Auf den Kopf stellen

Kritische Theorie heute Wolfgang und Frigga Haug haben sich mit Intellektuellen über den Sozialismus nach seinem Verschwinden unterhalten

Niemand kann es übersehen haben: Schon wieder gibt es einen einzigen "Sieger der Geschichte", jemanden, der sich berechtigt wähnt, ein Weltgerichtsurteil an allen zu vollstrecken, die böswillig oder dumm genug sind, seine Sieghaftigkeit in Frage zu stellen oder gar zu leugnen.

Welch ungeahnte Chance für uns Ehemalige aus dem ehemaligen Ostblock! Hatten wir doch mehr als 40 Jahre Zeit zu lernen, wie man sich Siegern der Geschichte gegenüber angemessen verhält. Was damals gelernt wurde, ist mit dem damaligen Sieger der Geschichte freilich heute allgemeiner Nichtachtung verfallen. Gerade dieser Nichtachtung geschuldet aber scheint die Fortsetzung jener Devotheit gegenüber dem selbsternannten neuen "Sieger der Geschichte", die die Gesellschaft abermals in eine von Mitläufern und Mitläuferinnen verwandelt und den öffentlichen Diskurs zum Sprachspiel unentwegter Affirmationen des Angekommenseins an einem insgeheim schon immer angestrebten Endziel hat werden lassen.

Was aber eigentlich ist der Unterschied zwischen dem, was vor 1989 "Klassenbewusstsein" hieß und auch für die verbindlich sein sollte, die der Klasse der ehemaligen Sieger der Geschichte nicht angehörten, und dem, was heute als "politische Korrektheit" jeder öffentlichen Kritik ein "Bis hierher und nicht weiter" entgegenhält und mit der Drohung der Verurteilung als Antiamerikanismus oder Sympathisieren mit Terroristen belegt?

Unter dem Vorwand der politischen Korrektheit können Meinungsdiktaturen auch dort entstehen, wo sie durch Grundrechtsgarantien ausgeschlossen sein sollten wie im Geltungsbereich des deutschen Grundgesetzes. Dass diesem Entstehen freilich in der Regel nur von Minderheiten widersprochen wird und somit ein demokratischer Deckmantel für sich erhalten bleibt, das beruht auf der Mobilisierung von Angstgefühlen, denen alles Recht sein kann, was dem durch öffentliche Drohszenarien geschürten Sicherheitsbedürfnis entspricht.

Es sind diese mit demokratisch hoch fragwürdigen Instrumenten erzeugten Mehrheiten mit immer neu induzierten Selbstverstärkungen, die die Forderung nach Aufklärung durch kritische Theorie zu einer demokratischen Unerlässlichkeit werden lassen. Das gilt in ganz besonderem Maße für den politischen Diskurs nach der Friedlichen Revolution von 1989, seit sie nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 uminterpretiert wird in einen Sieg einer der beiden Konfliktparteien des Kalten Krieges, analog der durch den Partnerwechsel der FDP im Jahre 1982 bewirkten Regierungswechsel, der von dem Nachfolger des Bundeskanzlers Schmidt zu einer "geistig-moralischen Wende" stilisiert wurde.

1989 wurde der Anspruch der SED, die Probleme des Kapitalismus gelöst zu haben, als eine Illusion von historischer Dimension überführt. Aber sind denn mit dem Ende dieser Illusion die Probleme des Kapitalismus verschwunden, die der Sozialismus gelöst zu haben beanspruchte? Ist ihre Ungelöstheit nicht gerade erst nach 1989 in ihrer ganzen Krassheit offenbar geworden? Es ist diese Frage, die die hier anzuzeigenden "Unterhaltungen" bewegt. Sie bewegt sie auf eine Weise, die gleich weit entfernt ist von jener servilen Korrektheit dem angeblichen "Sieger der Geschichte" gegenüber wie jener seltsamen Art von Bekehrungsgeschichten, in denen Ex-Linke heute reumütig berichten, wie sie als sozialistische Unschuld vom Lande der Planwirtschaft staunend und entzückt im Disney-Land des freien Marktes angekommen sind.

Der so entstandene Text stellt freilich hohe Anforderungen an guten Willen und das Konzentrationsvermögen seiner Leser, wie der eine Anreger der Unterhaltungen mit Recht im Vorwort vermerkt. Aber kritische Theorie ist heute so wenig wie bei Horkheimer/Adorno oder Habermas etwas für die Konsumenten feuilletonistischer Appetithäppchen. Sie müssen hören beziehungsweise lesen und mitdenken wie die dreizehn von Wolfgang Fritz Haug und Frigga Haug eingeladenen Mitunterredner Erhard Crome, Frank Deppe, Jutta Held, Wolfgang Küttler, Susanne Lettow, Peter von Oertzen, Lothar Peter, Jan Rehmann, Thomas Sablowski, Christoph Spehr, Jochen Steinhilber, Christoph Türcke und Frieder Otto Wolf, allesamt durch einschlägige politisch-soziologische Veröffentlichungen und entsprechende Aktivitäten ausgewiesen wie Haug durch seine Arbeit am Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus.

Als historisch-kritisch kann man auch das Vorgehen der drei Gesprächsrunden (im Buch "Unterhaltungen") nennen, die jeweils durch eine Pause in zwei Teile gegliedert werden.

Die erste Unterhaltung, Fragen der Methodik und Moderne-Komplex überschrieben, führt unter der großzügigen, umsichtigen aber auch zielstrebigen Moderation von Haug zu einer Verständigung der Teilnehmer darüber, dass der nicht zu bestreitenden und unter dem Titel des "Neoliberalismus" Modernität beanspruchenden globalen Herrschaft des Kapitalismus das Projekt einer linkssozialistischen Partei durchaus realistisch und sinnvoll sei. Mit Recht freilich wird von einem der Teilnehmer (Frieder Otto Wolf) gleich darauf hingewiesen, dass die Fixierung auf Parteiform und Parteiprogrammatik schnell zu einer Verengung der weiträumig angelegten Gesprächsstrategie führen könne.

Im zweiten Teil der ersten Unterhaltung stehen Sätze, denen ich die weiteste Verbreitung wünschte. Dem Modernitätskonzept des Neoliberalismus wird von Deppe entgegengehalten, dass der historische Ursprung der Moderne im Konzept der Gleichheit liege, das der Idee der Freiheit nicht untergeordnet werden kann, ohne diese Freiheit sofort in die Wahlfreiheit des seine Zwecke und Interessen absolut setzenden Individuums zu verfälschen. Das Ergebnis dieser Verfälschung wird immer nur die berühmte Lösung vom "möglichst" großen Glück der "möglichst" großen Zahl sein, die nicht mehr danach fragt, was aus der Zahl derer wird, die aus diesem "möglichst" herausfallen und damit dem Unglück preisgegeben werden, mit dem das Glück jener angeblich "großen" Zahl bezahlt werden muss. Eine Konsequenz dieses neu geschärften Blickes auf die normative Bedeutung der Gleichheit nicht nur "möglichst vieler", sondern aller ist die Feststellung, dass man dieser Normativität durch den bloßen synchronen wie diachronen Gegensatz Kapitalismus versus Sozialismus nicht gerecht werden kann (W. Küttler).

Die zweite Unterhaltung ist Konfliktlinien und Subjekte überschrieben. Sie stellt besonders in dem zweiten Abschnitt den Kern des ganzen Diskurses dar, weil hier nicht nur diskutiert wird, sondern auch Ergebnisse zustande kommen, wenn die Teilnehmer ihre Position gegenüber neuen sozialen Bewegungen, vor allem den Kritikern der Politik des globalen Kapitalismus in Seattle und anderswo sowie der Jugendkultur im Informationszeitalter entwickeln. Gerade weil diese Ausführungen so gehaltvoll sind, will ich sie hier nicht referieren, sondern nur am Schluss vier Fragen stellen, zu denen sie mich angeregt haben.

Der dritte, nach dem 11. 9. 2001 entstandene Teil, diskutiert in der gleichen Offenheit wie die vorangegangenen Unterhaltungen die westpolitischen Konsequenzen der Anschläge in New York und Washington. Auch hier wird ohne starre Fronten die von den USA beanspruchte weltpolitische Führungsrolle, der Nahostkonflikt und die Bedeutung der UNO diesem Konfliktpotential gegenüber erörtert.

Ich sagte eingangs, dass einer der Vorzüge dieser Unterhaltungen ihr historisch-kritisches Vorgehen ist. Aber gerade deswegen stellt sich mir die Frage, warum sie auf eine Analyse der postkommunistischen Entwicklungen in Osteuropa verzichten. Trotz aller Divergenzen zwischen den einzelnen ehemaligen Ostblockstaaten haben sie eines gemeinsam: die Virulenz eines aggressiven und immer vom Abgleiten in puren Rassismus mit seinen Säuberungsstrategien bedrohten Nationalismus. Meinte der Marxismus nicht gerade dies durch seinen proletarischen Internationalismus für immer hinter sich gelassen zu haben? Wie also konnte es zum Rückfall in dieses Fieber kommen? Oder war der späte Stalin mit seinen Sprachbriefen gar ein Vorläufer dieser Infektion, die demnach ihren Ursprung gerade im Machtzentrum des Marxismus-Leninismus gehabt hätte?

Zweitens fragte ich mich, ob nicht die philosophischen Grundlagen des Marxismus-Leninismus einer viel detaillierteren Überprüfung bedürfen als sie bisher von der vornehmlich durch die westliche Politologie vorgetragene Ideologiekritik geschehen ist. Um es nur an einem freilich fundamentalen Punkt zu kennzeichnen: wenn Marx meinte, Hegels Dialektik festhalten zu können trotz allen materialistischen "Vom-Kopf-auf-die-Füße-Stellens", hatte er da nicht gerade am Kern des Idealismus festgehalten? Ich frage das auch deswegen, weil einer der Teilnehmer, Frieder Otto Wolf, mit seinem jüngsten Buch Radikale Philosophie die philosophische Frage auf höchst originelle Weise aufgegriffen hat.

Dann möchte ich etwas unterstreichen, was Frigga Haug immer wieder in die Debatte geworfen hat, leider ohne allzu großen Erfolg, wie sie selbst bedauernd sagt. Ist das Geschlechterverhältnis nicht eine Dringlichkeit aller erster Ordnung in einer Gesellschaft, die sich auf weite Strecken anschickt den Klassenkampf des 19. und 20. Jahrhunderts durch den Geschlechterkampf des 21. mit allen implizierten Barbareien zu ersetzen? Diese Frage ist mir um so wichtiger, als Frau Haug schon durch ihre Terminologie, die vom "Geschlechterverhältnis" statt wie üblich von der "Frauenfrage" spricht, eine weithin unbetretene Dimension des Diskurses eröffnet.

Und schließlich und endlich: Die gerade im deutschen Vereinigungsprozess so verhängnisvoll fehlentschiedene Eigentumsfrage spielt leider nur eine marginale Rolle in den Unterhaltungen. Sie wird einmal in Zusammenhang mit den Urheberrechtsproblemen der Digitalisierung, das andere Mal bei der Diskussion der Problemkreise von Individuum und Privatheit aufgegriffen. Aber ist das, was Marx in Band I des Kapital dazu gesagt hat, wirklich das letzte Wort in dieser Sache oder steht nicht auch Marx noch in letzter Instanz in der auf das Römische Recht zurückgehenden Tradition einer Gleichsetzung von Eigentum und Verfügungsgewalt, die die Eigentumsfrage von einer Rechtsfrage auf eine bloße Machtfrage reduziert?

Im Nachwort Peter von Oertzens werden Erwägungen ausgesprochen, wie derartige "Unterhaltungen" fortgeführt oder erweitert werden könnten. Die oben aufgeworfenen Fragen zielen in dieselbe Richtung. Jedenfalls werden sie gestellt, weil sie den Unterrednern darin zustimmen wollen, dass der ans Ende der zweiten Unterredung gestellte berühmte Satz des Kommunistischen Manifestes, dass Klassen und Klassengegensätze überwunden werden müssten durch eine "freie Assoziation", in der "die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die Entwicklung aller" ist, auch vom Rezensenten für einen kategorischen Imperativ gehalten wird, der ausdrücklich und in besonderer Weise der unter den Bedingungen ständig neuer Fragmentierungen lebenden Gesellschaft der Moderne gilt.

Berliner Institut für kritische Theorie: Unterhaltungen über den Sozialismus nach seinem Verschwinden. Hrsg. Von Wolfgang Fritz Haug und Frigga Haug, Papyrossa-Verlag, Köln 2002, 256. S., 8 EUR

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