Terror und Nachspiel

Debatte Der Historikerstreit ist nicht vorbei – er beginnt von Neuem, aber was, bitte schön, hat die Schoah mit den alten Griechen zu tun? Eine Replik auf Egon Flaig

Vor 25 Jahren begann eine geschichtspolitische Kontroverse, die als „Historikerstreit“ bezeichnet worden ist. Ausgelöst wurde sie durch einen Artikel des Historikers Ernst Nolte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. In ihm hatte Nolte die folgende, rhetorisch gemeinte Frage gestellt: „Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler, eine ‚asiatische‘ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potenzielle oder wirkli­che Opfer einer ‚asiatischen‘ Tat betrachteten? War der Archipel Gulag ursprüng­licher als Auschwitz?“

Noltes Vergleich zwischen dem „Archipel Gulag“ und „Auschwitz“ wurde sofort scharf kritisiert. Der Philosoph Jürgen Habermas warf Nolte in einem Artikel für die Zeit vor, die Singularität des Holocaust geleugnet zu haben. Es gebe keinen kausalen Nexus zwischen den Verbrechen Stalins und denen Hitlers. Verschiedene Publizisten und auch einige Historiker schlossen sich der Habermas’schen Kritik an. Das Megaverbrechen des Holocaust sei einzigartig, und die Vergleiche zwischen Hitler und Stalin seien abzulehnen. All das diene nur der „Normalisierung“ der nationalsozialistischen „Vergangenheit“, die nicht, wie dies Nolte offensichtlich wollte, „vergehen“ dürfe.

Das war vor 25 Jahren. Heute ist oder scheint zumindest alles anders zu sein. Heute redet kaum jemand mehr über die Singularität des Holocaust, worunter übrigens nur der Genozid an den Juden und nicht der an den Sinti und Roma verstanden wurde und immer noch wird. Heute werden überall und von allen möglichen Historikern und Publizisten aufrechnende Vergleiche zwischen Hitler und Stalin und selbst zwischen Hitler und Honecker gezogen, was selbst Nolte nicht eingefallen ist und was dennoch in Teilen der neuen DDR-Forschung geschieht.

Nur eins ist noch nicht vergangen und vorbei. Und das ist die nationalsozialistische „Vergangenheit“. Sie ist nach wie vor eine nicht vergangene Vergangenheit, weil sie nach wie vor auch die Gegenwart prägt und uns daran hindert, beides – die Gegenwart wie die Vergangenheit – zu „normalisieren.“ Das passt einigen nicht in den geschichtspolitischen Kram. Zu ihrem Sprecher hat sich ein in Rostock lehrender Althistoriker gemacht – zumindest möchte er das. Er heißt Egon Flaig und hat am 13. Juli dieses Jahres natürlich in der FAZ und keineswegs natürlich in der renommierten Rubrik „Geisteswissenschaften“ einen Artikel veröffentlicht, in dem er sich vehement für eine „Renormalisierung des Geschichtsbewusstseins“ einsetzt.

Nachtreten

Gemeint ist das „Geschichtsbewusstsein“ der Deutschen. Eines Volkes, dessen „Vergangenheit nicht zwölf Jahre beträgt, sondern ein gutes Jahrtausend.“ Dass man die deutsche Geschichte nicht auf die zwölf Jahre der NS-Diktatur reduzieren darf, ist zwar richtig, derlei wird aber auch von keinem ernst zu nehmenden Historiker gemacht. Falsch ist dagegen die Behauptung Flaigs, dass die deutsche Geschichte „ein gutes Jahrtausend“ umfasst. Die Könige und Kaiser des durch Karl den Großen erneuerten Imperium Romanum waren ebenso wenig Deutsche wie der Häuptling der germanischen Cherusker „Hermann the German“. Das sollte Flaig eigentlich wissen.

Dennoch setzt er noch eins drauf und führt seine deutsche Ahnensuche bis in die Antike fort. Die „Vergangenheit der Deutschen als Teil der europäischen Kultur“ reiche nämlich „mindestens zur griechischen Klassik“ zurück. Wie bitte? Geradezu grotesk wird es, wenn Flaig dann noch bekennt, dass ihm die „athenische Demokratie“ näherstünde und für ihn „bedeutsamer“ sei als die „Schoah“. Was soll das denn? Was hat der Holocaust mit der „athenischen Demokratie“ zu tun? Absolut nichts!

Nun könnte man diese höchst merkwürdigen und zudem schwer verständlichen Tiraden als Stoßseufzer eines zu wenig beachteten und darob etwas frustrierten Althistorikers abtun und mit Missachtung strafen, wenn es sich dabei nicht um einen ziemlich verspäteten Beitrag zum längst beendeten und, wie man deutlich sagen muss: zugunsten Noltes entschiedenen Historikerstreit handeln würde. In der Fußballsprache nennt man so was „Nachtreten“.

Und getreten, ja verbal verprügelt, wird vor allem Jürgen Habermas. Ihm werden „Zitate-Verkrümmungen,“ mangelhafte „Bildung“ und die Anwendung von „journalistischen Tricks (...), die sonst dem Lumpenjournalismus vorbehalten waren“, vorgeworfen. Alles ohne Beweis und ohne Begründung. So geht es nun wirklich nicht.

Noch schlimmer hat es Dan Diner, einen weiteren Beteiligten am Historikerstreit, getroffen. Ihm unterstellt Flaig eine „Sakralisierung der Schoah“ und vergleicht sie mit dem biblischen „Tanz um das goldene Kalb“. Die „quasi-religiöse Sinnstiftung“ der Schoah durch diesen Wissenschaftler, auf dessen jüdische Herkunft übrigens im Subtext verwiesen wird, sei mit „Feind-Erklärungen“ und „moralischen Vernichtungsdrohungen“ seiner deutschen (und wie zu ergänzen wäre: christlichen) Gegner verbunden gewesen. Diner habe eine „Sprache des politischen Terrors“ verwendet.

Flaigs abschließende Bemerkungen über die „pestartige Virulenz der Political Correctness und des Gutmenschentums“ sind unerträglich banal und gehören hier einfach nicht hin. Im „Historikerstreit“ ging es um den Holocaust und seine Deutung. Das hat mit einem ominösen „Gutmenschentum“ nicht das geringste zu tun.

Flaigs Versuch der „Renormalisierung des (deutschen) Geschichtsbewusstseins“ durch Rekurs auf die „griechische Klassik“ ist gescheitert und musste scheitern, weil „Schoah“ und „athenische Demokratie“ auch nichts miteinander gemein haben und das eine nicht durch das andere erklärt oder gar entschuldet werden kann. Die nationalsozialistische ist und bleibt eine Vergangenheit, die nicht vergangen ist und auch nicht vergehen darf. Man muss sie aufarbeiten. Doch wie?

Die „anderen Opfer“

Einmal, indem die Täter nicht zu Opfern von irgendwelchen, wie Nolte meinte, „asiatischen Taten“ gemacht werden. Zu den Tätern sind zudem keineswegs nur, wie im Historikerstreit geschehen, Hitler und einige wenige hohe Funktionäre seiner Partei, sondern große Teile der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt auch wissenschaftlichen Eliten zu zählen. Opfer waren keineswegs nur die Juden, sondern auch die Sinti und Roma und viele Angehörige der slawischen Völker sowie die Behinderten, „Asozialen“, Homosexuellen und nicht zuletzt, sondern zuerst – wurden sie doch als Erste verfolgt – die Kommunisten. Von diesen, wie sie bezeichnenderweise auch genannt werden, „anderen Opfern“ war im Historikerstreit ebenfalls nicht die Rede.

Während des Historikerstreits war auch immer nur von der nationalsozialistischen Vergangenheit die Rede. Kaum beachtet wurde die faschistische Vergangenheit und Gegenwart bei uns und in unseren Nachbarländern. Faschismus ist nämlich ein generisches, globales und epochenübergreifendes Phänomen. Es hat ihn schon immer gegeben, und es gibt ihn immer noch. Nicht nur in Italien, Deutschland und einigen anderen europäischen Ländern, sondern weltweit. Nicht nur vor, sondern auch nach 1945.

Dies haben wir vergessen und sollten wir wohl auch bei der während des Historikerstreits betriebenen nationalen Nabelschau vergessen. So gesehen, hat uns der Historikerstreit entpolitisiert. Damit sollte jetzt, 25 Jahre nach seinem Beginn, Schluss sein. Aufarbeitung der Vergangenheit und Bewältigung der Gegenwart, Historisierung und Politisierung sind angesagt.

Der Historiker Wolfgang Wippermann (geb. 1945) wurde von Ernst Nolte habilitiert. Über seinen missratenen Lehrer gibt er Auskunft in dem eben erschienenen Band Singuläres Auschwitz. Ernst Nolte, Jürgen Habermas und 25 Jahre Historikerstreit, hg. von Mathias Brodkorb, Adebor Verlag 2011

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