Endlich, seit einer zehntägigen Sitzungswoche in Bonn wieder nach Berlin zurückgekehrt, weiß ich, was mich jedes Mal neu in Verlegenheit brachte, wenn ich von den Journalisten gefragt wurde: Wie fühlen Sie sich in Bonn? Man kennt die Hintergedanken, denn man kennt die Hauptstadtdebatte: „Wird er etwas Nettes über Bonn sagen oder sein Votum für Berlin als Parlaments- und Regierungssitz angeben?“
Aber hier im hässlichen und aufgewühlten Berlin-Mitte mit den graffiti-beschmierten wüsten Wänden weiß ich auf einmal: Bonn – das ist alles Vergangenheit. Dort fühle ich mich wie vor 40 Jahren als Student in dem Göttingen, das den Krieg nicht erlebt hatte. Jene Universitätsstadt, in der ein Philosoph wie Nicolai Hartmann 1946 schreiben konnte, in den letzten 10 Jahren – er sprach tatsächlich über die Dachau-Auschwitz-Leningrad-Stalingrad-Jahre – habe sich in Sachen Ethik nichts geändert in deutschen Landen.
So können diese sonnigen Bonner unentwegt versichern, das Grundgesetz, diese „freiheitlichste Verfassung auf deutschem Boden“ habe sich seit 1949 immer nur bewährt. Was sind das für undankbare, gefährliche Menschen, die das in Zweifel ziehen? Da steht nun unsereiner, der von seinen Erfahrungen nicht abstrahieren kann, wildfremd dazwischen und fragt, ungewiss, ob er nur sich oder andere anredet: „Was hat sich denn 1956/57 bewährt, als in Deutschland, das zu entmilitarisieren 1945 alle – Sieger wie Besiegte – wild entschlossen waren, plötzlich auf höchst unglaubwürdige Weise, die auch Manipulation der EKD-Synode zum legitimierenden Militärseelsorgevertrag einschloss, die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt wurde? „Jede Tätigkeit irgendwelcher Organisationen oder Einzelpersonen, die direkt oder indirekt Theorie. Grundsätze, Technik oder Organisation des Krieges unterrichten oder Teilnehmer für irgendeine kriegerische Tätigkeit heranzubilden beabsichtigen, wird hiermit verboten“, hieß es in dem Kontrollratsgesetz vom 25.9.1945, dem eine vom bodenlosen Grauen der letzten Kriegsjahre aufgewühlte deutsche Öffentlichkeit aus tiefstem Herzen zugestimmt hatte. Welche geschichtliche Erfahrung war es denn, die der Allgemeinen Wehrpflicht Eingang in den Grundrechtekatalog verschaffte?
Und wie steht es mit dem anderen Bewährungsfall, der Außerparlamentarischen Opposition von 1968? Hat das idyllische Bonn diese Grundlagenkrise des Staates überhaupt erlebt? Allenfalls in Gestalt der Demonstrationen gegen die 1968 eingeführte Notstandsverfassung in der Änderung der Grundgesetzartikel 73, 91, 35, 115. „Wir lassen uns diesen Staat und seine Verfassung nicht in den Dreck ziehen. Wir haben diesen Staat gewollt; das ist unser Staat und unsere Gesellschaft.“ So rief Helmut Schmidt 1968 im Bundestag und sprach, in unbeabsichtigter Klarheit die Ursache der ganzen Krise aus: dass die eben mündig werdende Nachkriegsgeneration diesen Staat nicht als den ihren akzeptieren konnte. Sie hatte ihn nie gewollt. Er war ihr bloßes Establishment, Schutzmacht derer, die die Zeit von 1933-1945 als lntermezzo einer auch durch sie hindurch ungebrochen weiterlaufenden Tradition von deutscher Staatlichkeit einzugrenzen sich bemüht hatten.
Die Jüngeren hatten zuerst in der Universität, dann in Kirche und Regierung bemerkt, dass eine ihrer wichtigen Erfahrungen im Establishment nicht zugegen war: die der Entfremdung, die von einer technokratisch manipulierten Industriegesellschaft in wachsendem Ausmaß produziert wurde. Die Studenten in Japan, Polen, der ČSSR, Deutschland, Frankreich und den USA empfanden das in gleicher Weise. Helmut Schmidt sprach aber noch immer so, als könne der Staat das Ganze der Gesellschaft wenigstens repräsentativ integrieren.
Wo die Studenten weit über Humboldt hinaus die Grenzen der Wirksamkeit des Staates erfuhren und darum auch verfassungsmäßig verändert sehen wollten (freilich ohne das mit der nötigen Klarheit artikulieren zu können!) – dort versuchte die Notstandsgesetzgebung diese Wirksamkeit noch weiter auszudehnen. Es war eine Reaktion, die schon die Erfahrung des Prager Frühlings und seiner Niederschlagung gegen sich hatte. Denn hier kam es am 21.8.1968 zur Repression des einen Staates gegen den anderen. Beweis genug, dass auf der Staatsebene keine Möglichkeit mehr bestand, das Verhältnis von Staat und Gesellschaft zu korrigieren.
Seit Herbst 1989 hat sich das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in den ehemals kommunistischen Ländern von Grund auf gewandelt. Keiner je regierenden oder opponierenden Partei wird mehr das Recht oder auch nur die Möglichkeit zugesprochen, das Ganze der Gesellschaft zu repräsentieren. Das Konzept „Volkspartei“ ist ad absurdum geführt, seit Ein- oder Allparteienregierungen ihr ganzes destruktives Potential in Osteuropa und anderswo haben entfalten können, In der ehemaligen DDR hat dieser Vorgang in der Berliner Großdemonstration am 4.11.1989 Gestalt angenommen und dadurch dem berühmten Satz, die Staatsgewalt gehe vom Volke aus, eine neue Interpretation gegeben. „Wir sind das Volk“ hat man gerufen und damit die verfassungsgebende Gewalt nicht nur behauptet, sondern auch praktiziert.
Was ist in den letzten Wochen und Monaten nicht alles geschrieben worden, um den verfassungsändernden Charakter dieser Demonstration vom 4.11. herunterzuspielen oder gar zu leugnen. Sie sei kein revolutionärer Akt, sondern eine behördlich zugelassene Kundgebung gewesen. Natürlich ist in harten Verhandlungen aber diese Zulassung erzwungen worden. Und zwar nicht von irgendwelchen Parteien, sondern gegen sie, von Bürgerbewegungen und Künstlerverbänden.
Gegen die Bürgerbewegungen und vor allem gegen die am 4.11. redenden Schriftsteller bringt man vor, sie hätten noch immer einen vom Volk längst verworfenen Sozialismus gefeiert. Gewiss – das Wort Sozialismus kommt in den Reden von Christoph Hein, Christa Wolf, Stefan Heym vor. Aber wer sich von seinen politischen Schablonen nicht befreien mag, der sieht bei diesem Wort derart rot, dass er nur noch schwarz zu denken vermag. Der nimmt die klarsten Sachverhalte nicht mehr wahr, wie den, dass die drei genannten Reden nicht den Sozialismus feiern, sondern die in jenem demokratischen Elementarsatz „Wir sind das Volk“ durchbrechende Freiheit einer Sprache, die die Lügensprache der alten Transparente und der manipulierten Medien zerfallen lässt. Und Schabowski und Markus Wolf wurden bei ihrem Versuch, die neue Sprache mitzusprechen, ausgepfiffen, verdientermaßen, und das nur wenige 100 Meter vom Ort der schmählichen Parade entfernt.
Und dieses Ergebnis soll allenfalls in der Präambel der neuen Verfassung honoriert werden dürfen? Nein – es gehört in die Kernsätze vom Staatsaufbau, als neue und revolutionäre Interpretation des Satzes, die Staatsgewalt gehe vom Volke aus. Sie tut das, nicht durch den berühmten „täglichen Plebiszit“, das heißt die passiv gewährte Zustimmung. Sie tut es vielleicht im Gebrauch der Freiheit, das oberste Staatsziel auf der Basis der Menschenrechte neu festzulegen. Die DDR gebrauchte diese Freiheit, als die Volkskammer den Führungsanspruch der SED verwarf und den entsprechenden Satz in Artikel 1 der DDR-Verfassung von 1968/74 strich.
Dieser Vorgang muss auch in einer neuen gesamtdeutschen Verfassung seinen Niederschlag finden. Mit ihm ist die Aufnahme direktdemokratischer Elemente in die Verfassung und auch eine neue inhaltliche Fassung des Staatsbürgerrechtes gegeben, nach dem Staatsbürger ist, wer an den demokratischen Rechten partizipiert und bei der politischen Willensbildung in der Gesellschaft mitwirkt.
Dieser Text erschien am 9. November 1990 in der ersten Ausgabe des Freitag
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