Im Gelobten Land der Bites & Bytes

Glaubensfragen Beliebte Mythen über die "New Economy" und die schöne neue Arbeitswelt

Das Leben in der Informationsgesellschaft befördert die Old Economy auf den Müllhaufen der Wirtschaftsgeschichte, hieß noch es vor wenigen Monaten. Management-Journale, Unternehmensberater, Politiker, auch manche Gewerkschafter feierten ein neues Zeitalter. Nach den Börsencrashs sind die Hosianna-Rufe dezenter geworden. Geblieben aber sind viele Mythen. Sie kollidieren zusehends mit einer Realität, die selbstständiges Handeln stört und Visionen erschüttert.

Mythos 1 - Informationen werden wichtiger als die stoffliche Produktion

Das Besondere an der neuen, unerschöpflichen Ressource Wissen: Sie nutzt sich nicht ab mit ihrem Gebrauch, sondern vermehrt sich. (Informations-) Arbeit schafft so mehr Arbeit. Für jeden zweiten Erwerbstätigen sind Informationen Rohstoff, Werkzeug und Resultat der Arbeit. In der Informationsgesellschaft sind die Beschäftigten und deren Wissen - das Intellectual Capital - das einzig wichtige Kapital, heißt es. Microsoft wäre nichts mehr wert, würden die Mitarbeiter morgen nicht zur Arbeit erscheinen.

Grundsätzlich gilt allerdings auch im Internet-Zeitalter: Alles Leben ist Stoffwechsel. Alle Arbeit dient der stofflichen Reproduktion und gesellschaftlichen Reproduktion. Der Fluss der Bits und Bytes erleichtert nur Kommunikation und Transaktion innerhalb gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Wir können im Internet Flüge und Hotels buchen, die Flugzeuge müssen aber real fliegen, und die Hotels sollten real am Strand stehen. Insofern sind Bits und Bytes niemals wichtiger als stoffliche Produktion oder die konkrete Dienstleistung. Richtig ist: Jeder Netzausfall zeigt, wie verletzlich die stoffliche Produktion durch die IT geworden ist. Zugleich haben die Stromausfälle im Silicon Valley sehr plastisch den Mythos einer zweiten, virtuellen Informationswelt zerstört, die angeblich völlig losgelöst vom realen Leben existiert.

Dass immer mehr Erwerbstätige Informationen be- und verarbeiten - als "Symbolarbeiter" arbeiten -, ist das Resultat immer komplexerer Arbeitsteilung und weiter steigender Produktivität innerhalb der realen Produktion. Dieses Produktivitätsplus in den Fabriken erfordert auf der anderen Seite immer mehr Ingenieure, Entwickler und Techniker, die komplexe Prozesse planen und in Software gießen.

Unbestreitbar hat in Zeiten knapper Fachkräfte in manchen Führungsetagen ein Umdenken begonnen, wurden plötzlich in Sonntagsreden die Mitarbeiter als "das einzig wichtige Kapital der Firma" gefeiert. Welches Kapital wirklich regiert, zeigt sich aber derzeit bei Pixelpark und anderswo, wenn die Zahlen nicht mehr stimmen und Anleger unruhig werden. Dann darf das Intellectual Capital noch in Begleitung des Werkschutzes den Schreibtisch aufräumen und anschließend sofort die Firma verlassen. Damit in solchen Zeiten das Wissen trotzdem im Unternehmen bleibt, basteln alle Konzerne an IT-Systemen für das Wissensmanagement, um gute Ideen in der Firma zu halten, wenn die Mitarbeiter gehen.

Mythos 2 - kleine schnelle Firmen fressen große, träge Konzerne

Dieses geflügelte Wort aus dem Management-Hausbuch ist durch die Realität längst erledigt. Die meisten kleinen Firmen, sofern sie wichtige Patente und Know How haben, werden derzeit billig von den Großen geschluckt. Ganz wenige einstmals kleine, schnelle Firmen wie Microsoft, Compaq, Dell, Cisco oder AOL sind ganz groß geworden, da sie eine komplett neue Technologie auf den Markt brachten, einen Technologievorsprung hatten und damit eine Monopolposition aufbauen konnten. Ökonomisch galt schon vor 100 Jahren, dass etablierte Konzerne immer vor dem Dilemma stehen, einerseits ihre eigene Technologie und damit ihre Gewinne zu schützen, andererseits künftige Entwicklungen, die ihre Position bedrohen, nicht zu verpassen.

Mythos 3 - das Internet befreit die Beschäftigten von Hierarchien

Die These vom Gewinn an Kreativität und Innovationsvermögen vertreten die Verfasser des Cluetrain Manifest (1999), indem sie eine neue Unternehmenskultur für das Internet-Zeitalter propagieren - selbstbestimmt, ohne Hierarchien und Strukturen. Tatsache ist, dass die Internet-Ökonomie für einen weiteren Schub der faktischen Deregulierung von Arbeitsverhältnissen gesorgt hat: befristete Beschäftigung, Leiharbeit, Schein-Selbstständigkeit, höchste Flexibilität bei der Arbeitszeit. Kollektivverträge und Betriebsräte stören da nur die "selbstbestimmte" Selbstausbeutung. Gehaltsstudien zeigen, dass sich der IT- und Internet-Arbeitsmarkt immer mehr segmentiert - von schlecht bezahlten, ziemlich stressigen Jobs als Kundenbetreuer in Call-Centern (mit hoher Fluktuation) bis zu hochbezahlten Beratern und Spezialisten, deren Fähigkeiten gerade "in" sind. Da es noch wenig Tarifbindung gibt, differiert das Jahresgehalt für dieselbe Tätigkeit um den Faktor zwei. Vielleicht fünf bis acht Prozent aller Beschäftigten in den Technologiefirmen bekamen in den vergangenen Jahren die sagenhaften Spitzengehälter mit entsprechend hohen Zuwächsen. Teilweise sind - gerade in Start-Ups - junge Bewerber mit hohen Aktienoptionen gelockt worden, bei niedrigem Monatsgehalt. Die Optionen sind heute wertlos, außerdem verlängern sich die Arbeitszeiten, bei gleichem Gehalt, also sinkendem Stundenlohn. Es ist in der New Economy durchaus üblich, 60 Stunden und mehr zu arbeiten. Ist die 35- oder 40-Stunden-Woche künftig nur noch ein Maß für Teilzeitarbeit?

Solche Arbeitsbedingungen verschärfen den Fachkräftemangel. Wie Analysen aus den USA beweisen, schrecken solche Bedingungen potenzielle Bewerber ab, wobei ältere Bewerber nach wie vor diskriminiert werden. Große Firmen haben gezielte Abbauprogramme für ältere Beschäftigte. Stellenanzeigen signalisieren: Wir wollen keinen über 35. Es ist also wenig dran am Mythos der selbstbestimmten Jobs in der New Economy. Die New York Times schrieb Ende 2000: "Internet-Spezialisten und Programmierer sind die Facharbeiter von morgen. Sie wissen es bloß selbst noch nicht."

Mythos 4 - Einkommen steht nicht mehr in Beziehung zur investierten Arbeitszeit

In der Informationsökonomie hänge das Gehalt vom Geschick, der Originalität, Einzigartigkeit und Schnelligkeit ab, neue Probleme zu identifizieren, sie auf kreative Weise zu lösen, schrieb Dagmar Deckstein Ende 1999 in der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte.

Dem sollte entgegengehalten werden, auch in der Informationsökonomie gibt es kein anderes, allgemein akzeptiertes Maß für die Bezahlung der Arbeitskraft und für die Abrechnung von Projektleistungen als die geleistete Arbeitszeit. Jeder Konzern, der ein IT-Projekt für andere abwickelt, erfasst sehr genau die dafür verausgabte Arbeitszeit seiner Mitarbeiter. Dass es gerade im Technologiesektor als "moderne" Personalpolitik gilt, innerhalb einer Firma die Beziehung von Arbeitszeit und Einkommen mit Modellen wie variabler Entlohnung völlig zu verwirren, ist andererseits sehr verständlich: Dadurch kann die Arbeitszeit beliebig verlängert werden.

Im Übrigen zeigen Gehaltsstudien im IT-Sektor (zum Beispiel die von der IG Metall) auch einen engen Zusammenhang zwischen Entlohnung und den jeweiligen Investitionen für die Hard- und Software, mit der die Entwickler arbeiten. Platt gesagt: Weil Windows so verbreitet und so billig ist, verdient ein Entwickler auf Windows-Basis weit weniger als jemand, der SAP-Module konfigurieren und an die konkrete Unternehmensumgebung anpassen kann. Ein PC-Techniker verdient kaum mehr als ein TV-Techniker. Viel mehr dagegen verdient ein Hardware-Spezialist, der die ausfallsicheren Rechner im Amadeus-Rechenzentrum von Lufthansa Co betreut. Auch hier zeigt sich, dass Regeln der Old Economy weiter gelten.

Mythos 5 - Entfernungen spielen im IT-Zeitalter keine Rolle mehr

Virtuelle Unternehmen mit "e-Lancern" können sich, sagt die Legende, überall niederlassen. Das reduziere den Siedlungsdruck in den Ballungsräumen, mindere den Gegensatz Stadt-Land und biete Chancen für unterentwickelte Regionen. - Das Gegenteil ist wahr. Seit Mitte der neunziger Jahre zeigt sich in den USA, dass der von HighTech und Risikokapital getriebene Turbo-Kapitalismus zu einer weiteren Konzentration der neuen Industrien in wenigen Ballungsräumen führt: im Silicon Valley mit extrem hohen Bodenpreisen; im HighTech-Gürtel um Boston; um Austin in Texas (Dell, Compaq) und rund um Washington (AOL). Eine Studie aus Berlin/Brandenburg belegt denselben Effekt für die Ballungsräume in Deutschland. Die Hoffnung, durch Tele-Arbeitsplätze die rurale Entwicklung zu fördern, zerschellt an den Marktrealitäten, die zur - ökonomisch sinnvollen - Zusammenballung (neudeutsch: Cluster) von Firmen aus dem gleichen Zweig oder verwandten Branchen in wenigen Zentren führen. Dort gibt es schon die nötige Infrastruktur, dort funktioniert der Technologie-Austausch, dort finden sich die gesuchten Fachkräfte, denn wo die Firmen sind, wandern auch die Arbeitskräfte hin.

Die Boomjahre des IT-Sektors haben den Frachtverkehr nicht vermindert, weil im realen Leben nicht Bits und Bytes, sondern Platinen, Monitore oder Router gebraucht werden, deren Produktion auf dem Globus verteilt ist und die per Schiff oder Flugzeug zu den Absatzmärkten in den USA und Europa disloziert werden. Das gilt auch für den Personenverkehr: Die Zerlegung hierarchischer Strukturen in Konzernen und die Bildung regional verteilter virtueller Teams erhöhen den Kommunikationsaufwand - effektive Kommunikation und Projektarbeit funktionieren nur sehr beschränkt per Mail oder Video-Konferenz.

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