"Wir sind erfunden. So eine Familie wie diese gibt es zum Glück nicht wirklich. Das denken sich andere Leute aus", sagt Tochter Liesbeth in dem Theaterstück Gras von Esther Gerritsen, kurz bevor sie von ihrer Mutter im Wohnwagen eingesperrt und von ihrem Bruder ermordet wird.
Der Familie haftet etwas Sonderbares an und nicht nur der erfundenen Familie in diesem Theaterstück. Die Mehrheit der Bevölkerung verbindet mit dem Wort Familie etwas Positives, trotz erschreckender Statistiken über physische, seelische und sexuelle Gewalt in den eigenen vier Wänden. Obwohl Schätzungen variieren, vermuten Experten, dass 20 bis 40 Prozent der Kinder vor ihrem 18. Lebensjahr mit irgendeiner Form von sexueller Gewalt in Berührung kommen. Die Mehrzahl macht diese Erfahrung innerhalb der eigenen Familie. Kindern wird ans Herz gelegt, nicht mit dem freundlichen Fremden mitzugehen, der ihnen Süßigkeiten anbietet. Niemand warnt die Kinder jedoch vor ihrem Opa, ihrer Oma, Tante, ihrem Onkel, ihrer Mutter oder ihrem Vater. Der Glaube an die häusliche Intimsphäre ist schon Jahrhunderte alt. In der Antike hatte das Familienoberhaupt das Recht, seiner Frau, den Kindern und Hausangestellten Gehorsam abzuverlangen.
Um 1830 bekommt die Privatsphäre als sicherer Zufluchtsort außerhalb der harten, berechnenden Geschäftswelt eine deutlich emotionale Färbung. Mehr als je zuvor wird das Eingreifen in das Familienleben als problematisch betrachtet; es bedeutet eine Verletzung der Intimsphäre innerhalb der Familie. Anders als häufig angenommen, wurde Gewalt in den eigenen Wänden nicht erst 1960 "entdeckt". In Massachusetts führten die Puritaner zwischen 1640 und 1680 die ersten Gesetze gegen das Schlagen von Frauen und gegen "unnatürliche Strenge" Kindern gegenüber ein. Eine zweite Reformphase fand im 19. Jahrhundert statt. Eine dritte Welle setzte in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts ein. Dem überwiegenden Teil dieser Reformbewegungen zum Umgang mit häuslicher Gewalt lag ein politisches Interesse zugrunde. Die Puritaner sahen durch die Gewalt in der Familie und durch andere Formen von abweichendem Verhalten ihre von Gott sanktionierte Kolonie bedroht. Für die Reformer des 19. Jahrhunderts war der Kampf gegen familiäre Gewalt ein Mittel, um gewalttätige Männer der unteren Klassen zu kontrollieren. In den sechziger Jahren stellte es für die Feministinnen schließlich eine Notwendigkeit dar, die Privatsphäre zum öffentlichen Diskussionsgegenstand zu machen.
Im Licht dieser unterschiedlichen politischen Interessen erscheint es mir angemessen, nicht mit meinem persönlichen Bezug zu diesem Thema hinter dem Berg zu halten. Seit meinem vierten Lebensjahr wurde ich von einem Familienmitglied missbraucht, das bereits vor Jahren verstorben ist. Soweit ich sehen kann, bin ich die einzige, die sich deswegen schuldig fühlt. Das ist gar nicht so ungewöhnlich; das Schuldgefühl ist ein Symptom, das man in den banalsten Selbsthilfebüchern finden kann. Merkwürdig ist allerdings, dass es mir nicht gelingt, aus dem Bannkreis des Märchens unserer idealen Familie herauszutreten. Dort hat das Schuldgefühl seinen Ursprung: Es gab etwas Schönes, es gab eine unverbrüchliche Familie, und dadurch, dass ich missbraucht wurde, habe ich sie zerstört. Es gleicht nahezu einer Erzählung über das verlorene Paradies. Wir lebten im Garten Eden, bis ich mich außerhalb der Familie befand und einen Bissen vom Apfel nahm. Zum Baum der Erkenntnis führten mich Menschen, die mir zu verstehen gaben, dass man eine Familie, in der sieben Jahre lang Missbrauch stattfindet, wohl schwerlich als einen Ort beschreiben kann, wo alles in Ordnung ist.
Und da stehe ich nun, mir meiner Blöße bewusst, jedoch immer noch voller Sehnsucht den Blick auf das Paradies gerichtet. Mit Heimweh erfüllt, obgleich mir jeder sagt, dass es das Paradies niemals gegeben hat. Das Foto des besagten Familienmitglieds ist aus dem Wohnzimmer verschwunden; denn war dieser Mensch etwa nicht der Quell allen Übels?
In den Nachrichten wird regelmäßig über sexuelle Gewalt berichtet; mit Abscheu lesen wir die widerwärtigen Details über Dutroux und Fourniret, perverse Psychopathen. So sind wir nicht. Sie sind entartet, eher Monster als Menschen, sie haben nichts mit uns zu tun. Es macht sich zwar hinsichtlich Gewalt innerhalb der Familie, sei es physischer oder sexueller Art, durchaus moralische Panik breit. Aber es bleibt auch bei Panik; laut Wörterbuch der heftige Schrecken oder die massive Angst vor einer Gefahr. Die Angst vor einer Gefahr, die von außen kommt; das Böse im "Angesicht" eines Anderen, der sich ausreichend von uns unterscheidet, um sich weit davon entfernt und hoch darüber erhaben zu fühlen. Nicht ohne Grund benutze ich die Wortwahl Levinas´, des Philosophen, der nach dem Holocaust Ethik nicht mehr auf gesellschaftliche Strukturen gründen wollte, sondern auf die Sorge um den Anderen. Levinas schreibt: Gewalt gegenüber einem Opfer, das dazu im Stande ist, diese Gewalt wieder ungeschehen zu machen, ist eigentlich keine Gewalt; sie hat keinen Zugriff auf die verletzte Freiheit, die wie eine nahezu göttliche Freiheit ihre Macht zu absolvieren vollständig behält.
Wie kann man ein Opfer dazu befähigen, Gewalt wieder ungeschehen zu machen? Gar nicht, wenn wir den Psychologen glauben dürfen. Aber vielleicht muss zunächst die Frage präziser formuliert werden; was verstehen wir darunter, Gewalt ungeschehen zu machen? Denn es dürfte unmissverständlich sein, dass Gewalttaten ohne Zeitmaschine nicht im eigentlichen Sinne ungeschehen gemacht werden können, und obwohl Neurobiologen und Psychiater in ihrer Therapie von Traumata mit chemischen Mitteln relativ weit fortgeschritten zu sein scheinen, möchte ich diese Möglichkeit hier unberücksichtigt lassen. So folgen wir also Levinas. Gewalt wird ungeschehen gemacht, wenn sie zwar noch kränkt, aber nicht mehr verwundet - wenn die verletzte Freiheit die vollständige Macht besitzt, zu absolvieren. Das Verb absolvere besitzt eine breite Skala an Bedeutungen; losmachen, befreien, freisprechen, sich von Schuld befreien, loslassen, gehen lassen, erfüllen, vollenden, zu Ende bringen. Die Mehrzahl dieser Bedeutungen nimmt Bezug auf eine Interaktion zwischen dem Selbst und dem Anderen; ich mache dich los, spreche dich frei, lasse dich gehen. Und dann gibt es die Bedeutung, die auf das Selbst zurückgeht: Ich befreie mich von Schuld. Wenn das Opfer die vollständige Freiheit behält, um sich von Schuld zu befreien, ist dies ein deutlicher erster Schritt, aus der Gewalttat eine Kränkung zu machen, anstatt einer wesentlichen Verletzung - um die Sache zu vollenden, abzuhandeln und loszulassen. An dieser Stelle entsteht ein Problem. Um losmachen, freisprechen und auch um das Selbst von Schuld befreien zu können, besteht die Notwendigkeit der Interaktion zwischen dem Selbst und dem Anderen. Es ist jedoch die größte Gewalttat, jedenfalls bei sexuellem Missbrauch, und vermutlich in mehr oder weniger starkem Maße bei jeder Form von familiärer Gewalt, dass das Opfer nämlich gerade nicht lernt, zwischen dem Selbst und dem Anderen eine Grenze zu ziehen, beziehungsweise aufrechtzuerhalten.
Sexueller Missbrauch hat, so paradox es auch erscheinen mag, wenig mit Sex zu tun - in der Hinsicht, dass es dem Täter in der Regel nicht in erster Linie um Sex geht, sondern um das Erlangen und Ausüben von Macht. Dies ist auch der Grund dafür, dass seine Opfer Kinder sind. Missbrauch beginnt nahezu nie einfach so; in der Regel geht dem letztendlichen Missbrauch ein Prozess voraus, in dem das Kind ein Abhängigkeitsverhältnis zu dem Täter entwickelt. Dadurch, dass sich der Missbrauch in einer Reihe von anfänglich unschuldigen Schritten vollzieht, hat es für das Kind den Anschein, als hätte es seine Zustimmung gegeben und sich dadurch mitschuldig gemacht. Und dadurch, dass Missbrauch häufig mit einer Belohnung einhergeht - in Form von Geld, Geschenken oder schlichtweg von Aufmerksamkeit - erscheint auch der Missbrauch selbst gewollt. Damit ist die fatale Verflechtung des Selbst und des Anderen, von Kind und Täter perfekt. Das Niederträchtige daran ist, dass das Opfer selbst dies häufig nicht durchschauen wird. Wie kann sich ein Opfer von Schuld befreien, wenn ihm selbst nicht klar ist, wo die Grenze zwischen ihm und dem Täter verläuft? An mir selbst habe ich bemerkt, dass es mir schwer fiel, den - negativ besetzten - Ausdruck Missbrauch auch nur in den Mund zu nehmen, und selbst wenn ich schrieb, setzte ich "Täter" in Anführungsstriche. Es handelte sich um etwas, das geschehen war, aber nicht von jemandem getan. Es hatte mehr oder weniger unpersönlich stattgefunden - und passiert war es, weil ich es nicht besser verdient hatte. Es war meine Schuld - denn waren wir nicht eine glückliche Familie? Soweit meine eigenen Wahrnehmungen damit nicht übereinstimmten, musste dies wohl an mir liegen. Die "Schlussfolgerung", sofern davon bei einem unbewussten Prozess die Rede sein kann, war, dass meine Gefühle nicht stimmten. Diese Schlussfolgerung führte schließlich, wie es früher oder später bei Opfern häuslicher Gewalt häufig geschieht, zu Depressivität. Man versteht sie besser, wenn man Depressivität der Expressivität gegenüberstellt. Bei Expressivität werden Gefühle geäußert, Depressivität ist jedoch ein Surrogatzustand, der wirkliche Emotionen - besonders Wut - unterdrückt. Es sind vor allem weibliche Opfer familiärer Gewalt, die unter Depressionen leiden - die Tatsache, dass Männer häufiger aggressives Verhalten zeigen, sagt etwas über die noch immer bestehenden Rollenmuster und Erwartungen innerhalb unserer Gesellschaft aus. Das Resultat ist jedoch in beiden Fällen das gleiche. Die Stimme des Opfers geht verloren - während gerade die eigene Stimme eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, freisprechen, also absolvieren zu können. Bei Depressivität wird die Wut des Opfers unterdrückt und nach innen gekehrt, was zuweilen zu selbstzerstörerischen Neigungen führen kann. Bei Aggressivität wird die Wut zwar nach außen gerichtet, jedoch auf wenig konstruktive Weise. Das kann dazu führen, dass das frühere Opfer das bekannte Gewaltmuster wiederholt, sei es auf der Straße oder innerhalb der eigenen vier Wände seiner oder ihrer Familie. Wenn die Gesellschaft auf dieses Verhalten aufmerksam wird, kann es schlichtweg verurteilt werden; das frühere Opfer wird jetzt ausgegrenzt, wie ein Täter, über dessen Beweggründe wir nicht weiter nachzudenken brauchen. Natürlich werden bei weitem nicht alle Opfer zu Tätern, wohl aber ist ein beachtlicher Teil der Täter selbst einmal Opfer gewesen.
Es ist nicht verwunderlich, dass Opfer sich schwer damit tun, eine Stimme zu finden. Das bringt uns zurück zum Anfang der Argumentation, wo ich auf den Glauben an die häusliche Intimsphäre verwiesen habe. Der beschützende Status der Familie steht offenkundig mit der Aufmerksamkeit für das Vorkommen familiärer Gewalt auf Kriegsfuß. Was als Privatsache angesehen wird, kann nicht zum Gegenstand öffentlicher Diskussion werden, und wenn ein Thema nicht besprochen wird, kann die Gesellschaft auch nicht darüber nachdenken.
Der gesellschaftliche Diskurs übt jedoch noch auf eine zweite, hiermit verbundene Weise Einfluss aus. Ist es für das Opfer oft schwer, sich vom Täter zu unterscheiden, so hat die Art und Weise, mit der dem Täter begegnet wird, auch erheblichen Einfluss auf das Opfer. Werden Täter als Teufel dargestellt, ist dies ein unmissverständliches Zeichen dafür, wie man über Gewalt innerhalb der Familie denkt. Auf den ersten Blick könnte man das vielleicht für positiv halten. Wenn familiäre Gewalt scharf verurteilt wird, hat es den Anschein, als bekäme das Opfer dadurch den Raum, seine Geschichte zu erzählen. Aber bei genauerem Hinsehen scheinen die Idealisierung der Familie und die "Entmenschlichung" des Täters zwei Seiten derselben Medaille zu sein. Für das Opfer wird es in vielen Fällen häufig gerade schwerer, sich auszusprechen, wenn es gleichzeitig bedeutet, dass seine Familie damit "erwischt" und als "anormal" demaskiert wird. Opfer sind dem Täter gegenüber oft noch lange Zeit sehr loyal. Für sie kann es anfänglich viel schwerer sein, sich auszusprechen, wenn die (in jedem Fall moralische) Verurteilung, die auf ihr Bekenntnis folgen wird, hervorgehoben wird. Denn bleiben es nicht immer noch ihr Vater, ihre Mutter, ihr Bruder, die "durch ihre Schuld" verurteilt werden? Darüber hinaus ist das gesellschaftliche Bild des Täters nicht von dem des Opfers losgelöst. Wer den Täter als unmenschlichen Rohling darstellt, nimmt dem Opfer seine Handlungsperspektive. Es geschieht nicht ohne Grund, dass das Monster in schlechten Filmen zumeist ein kreidebleiches, hilflos schreiendes Mädchen an seiner Seite hat, das sich höchstens mit einem schwachen Schlag der Hand zur Wehr setzen kann. Indem man Gewalt innerhalb der Familie als etwas Außergewöhnliches und Grausames ansieht, das einem wehrlosen Opfer zugestoßen ist, können sowohl zügellose Aggressivität als auch ein Schwelgen in Depressivität gerechtfertigt werden. In keinem der beiden Fälle, wie ich zuvor bereits anmerkte, hat das Opfer die Möglichkeit, seine eigene Stimme zu finden und gehört zu werden. So wird ihm seine Autonomie zum zweiten Mal genommen.
Unterdessen wird aufgefallen sein, dass das Reden über Gewalt in der Familie nahezu einem Manövrieren zwischen Scylla und Charybdis gleichkommt. Auf der einen Seite lauert die Idealisierung der "ganz normalen" Familie und die Entmenschlichung des Täters, auf der anderen Seite läuft man jedoch Gefahr, Gewalt in den eigenen vier Wänden als etwas Normales darzustellen und damit den Schaden zu leugnen, den familiäre Gewalt zufügen kann. In beiden Fällen wird die Stimme des Opfers erstickt, und das war nun gerade nicht die Absicht. Aber welche gesellschaftliche Haltung gegenüber Gewalt in der Familie würde das Opfer tatsächlich dazu befähigen, sich zu befreien, zu lösen und von Schuld freizusprechen?
Die Antwort ist bemerkenswert einfach auf dem Papier und furchtbar schwer in der Realität. Wer den Täter nicht sehen will, kann das Opfer nicht hören; wer den Täter entmenschlicht, kann auch das Opfer nicht mehr als lebendiges Wesen ansehen; wer behauptet, dass Gewalt in der Familie lediglich beim Anderen vorkomme, verleugnet letztendlich das Selbst. Der Schlüssel scheint in der Anerkennung von Komplexität und Mehrdeutigkeit zu liegen. Denn wann hat eine fiktive Erzählung überhaupt die Chance, uns anzusprechen und tatsächlich zu berühren? Wenn die Charaktere differenziert ausgearbeitet sind und mehrere Dimensionen haben, wenn der Handlungsverlauf nicht gleich zu Anfang zu durchschauen ist. Wenn deutlich wird, dass die Vielschichtigkeit des Sachverhaltes die Menschen dazu bringen kann, zu handeln oder zuzusehen, wenn Figuren die Möglichkeit bekommen, sich in ihrer eigenen Sprache auszudrücken und sich auf ihre eigene Art und Weise zu entwickeln. Wenn wir uns mit den Hauptfiguren identifizieren können, als wären es Menschen aus Fleisch und Blut.
Aus dem Niederländischen von Andrea Knoflach
Wytske Versteeg ist niederländische Publizistin und arbeitet als Politologin an der Universiteit van Amsterdam, UvA. Mit dem vorliegenden Essay gewann sie 2005 den Serge Heederik Filosofieprijs.
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