Die Aschermittwochsreden sind vorbei, die Rauch- und Alkoholschwaden weggelüftet, der Blick auf die Republik ist wieder frei. Markanter als zuvor lässt sich erkennen: Regierung und Gesellschaft stehen quer zueinander. Jede Zeit habe ihre Themen, so lautet eine Politiker-Weisheit. Und diese Themen suchten sich jeweils ihre Mehrheiten und Koalitionen. Trifft das zu, dann ist bei uns diese Suche noch in vollem Gange. Noch passt da nichts zusammen. Vielmehr sind Themen, die der Gesellschaft wichtig sind, für die Regierenden randständige; und umgekehrt. Nun ist dieser Befund nicht brandneu. Aber gerade das macht seine Brisanz aus: Es hat sich viel aufgestaut an Verdruss, an tiefsitzendem Ärger, was sich entlädt in einem schlechten Ansehen der großen Koalition, aber auch der Politik. Welches sind die Themen, die aus Sicht einer breiten gesellschaftlichen Mehrheit diese Zeit prägen und bisher vergeblich nach einer wirkmächtigen Koalitions-Mehrheit fahnden?
Thema eins: die Natur und damit sich selbst schützen; den Klimawandel abwenden und sich verlässlich mit gesunden Lebensmitteln wie umweltschonender Energie versorgen können. Das will diese Gesellschaft und nicht mehr allein - wie einst - der wohlhabende Öko-Mittelschichtler, der sonst keine Sorgen hat. Es ist so, spätestens seit die große Mehrheit ahnt, dass dieses Umsteuern auch eine Frage der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit und von Erfolgen am Arbeitsmarkt ist.
Thema zwei: den Kindern, der Jugend die Zukunft nicht verbauen, sondern eröffnen. Das heißt vor allem: Bildung für alle, um Klassen-Grenzen einzureißen, die heute offenkundig wieder so dicht wie früher sind. Das heißt auch, eine Infrastruktur an Kinderkrippen und Kindergärten zur Verfügung stellen, die wenigstens mit der gleichzieht, die in anderen Industrie-Staaten längst Alltag ist.
Thema drei: zu einem Wirtschaften und Arbeiten zurückfinden, das ein Fundament an sozialer Sicherheit garantiert - die möglichen Instrumente: Mindestlohn, Grundeinkommen, Grundsicherungen - und für das bürgerliche Umgangsformen wie Fairness und Respekt selbstverständlich sind; letztere brauchen eben auch eine materielle Basis.
Keine Frage: Die Regierung Merkel kümmert sich um diese drei Politik-Felder. Der Kurzdurchlauf: Mindestlohn oder Kombilohn, ja, nein; mehr erneuerbare Energien, doch lieber mehr Atomkraft; weniger Kohlendioxid, mehr Hilfe für die Auto-Bosse; mehr Kinderkrippen, eher nicht; die vierte, fünfte Bafög-Nullrunde in Folge, Eliten fördern; Studiengebühren einführen, Chancengleichheit beschwören; die Bio-Bauern fördern, höhere Schadstoff-Werte bei Lebensmitteln zulassen. Keine Frage: Die große Koalition widmet sich diesen Themen. Mal aufgeregt, mal gelassen, meist unter ferner liefen, nie als Hauptprogramm, mal geht es einen Schritt voran, dann zwei zurück, heute wird das Richtige getan, morgen wird es konterkariert. Der großen Koalition sind diese Themen ziemlich egal, sonst würde sie mit ihnen nicht so umgehen. Und das ist kein Zufall.
Im Zentrum steht für die Regierenden vielmehr eine andere Politik, auch ein anderes Verständnis von Politik: Die Koalition hat sich auf eine dienende Rolle zugunsten der Wirtschaft zurückgezogen. Das ist keine Polemik, sondern ist in der Regierungserklärung so niedergeschrieben: "Arbeit braucht Wachstum und Wachstum braucht Freiheit". Gemeint ist die halbierte Freiheit der Angela Merkel, die des Unternehmers. Wohin führt diese Freiheit? Merkel: In zehn Jahren soll Deutschland in Europa unter den drei wirtschaftsstärksten Nationen sein; die Politik als Coach der Wirtschaft. Das heißt auch, was Rot-Grün noch wollte - der Politik eine Richtung und ein Gesicht geben -, aber wegen eigenem Unvermögen und Widerständen aus Lobby und Wirtschaft nicht vermochte, das wird heute nicht einmal mehr versucht. So liegen diese Themen letztlich brach, drei Themen, die für die Gesellschaft einerseits von grundlegender Bedeutung sind und andererseits schon lange nicht mehr als Kür, sondern als politische Selbstverständlichkeiten angesehen werden. Drei Themen, die kein linkes, sondern im besten Sinne ein christlich-konservatives Programm ausmachen. Themen, die nicht mehr polarisieren, sondern ihrer Umsetzung harren.
Warum kann da die Opposition nicht einspringen, die Linkspartei, die Grünen, zusammen mit weiteren in anderen Parteien beheimateten Gleichgesinnten? Die Linken und konservative Themen - das ist tatsächlich auf den zweiten Blick schlüssiger als auf den ersten. Die Linken, egal in welcher Partei, sind nicht der Politik der Kommerzialisierung verfallen. Deshalb sind sie geeignet, diese Themen in die Hand zu nehmen, ohne dass diese in Gefahr geraten, zu weiteren Elementen einer platten Ökonomisierung zu verkommen. Es sind Themen, bei denen sich linke kapitalismuskritische Perspektiven und Wertvorstellungen mit konservativen, mit christlich-konservativen treffen: beispielsweise Bildung als Bürgerrecht und nicht als Ware begreifen. Letztlich können diese genannten Themen und Projekte auch als konservative betrachtet werden, weil sie in Teilen wenigstens als Aufräumarbeit dessen verstanden werden müssen, was privatkapitalistisches Wirtschaften zerstört hat.
Gesellschaftliche Mehrheits-Themen bewusst aufzugreifen und ihnen die eigene Politik zu widmen, das ist eine Chance für die Linke, sie hat - im Gegensatz zu anderen politischen Kräften - auch Erfahrungen und ein Verständnis davon, wie im Parlament und zugleich außerhalb des traditionellen politischen Systems Themen-Koalitionen gebildet werden können, um diese große Koalition wenigstens programmatisch-publizistisch so zu treiben, dass sie ins Schwitzen kommt. Es wäre zugleich für die oppositionelle Linke der Versuch, sich auf einem Mittelweg zu profilieren - zwischen dem bloßen Mitmachen und dem bloßen Dagegensein.
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