der Bundesregierung („geistig-politische Wende“) und die Zerstrittenheit der Koalition insgesamt. Bei der Linken zeigt der Streit um den eigenen Grundsatzprogrammentwurf deren programmatische Lücken und Verwerfungen. Das Programm der Grünen ist weitgehend von den anderen Parteien absorbiert worden. Die SPD hat nun in der Opposition die Möglichkeit, ihre Position zwischen Gemeinwohl, Parteiwohl und dem Anliegen der schwachen Interessen neu auszutarieren.
Wolfgang Schroeder ist Staatssekretär im Brandenburger Ministerium für Arbeit, Soziales, Frauen und Familie. Studium der Politikwissenschaft an den Universitäten Marburg, Wien, Tübingen und Frankfurt. Von 1987-1991 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, von 1991-2000 Referent beim Vorstand der IG Metall in Frankfurt/Main und von 2003-2006 Leiter der Abteilung Sozialpolitik. 2000 Habilitation zur Entwicklung der industriellen Beziehungen in Ostdeutschland, seit 2006 Professur an der Universität Kassel.
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