Die vergangenen Wochen haben uns gelehrt, wir müssen unser Denken viel grundsätzlicher ändern, als es sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 allseits aufgedrängt hatte. Wir müssen unser Denken ändern, weil Globalität für Deutschland und für Europa Bedingungen geschaffen hat, die weit über jene ökonomischen Parameter hinausgreifen, die nun schon jahrelang in aller Munde sind.
Zuallererst: Wir müssen von Globalität sprechen statt von Globalisierung. Was unser Denken herausfordert, ist nicht ein Ziel, sondern eine Voraussetzung; eine Voraussetzung, die schon Anfang des 20. Jahrhunderts Tatsache geworden ist. Globalität trat ein, als 1914 ein Krieg begann, von dem alle wussten, es würde ein Weltkrieg. Wie sehr er
Weltkrieg. Wie sehr er das war, lehrte seine Fortsetzung 1939, die jeden Unterschied zwischen Krieg und Frieden, Front und Hinterland im Inferno des Bombenkrieges und der Vernichtungslager auslöschte. Als die Waffen 1945 schwiegen, war die Welt zur Nachkriegswelt globalisiert worden. Die Gründung der UNO bezeugte den Konsens der Völkergemeinschaft: das Leben müsse angesichts der eingetretenen Globalität von anderen Voraussetzungen ausgehen als denen, die in einen doppelten Weltkrieg geführt hatten.Freilich, wenn wir uns umschauen und sehen müssen, wie gerade die UNO daran gehindert wurde, einer friedlichen Lösung der Irak-Krise den Weg zu ebnen, wenn wir tagtäglich die Sprache des Krieges auf allen Kanälen hören, dann bedrängt gerade meine Generation die Frage: Hat unser Denken die Wendung mitvollzogen, die mit der Atlantik- und UN-Charta angezeigt war, als das Gewaltmonopol von den einzelnen Staaten auf die Völkergemeinschaft übertragen wurde?Die Punkte, an denen altes Denken daran hindert, die Folgen der eingetretenen Globalität zur Kenntnis zu nehmen, lassen sich leicht aufzählen: Globalität - das ist das Ende der vorangegangenen Weltgeschichte, die darin bestand, dass voneinander getrennte Geschichtsräume sich miteinander verflochten. Mit dem Eintritt in die Globalität der Weltkriege waren sie alle miteinander verflochten, alternativlos und unwiderruflich. Damit aber war jeder Möglichkeit von Weltherrschaft der Boden entzogen. Der zu einem einzigen Geschichtsraum verschmolzene Globus bot allen Blicken die Ruinen jener Imperien dar, deren Selbstverständnis darin bestand, die ganze Welt zu umfassen, ob es sich um die Imperien der Antike, des Mittelalters oder die Kolonialimperien der Neuzeit handelte. Heute erweist sich ein solches Selbstverständnis mehr denn je als eine historische Sinnestäuschung: Die Welt ist größer als jedes denkbare Imperium.Ebenso wie die eingetretene Globalität sich nicht erweitern oder zurücknehmen lässt, überblicken wir nunmehr die Lebensgrundlagen unseres Planeten in einer noch nie da gewesenen Vollständigkeit. Mag das Zahlenwerk des Club-of-Rome-Berichtes von 1970 stellenweise korrekturbedürftig sein, an der Kernaussage von den Grenzen des Wachstums zu zweifeln, besteht nicht der geringste Anlass. Im Gegenteil! Der von langer Hand vorbereitete Irak-Krieg zeigt genau so wie die Wasser- und Bodenstreitigkeiten zwischen Israelis und Palästinensern: Die Verteilungskämpfe um die knapper werdenden Ressourcen unserer Erde sind im vollen Gange.Viel zu wenig wird bei alledem bedacht, dass die Implosion des kommunistischen Machtblocks noch eine ganz andere fundamentale Tatsache der Globalität ans Licht gebracht hat: die systemtheoretische Einsicht, dass es von einem bestimmten Grad der Komplexität eines Systems an unmöglich wird, dieses System von einem einzigen Punkt aus beherrschen und steuern zu wollen. Jeder solche Versuch wird am Ende zum Zusammenbruch des gesamten Systems führen. Das ist mit der Friedlichen Revolution vom Herbst 1989 für das relativ kleine Gebiet der DDR nachgewiesen worden. Wie viel mehr gilt es für Systeme von viel höherer Komplexität wie das Weltwirtschafts-, Weltfinanz- oder Weltkultursystem? Wie viel mehr gilt es, wenn diese Komplexität zum Verzicht auf ein politisches Regulativ genötigt werden soll, das nach Lage der Dinge und vom Ansatz her nur die Vereinten Nationen sein können?Einer der wichtigsten Gründe für die Nichtbeherrschbarkeit eines Systems ist der Irrglaube an seine Symmetrie. Mag die auch nicht völlig ausgeschlossen sein, das Ganze besteht aus so vielen Asymmetrien, dass jede Form von Zentralismus und Zentralperspektive scheitern muss. Die Weltkarte der UNO besitzt kein Zentrum mehr. Vielmehr gruppieren sich Kontinente und Meere auch in der zweidimensionalen Projektion so, dass gerade im Zentrum eine Leerstelle bleibt, die unmöglich als organisierende Mitte betrachtet werden kann. Wer wie die US-Administration heutzutage versucht, ein zentralperspektivisches Weltbild zu entwerfen, kann nur als ein hilf- und heilloser Illusionist angesehen werden. Wer einer neoimperialistischen Hegemonialpolitik folgt und zum Mittel von Aggression und Rechtsbruch greift, beweist durch die so heraufbeschworene Situation nur, wie unverzichtbar die Vereinten Nationen sind und bleiben. Dies allerdings nur dann, wenn in der Weltorganisation ein erheblicher Reformbedarf erkannt und bewältigt wird.Erinnern wir uns, zu den vier Gründungsmächten - den Staaten der Anti-Hitler-Koalition UdSSR, USA, Frankreich, Großbritannien - kam nur China als Nuklear- und Vetomacht im Weltsicherheitsrat hinzu. Durch das Verschwinden der Sowjetunion ist die Anti-Hitler-Koalition, die sich bereits mit dem Kalten Krieg in einen nur locker verbundenen Ost-West-Dualismus verformt hatte, endgültig zerbrochen. Eine, wie wir jetzt sehen, höchst verhängnisvolle Infragestellung der Handlungsfähigkeit der UNO. Es kommt hinzu, dass die Absicht, für die fünf Vetomächte ein Kernwaffenmonopol aufrechtzuerhalten, längst hinfällig wurde und dank der heute einsetzbaren weltweiten Informationstechnologien weiter unterhöhlt wird.Es gibt angesichts der UN-Krise keine Alternative als den Appell, statt das Denken dem Neoimperialismus einer Supermacht unterzuordnen, auf Gedanken zurückzugreifen, wie sie schon der Kreisauer Kreis für die Zeit nach Hitler ins Auge gefasst hatte. Ihm schwebte ein durch eine Verfassung geeintes Europa vor, dessen Grundgedanke die Ersetzung einzelstaatlicher Souveränität durch eine genossenschaftlich verwaltete war, wodurch - wie jetzt in der EU - jeder Krieg ausgeschlossen werden sollte. Diesen Plan gedachte man durch analoge Friedensräume in den anderen Weltregionen zu ergänzen.Auch wenn es sich dabei um sehr langfristige Ziele handeln mag, sollten wir nicht gerade wegen des Irak-Krieges unseren Gedanken so schnell wie möglich eine Richtung geben und die EU als das erste Paradigma solcher auf allen Kontinenten zu errichtenden Friedensräume verstehen? Sollten wir nicht über die Grundstruktur einer Weltfriedensordnung nachdenken, die auch die UN-Verfassung derart reformiert, dass der Weltsicherheitsrat nicht mehr als Gremium der Atommächte ist, sondern als Rat der Friedensräume arbeitet? Ganz wie bisher mit dem turnusmäßigen Wechsel im Vorsitz und mit Vetorechten ausgestattet. Natürlich stellt sich durch den Irak-Krieg und seine Vorgeschichte in der UNO, aber auch angesichts der durch Erpressungsversuche und Abhörskandale offenbar gewordenen Gefahren für die Unabhängigkeit des höchsten UN-Gremiums die Frage, ob die Gesamtorganisation in New York bleiben kann oder nach Prag, Helsinki oder in den Friedensraum eines anderen Kontinents - etwa nach Asien, Afrika oder Südamerika - verlegt werden sollte. Die nächsten Monate werden zeigen, wie akut solche Überlegungen sein müssen. Sie zu diskutieren, scheint unerlässlich.Erst jetzt - mit dem Krieg im Irak - wird in vollem Umfang deutlich, wie tiefgreifend der politische und verfassungsrechtliche Wandel sein muss, wenn wir uns zwischen Neoimperialismus und Weltfriedensordnung, zwischen Macht- und Rechtsordnung zu entscheiden haben. Auch die neuen EU-Mitglieder von Zypern bis Estland werden dabei ihren Anteil übernehmen müssen. Sie sollten als das wirklich »neue Europa« wirksam werden, das niemals mehr einer Politik die Hand reicht, die wie in alten Vorweltkriegszeiten den Thron eines Imperators zum Mittelpunkt der Welt erklärt. Das Zentrum der Welt kann nur die gemeinsame Geschichte der Menschheit sein.Der Text fußt auf der Dresdner Rede des Autors vom 23. März 2003
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.