Mitten ins Mark

Mindestlohn und Arbeitslosengeld I Das Prinzip Leistung gilt nicht mehr

Zwischen den Großkoalitionären und innerhalb der beiden Großparteien wird über zwei Themen mit so harten Bandagen gekämpft, da scheint es um mehr als nur um Mindestlohn und die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I zu gehen. Allein wegen Letzterem geriet jüngst ein ganzer CDU-Parteitag aus dem Takt. Und das Thema Mindestlohn - von den Gewerkschaften auf die Tagesordnung gesetzt - wird bestenfalls mit sehr spitzen Fingern angefasst. Beides überrascht, geht es doch lediglich um wenige Milliarden Euro - im einen Fall an Mehrbelastung für den Staatshaushalt, im anderen für die Wirtschaft -, so dass man eigentlich gelassen darüber verhandeln könnte.

Diese Gelassenheit fehlt, weil es um mehr als Milliarden geht. Es geht um ein Prinzip, das sich aus der Addition zweier Leitsätze ergibt, die erst die west-, dann die gesamtdeutsche Arbeitsgesellschaft zusammen schweißten. Der erste lautet: Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen. Der zweite: Leistung lohnt sich. Beide zusammen bildeten für die Mittelschichten, für diejenigen, die aufsteigen und jene, die nicht absteigen wollten, Fundament und Motiv all ihrer Anstrengungen. Damit hat sich die Republik bisher angetrieben, ist oft Export- und ab und an Fußball-Weltmeister geworden. Die Hoffnung der so genannten kleinen Leute auf den Aufstieg, wenigstens den ihrer Kinder, drückt sich in diesen Sätzen aus. Zwei Sätze, die Loyalitäten erzeugten und Identitäten begründeten, die zum geistigen Rüstzeug und Alltagsbewusstsein des Landes gehörten; die geeignet waren, auch den Abstand nach "unten" zu wahren. Denn: Wer sich nicht anstrengt, dem geht es schlechter als den anderen. Nur die, die sich anstrengen, werden belohnt. Diese Leitsätze teilten Katholiken wie Protestanten, Unternehmer wie Gewerkschafter, Sozialdemokraten wie Konservative.

Und nun das: Die Themen Mindestlohn und Arbeitslosengeld I bringen mehr als andere Konflikte an den Tag: Dieses Leistungsprinzip gilt nicht mehr. Es gibt diesen Zusammenhang nicht mehr, dass persönliche Leistungsbereitschaft verlässlich eine gute Lebensperspektive bietet. So belegt eine Analyse der Hans-Böckler-Stiftung, dass jeweils deutlich mehr als die Hälfte aller Niedriglöhner gut ausgebildet ist und zudem keine einfache, sondern eine qualifizierte Arbeit leistet. Es stimmt also nicht, dass nur unqualifizierte Arbeitnehmer für anspruchslose Arbeiten mit Hungerlöhnen zwischen drei und sieben Euro pro Stunde abgespeist werden. Qualifizierte, leistungsbereite und gut verdienende Arbeitnehmer, die sich vielleicht 20 oder 25 Jahre lang angestrengt hatten, pünktlich ihre Steuern bezahlten, dann ohne eigenes Verschulden arbeitslos wurden - sie erhielten dank Gerhard Schröders Agenda 2010 über Nacht nur noch ein und nicht wie früher zwei Jahre Arbeitslosengeld. Und sie erlebten, nach diesem einen Jahr mit allen anderen, auch denen, die sich in ihren Augen nie besonders angestrengt hatten, auf Arbeitslosengeld II angewiesen zu sein. Damit traf die Regierung Schröder diese Schichten ins Mark. Mitten im Arbeiten - basta, haute einem der Schröder ein komplettes Jahr an sozialer Sicherung weg. Andere erfahren, dass es ihnen schlechter geht - unbezahlte Mehrarbeit und Lohnkürzungen hingenommen werden müssen -, obwohl ihre Firmen florieren. Wenn es "meinem" Unternehmen gut geht, dann geht es auch mir gut, auch diese Gewissheit gilt nicht mehr. Die Erkenntnis, dass Leistung sich weniger oder nicht mehr lohnt, wird zudem von einer Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) gestützt: Die Chancen aufzusteigen, die sind für Geringverdiener in Deutschland schlechter als in den meisten europäischen Staaten.

Das alles hat die Mittel- und qualifizierten Arbeitnehmerschichten deshalb viel tiefer getroffen, als die Erfinder der Agenda-Politik je dachten, weil in diesen Schichten der Wille zur Leistung und Eigenverantwortung viel ausgeprägter ist als die Eliten täglich behaupten. Als Gegenleistung wurde und wird jedoch eine gewisse soziale Balance erwartet. Die Agenda-Politik holzte sie ab. Und den auseinander klaffenden Einkommen wird ein Übriges getan: Dass Josef Ackermann für den Abbau von Arbeitsplätzen ein Jahressalär erhält, für das ein Durchschnittsverdiener 400 Jahre lang arbeiten muss, kann niemand erklären. Der Frankfurter Soziologe Kai Dröge, ebenso wie sein Kollege Sighard Neckel und andere, zeichnen in ihren Analysen nach, wie Leistung oft nur noch an ihrem Erfolg am Markt bemessen wird: Umsatz, Rendite, Marktanteil. Die Anstrengung selbst, die jahrelange Ausbildung, die soziale Nützlichkeit der Arbeit, das alles wird entwertet und eingeebnet. Bisher erhielt der Arbeitnehmer für eine bestimmte Arbeitsleistung und Qualifikation ein bestimmtes Einkommen. Heute wird im Prinzip nicht mehr die Arbeitsleistung bezahlt, sondern allein die Leistung, die sich verkaufen lässt.

Weil das wichtige Wählerschichten tief berührt, materiell und psychisch, wohl deshalb reden Kurt Beck und seine SPD jüngst so viel über "eine sozial gerechte Leistungsgesellschaft" und darüber, dass die Devise "Leistung muss sich wieder lohnen" zu einem wichtigen Element "einer neuen Gerechtigkeitspolitik" werden könne. Der erwähnte Sighard Neckel liefert ihnen dazu die geistige Handreichung: Man möge Leistung doch wieder mit dem Kriterium "der Güte nützlicher Arbeit" koppeln. Dieser Hinweis zeigt, was Beck vor sich hätte, würde er es ernst meinen: Er müsste sich grundsätzlich kritisch mit der heutigen Form des Wirtschaftens auseinandersetzen, mit dem Kapitalismus, der nach und nach jedes Maß verliert. Der SPD-Vorsitzende würde dafür vom Publikum gewiss auch belohnt, erfüllte doch eine solche Leistung alle Kriterien nützlicher Arbeit.


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