Zwischen Aufklärung und Aufrechnung bewegt sich, wer in der Debatte über die Umsiedlung ganzer Bevölkerungen in Osteuropa nach dem Kriegsende von 1945 das Wort ergreift. Das Buch von Peter Glotz, dem ehemaligen SPD-Politiker und Hochschulprofessor im schweizer St. Gallen, Sohn einer Tschechin und eines Deutschen, der 1945 selbst aus dem Sudetenland vertrieben wurde, lässt keinen Zweifel aufkommen, dass Aufklärung und nicht Aufrechnung sein Ziel ist.
Glotz geht so vor, dass er die Vorgeschichte des tschechischen Nationalismus bis ins späte Mittelalter verfolgt, wobei die Hussitenkriege und die in ihnen vorgefallenen Grausamkeiten für ihn ein erstes Signal für die Gewaltpotenziale des Nationalismus liefern. Glotz wendet sich dann der Frage zu, wie es zu dem modernen Nationalismus seit dem 19. Jahrhundert kommen konnte. Denn im Unterschied zu dem von Anfang an kriegerischen Hussitismus ist der moderne Nationalismus nichts weniger als spontan. Glotz spricht darum von der "Herstellung des Nationalismus", um die intellektuellen Wurzeln der nationalistischen Konfrontationen des 19. Jahrhunderts zu kennzeichnen. Er sucht die These zu begründen, das Slawenkapitel im zweiten Band von Herders Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit sei eine Art Gründungsurkunde des tschechischen, in besonderer Weise antideutschen Nationalismus.
Gedankliches Zentrum des Buches ist mehr noch als die zwölf, das Ganze zusammenfassenden Thesen, das vierte Kapitel. Unter der Überschrift: "Der Nationalstaat, der keiner war", setzt sich Glotz mit den politischen Konzepten von Tomás Masaryk und Woodrow Wilson auseinander und entwickelt dabei seine eigenen Vorstellungen, die auf die Feststellung hinauslaufen, dass das zwei- beziehungsweise dreimalige Scheitern eines Nationalstaates Tschechoslowakei darauf zurückzuführen sei, dass der verhältnismäßig kleine Staat sich an seinen zu großen Minderheiten "verschluckt" habe. Die letzten beiden Kapitel - "Protektorat" und "Vertreibung" - sind dann vollends Erzählung, bis hin zum Abdruck von Originaldokumenten. Weithin unkommentiert wie die letzteren vorliegen, bereiten sie dem Leser streckenweise nicht geringe Verständigungs- und Einordnungsschwierigkeiten. Unverkennbar ist Eduard Benes? der Hauptheld dieser Teile und man muss Glotz bescheinigen, dass seine Darstellung der politischen Biographie von Benes?, seines Wirkens im britischen Exil und seiner besonderen Kontakte zu Stalin und der Sowjetregierung auf dem Hintergrund der hitzigen Debatten um die Benes?-Dekrete sich durch ihre Sachlichkeit auszeichnet.
Freilich macht das Buch, wie schon anlässlich der abgedruckten Dokumente bemerkt wurde, den Eindruck, sehr schnell produziert worden zu sein. Stilistische Saloppheiten wie "das mit Hitler" (statt mindestens "die Hitler-Angelegenheit") liest man nur ungern in einem Text von Peter Glotz. Dieselbe Flüchtigkeit finde ich auch in zahlreichen Alternativen, die die Argumentation voranbringen sollen. Aber hat es wirklich irgendeinen argumentativen Sinn, "politisch korrektes Gesäusel" gegenüberzustellen dem "Zeigen eigener Wunden"? Richtig, schlimm ist es freilich, wenn Glotz in der letzten seiner zwölf Thesen, die seine Position in Sachen "Vertreibung" resümieren, die folgende Alternative aufmacht: Lieber ein bisschen weniger Identität hinnehmen, damit Säuglinge nicht mehr mit Gewehrkolben erschlagen oder über eine Brücke ins Wasser geworfen werden."
Man traut seinen Augen nicht: Peter Glotz bringt es fertig, einer angegriffenen Minderheit Toleranz gegenüber einer sie verfolgenden Mehrheit nahe zu legen, wenn sie nicht Gefahr laufen will, dass ihre Säuglinge massakriert werden! Wie kann man nur auf ein so abscheuliches Argument verfallen, das in mehr als einer Hinsicht an die Anfänge der antisemitischen Bewegung im Wilhelminischen Deutschland erinnert, als der Hofprediger Stöcker die Juden genau in demselben Augenblick zur Toleranz ermahnte, als er die Öffentlichkeit zum Kampf gegen sie aufhetzte?
Mir ist natürlich klar, dass Glotz nicht auf einen Nationalismus oder Rassismus hinauswollen kann, gegen den sein ganzes Buch gerichtet ist. Wie also erklärt es sich, dass er auf Argumentationsbahnen gerät, die dieser seiner Intention schnurstracks entgegenstehen? Es müssen tiefliegende Unklarheiten sein, die auf so krasse Selbstwidersprüche hinauslaufen.
Eine erste Unklarheit steckt schon in der Erklärung des Vorwortes, der Autor wolle keine historische Arbeit, sondern "ein politisches Buch" schreiben. Auf der übernächsten Seite jedoch heißt es schon, es gehe "darum, ein europäisches Problem neu zu erzählen". Ist das keine historische Aufgabe? Wie es nicht anders sein kann, bestehen denn auch alle sechs Kapitel im Wesentlichen aus Erzählung, das letzte, wie schon gesagt, sogar in der Präsentation von Dokumenten.
Nächster Widerspruch: "Dieses Buch beginnt 1848" heißt es im ersten Kapitel. Eine plausible Absicht für einen Autor, der sich mit den verhängnisvollen Konsequenzen des Nationalismus in Mitteleuropa auseinandersetzen will. Aber im gleichen Kapitel schon muss er dieses Programm durchbrechen, weil er auf den "verhängnisvollen Einfluss von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit auf den slawischen Nationalismus" hinweisen und "die Nachwirkungen der hussitischen Kriegführung im antitschechischen deutschen Nationalismus" beschreiben will. Man kann Glotz nur zustimmen, wenn er diese Vorgeschichte des neuzeitlichen Nationalismus nicht unter den Tisch fallen lassen will. Meine Kritik richtet sich darum auch nicht gegen diese unvermeidliche Ausweitung des historischen Programms, sondern gegen die pauschale Geradlinigkeit, mit der der Hussitismus oder Herders berühmtes Slawenkapitel als bloße Prologe des 19. Jahrhunderts behandelt werden.
Als ich Glotz´ hochnäsige Sätze über Herders "Schreibübung", das Kapitelchen über die "Slawen" las, fiel mir sofort die Frage wieder ein, die mir ein junger polnischer Historikers schon vor Jahren stellte: "Wie kommt es eigentlich, dass ein von uns so hochgeschätzter Autor wie Herder bei Ihnen in Deutschland so wenig Beachtung findet?" Bei Glotz steht die Antwort: Herders "Schreibübung" ist angeblich am Klischee von kriegerischen Herrenmenschen aus Deutschland und den von ihm unterdrückten Slawen schuld. Wer die mittelalterlichen Quellen zur Auseinandersetzung zwischen fränkischem und sächsischem Adel und ihren Kontrahenten an Elbe, Moldau und Oder auch nur oberflächlich kennt, wird dem tschechischen Historiker Palacky nur Recht geben können, wenn er von einem Jahrhunderte langen Kampf zwischen Tschechen und Deutschen spricht, und Glotz´ Versuch, diesen Kampf auf bloß wirtschaftliche Auseinandersetzungen zu reduzieren, entschieden ablehnen müssen.
Woran scheiterte Ottos des Großen mittelosteuropäisches Verfassungskonzept, das Germanien, Gallien, Italien mit Slawonien, dem Slawenland als gleichberechtigte Völkerschaften vereinen sollte? Am Widerstand des sächsischen Adels, der als das neue Herrenvolk die Franken beerbt hatte und keineswegs willens war, Slawen, Unterworfene beziehungsweise zu Unterwerfende, wie das Wort "Slave" gleich "Sklave" unmissverständlich sagt (!), als Gleichberechtigte neben sich zu dulden. Was löste den Slawenaufstand im Erzbistum Magdeburg 983 aus? Die auch kirchenrechtlich verwerfliche Machtergreifung des sächsischen Adels im Erzbistum!
Was geschah im Bistum Merseburg kurz nach 1100? Ein aus diesem Bistum stammender Aufruf fordert die sächsischen Ritter zum Kreuzzug gegen die angeblich noch immer im Heidentum verharrenden Slawen (in Wirklichkeit waren sie längst christianisiert!) auf. Der Aufruf, eines der schmählichsten Dokumente mittelalterlicher Kirchengeschichte, vergisst nicht, die Einladung zum Kreuzzug durch Hinweise auf ausgiebige Plünderungsmöglichkeiten attraktiver zu gestalten.
Oder hält es Glotz für puren Zufall, dass das Bistum Prag bis 1344 ein Suffraganbistum von Mainz blieb, ehe es erzbischöflichen Rang erhielt, im Unterschied zu Gniezno/ Gnesen und Esztergom/Gran, denen dieser Rang schon am Ende des 10. Jahrhunderts zufiel, für Polen und Ungarn der entscheidende Schritt zu ihrer staatlichen Unabhängigkeit; etwas, das Böhmen über 300 Jahre verwehrt blieb!
Und sollte der Universitätsprofessor Glotz wirklich nichts vom Hintergrund der Entstehung der Universität Leipzig 1410 wissen, jenem Prager Universitätsstreit, der deswegen entbrannte, weil die Majorisierung der Tschechen, denen nur eine Universitätsnation zugestanden wird im Gegensatz zu drei deutschen Nationen, obwohl das Zahlenverhältnis der Studierenden umgekehrt war, von den Tschechen nicht mehr hingenommen wurde und die Deutschen zur Auswanderung nach Leipzig veranlasste?
Ist es im Rahmen einer so schwerwiegenden Völkerkonflikte thematisierenden Erörterung angemessen, über die Grausamkeiten hussitischer Kriegführung zu diskutieren, ohne über den Anlass, den allein durch den Rechtsbruch des Kaisers Sigismund ermöglichten Ketzerprozess und den dadurch veranlassten Justizmord an Jan Hus in Konstanz auch nur eine Silbe zu verlieren? Ich breche hier ab, weil ich nicht schulmeistern, sondern Glotz nur fragen möchte: Ist es angesichts dieser noch erheblich verlängerbaren Liste historischen Unrechts nicht eher untertrieben, wenn Herder in seiner "Schreibübung" davon spricht, dass sich besonders die Deutschen an ihren slawischen Nachbarn versündigt haben?
Es ist im Rahmen einer Rezension nicht möglich, in einer dem Gewicht der Sache angemessenen Detailliertheit auf die vom Autor angesprochenen Völkerrechtsfragen einzugehen. Darum will ich nur begrüßen, dass auch Glotz die Fehlkonstruktion eines "Rechtes auf Heimat" beziehungsweise eines "angestammten Wohnsitzes" zurückweist. Unklar bleibt mir seine Position im Streit um die Benes?-Dekrete. Einerseits stellt er die von deutscher wie tschechischer Seite anerkannte Rechtsgrundlage dieser Dekrete in den Potsdamer Protokollen vom August 1945 in Frage; andererseits erklärt er ihre Aufhebung für völkerrechtlich unerheblich. Was eigentlich ist gemeint?
Am meisten bedaure ich, dass Glotz den weitblickenden Ideen Palackys, Masaryks und Wilsons, Ideen, die mit verschiedenen Akzentuierungen allesamt auf so etwas wie Palackys "Bund gleichberechtigter Völker" hinauswollen, nichts entgegenzuhalten hat als den trivialen Einwand, sie seien allesamt wegen ihres Idealismus gescheitert. Dieser Einwand kommt mir vor wie der Kritikern der UNO oder der EU, die allemal dann am lautesten über die Schwäche internationaler Organisationen klagen, wenn sie die zuvor durch ihr Veto paralysiert haben.
Muss nicht mit ganz anderem Nachdruck als es bei Glotz geschieht auf die Aktualität der Völkerdemokratiekonzepte von Palacky, Masaryk und Wilson hingewiesen werden, nachdem das 20. Jahrhundert genügend Erfahrung dazu gesammelt hat, dass die Idee des homogenen Nationalstaates in den Terrorismus der ethnischen Säuberungen mit dem Ende im Genozid führt? Und darum eine diskriminierungsfreie, mit Multiethnizität vereinbare neue Form von Grundrechtsdemokratie erreicht werden muss?
Peter Glotz: Die Vertreibung. Böhmen als Lehrstück. Ullstein, München 2003, 287 S., 22 EUR
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