Es war vielleicht der dümmste Satz im ganzen Wahlkampf. Mit der flapsigen Bemerkung, Angela Merkel könne unter ihm ja VizeKanzlerin werden, zeigte Martin Schulz nicht nur ein erschreckendes Maß an Realitätsferne, er verriet nebenbei auch, dass er die Große Koalition fortsetzen wollte. In der Schlussphase des Wahlkampfs vertrieb er damit alle, die ein „Weiter so“ nicht zulassen wollten. In Scharen liefen die Wähler zu den kleinen Parteien und dezimierten die SPD auf katastrophale 20,5 Prozent. Die Wählerwanderungsanalysen zeigen, dass die SPD an Grüne, Linke, FDP, AfD und Nichtwähler gleichermaßen verlor, insgesamt 1,7 Millionen Stimmen.
Etwa eine Woche vor dem Wahltag – das Desaster zeichnete sich bereits ab – brachte die Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen, Elke Ferner, ihre Genossin Andrea Nahles für den Fraktionsvorsitz ins Gespräch: Es müsse endlich eine Frau in der SPD-Führung mitmischen. Denn die Männer können es offenbar nicht. Und so wurde noch am Nachmittag des Wahlsonntags, als erste Ergebnisse der Nachwahlbefragung bei den Spitzengenossen im Willy-Brandt-Haus eintrafen, beschlossen, Nahles zur Fraktionschefin zu machen. Mit diesem Coup wollten die Unterstützerinnen verhindern, dass sich der Wahlverlierer Schulz den Fraktionsvorsitz wie Frank-Walter Steinmeier 2009 unter den Nagel reißt.
Ein solches Hauruckverfahren ist ein Armutszeugnis für eine demokratische Partei. Statt die Mitglieder zu überrumpeln, wäre es für die Glaubwürdigkeit der „Neuausrichtung“ nötig, alle Gliederungen in den Prozess der Personalauswahl mit einzubeziehen. Der Dortmunder Bundestagsabgeordnete Marco Bülow äußerte sich denn auch am Montag erzürnt: „Es darf nicht sein, dass Fraktions- und Parteispitze wieder vorgegeben werden. In der SPD-Bundestagsfraktion und innerhalb der Partei muss umfassend über eine Neuausrichtung diskutiert werden.“
Demontage von oben
Ähnlich hatte der Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer 2009 die Hinterzimmerkungelei zwischen Steinmeier und Franz Müntefering kritisiert. Irgendwann, so die Kritiker, müsse die SPD begreifen, dass eine personelle Erneuerung ohne transparente Auswahlprozesse in politischen Sackgassen ende. Damals, kurz nach Steinmeiers 23-Prozent-Absturz, wurde Sigmar Gabriel als Vorsitzender aus dem Hut gezaubert, Andrea Nahles wurde Generalsekretärin. Sie folgte auf Hubertus Heil, der nun wieder zur Ablösung ansteht. Die Personalauswahl der SPD dreht sich im Kreis.
Der Grund für das knappe Angebot liegt in der kontinuierlichen Vernachlässigung der Parteiorganisation. Die einst stolze Mitgliederpartei wurde seit den 1980er Jahren gründlich entpolitisiert und zur ehrenamtlichen Serviceabteilung degradiert. Begonnen hat der Prozess mit der Auflösung der 22 Parteibezirke. Diese mittlere Organisationsebene, die den Rest der Partei debattenstark dominierte und programmatisch auf Trab hielt, wurde gezielt von oben geschwächt. Man vergeude zu viel Zeit in überflüssigen Gremien, hieß es. Doch mit der Verschlankung und Zentralisierung ihres Apparates entledigte sich die Partei zugleich wichtiger Qualifizierungsgremien für Ämter und Posten. In den Bezirksvorständen hatte der Nachwuchs eine wichtige Bühne, hier war das Trainingslager für kluge Rhetoriker mit Durchsetzungskraft, von hier kamen Ideen und Anregungen, die nicht sofort umgesetzt werden mussten. Überdies schufen die Bezirke ein dichtes Netz von Verbindungen zwischen den lokalpolitisch orientierten Ortsvereinen, Kreisverbänden, Unterbezirken und den auf die Landesregierungen ausgerichteten Parteispitzen. „Berühmte“ SPD-Bezirke wie Hessen-Süd, Westliches Westfalen oder Südbayern sorgten immer wieder für Aufsehen und brachten Talente hervor, welche die Partei im Gespräch hielten.
Heute schaffen es nur noch die Angepassten auf die Landesebene der Partei. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet der Landesverband, der die Abschaffung seiner Bezirke stets ablehnte, am Sonntag mit 27,4 Prozent das bundesweit beste Ergebnis erzielte: Die SPD Niedersachsens verfügt noch über flächendeckende Strukturen und genügend qualifiziertes Personal.
Versäumt hat die Partei zweitens die rechtzeitige Umwandlung der 10.000 Ortsvereine in ein Netz von Bürgerinitiativen, die sich an Themen, Projekten und Praktiken sozialer Bewegungen orientieren, anstatt passiv, isoliert und unproduktiv die Vorträge von Mandatsträgern anzuhören. Drittes Defizit der Partei ist der Niedergang ihrer einst bedeutenden Arbeitsgemeinschaften – Jusos, Frauen, Arbeitnehmer. In der Gesellschaft wahrnehmbare Impulse setzen diese AGs nicht mehr, ihre innerparteiliche Randexistenz verspricht wenig Einfluss. Wer wollte seine Zeit damit verschwenden? Viertens hat die politische Zurückstufung des Generalsekretärs die Partei zum Anhängsel wechselnder Spitzenkandidaten gemacht. Das raubt der Organisation Stolz wie Selbstbewusstsein und gefährdet ihr Profil und ihre Kontinuität. Vorausschauende, über den Tag und die Partei hinausweisende intellektuelle Figuren wie Peter Glotz in der SPD oder Heiner Geißler in der CDU sind geräuschlos arbeitenden Managern gewichen, die nur das umsetzen, was ihre Vorsitzenden erlauben. Fünftens produzieren parallele Strukturen von Wahlkampf-„Kampa“ und Parteizentrale unnötige Reibungsverluste – als trauten die Parteispitzen ihrem eigenen Apparat nichts mehr zu.
Ähnlich eingeengt ist die Fähigkeit zur Debatte. Auf den Parteitagen ist sie trotz oder wegen der dicker werdenden Antragsbücher mit immer umfangreicheren Vorstands-Leitanträgen so gut wie verschwunden. Eine geschickte Regie erstickt alle Konflikte schon im Vorfeld. Nichts darf die Inszenierung von Geschlossenheit trüben, nichts die sogenannten Krönungsmessen mit ihren verkrampften 100-Prozent-Ergebnissen stören. Parteitage werden für die Medien und deren „positive Berichterstattung“ veranstaltet. Nur in dieser Atmosphäre konnte ein inhaltsleerer Begriff wie „soziale Gerechtigkeit“ zur heiligen Formel aufsteigen. Vergessen hat die Partei, dass dieser Begriff von den Verfassern des Godesberger Programms in der Absicht geprägt wurde, den bis dahin geltenden kämpferischen Begriff der „Gleichheit“ zu tilgen. Aus „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ wurde – trotz Protesten der Parteilinken – „Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität“.
Keine Grundsatzprogramm-Debatte nach Godesberg hat je wieder diese Aufmerksamkeit erlangt. Das linke Berliner Programm von 1989 – Mitverfasser: Erhard Eppler und Peter von Oertzen – wurde von der Wiedervereinigung überrollt und geriet in Vergessenheit. Das gemäßigte Hamburger Programm von 2007, von den so genannten Netzwerkern in der Partei mit Rücksicht auf Gerhard Schröders Regierungspolitik formuliert, ging in der Finanzkrise unter. Gebrannt von so viel unglücklichem Timing verzichtet die Partei seither auf Grundsatzdebatten und begnügt sich mit Personalrochaden. Die tiefer liegenden Probleme packt sie nicht an.
Will die Parteibasis aber, nach der dritten verheerenden Niederlage in Folge, einen wirklichen Neustart, muss sie sich trotz der anstehenden Wahl in Niedersachsen lautstark bemerkbar machen. Der Aufschrei eines einzelnen Abgeordneten wie Marco Bülow wird nicht genügen. Auch die Wahl der tüchtigen Andrea Nahles zur Fraktionschefin kann die Wende zum Besseren nicht garantieren, die Zahlen des Bundeswahlleiters sprechen dagegen. So erlitten gerade jene Landesverbände, die mit Olaf Scholz und Ralf Stegner über zwei erfahrene und bekannte stellvertretende Bundesvorsitzende verfügen, die höchsten Verluste: In Schleswig-Holstein verlor die SPD 8,3 Prozentpunkte, in Hamburg 8,9. Das sind unübersehbare Notsignale.
2009 und 2013 wurde die Chance auf personelle, organisatorische und programmatische Erneuerung verpasst. Nun, 2017, ist die allerletzte Gelegenheit.
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