Die offizielle Version lautet so: Europa befinde sich auf dem Wege der Besserung, die Folgen des Brexits seien unter Kontrolle, Kanzlerin Angela Merkel und Präsident Emmanuel Macron würden nun die neuen Grundlagen schaffen, auf denen Europa ein umso stärkeres Bündnis errichten werde. Selbst die griechische Schuldenkrise, heißt es, sei nach der Entscheidung der Eurogruppe von vergangener Woche überstanden! Leider zeigt ein genauerer Blick eine tiefe Kluft zwischen Propaganda und Realität.
2010 wurde die griechische Schuldenkrise als griechisches Problem abgetan – das sie ohne Zweifel war –, um darüber hinwegzutäuschen, dass unser Bankrott ein hässliches Symptom für die Konstruktionsfehler der Eurozone darstellte, weshalb Griechenland auch einen Dominoeffekt quer durch den ganzen Kontinent auslöste. Dass die griechische Staatspleite zehn Jahre nach ihrem Eintreten noch immer nicht gelöst ist, spiegelt die tiefen Unstimmigkeiten der französisch-deutschen Achse in der Frage wider, wie die Eurozone umgestaltet werden soll. Während drei Präsidenten der Französischen Republik und eine deutsche Kanzlerin sich nicht auf die institutionellen Veränderungen verständigen konnten, die die Eurozone zukunftsfähig machen würden, sollte Griechenland still in seiner Ecke sitzen und lautlos verbluten – erst recht nach unserem gescheiterten Aufstand im Jahr 2015.
Die Wahl Macrons zum französischen Präsidenten schuf neue Hoffnung. Zu seinen Vorschlägen gehörten: ein gemeinsames Budget für die Eurozone mit einem sicheren Schuldeninstrument und der Möglichkeit zu quasi-föderaler Steuererhebung. Eine gemeinsame Arbeitslosen- und eine gemeinsame Bankeinlagenversicherung sowie eine gemeinsame Kasse, um ins Straucheln geratene Banken mit neuem Kapital zu versorgen, um so die Grundlage einer echten Bankenunion zu schaffen. Ein Investmentfonds, der brachliegende Sparguthaben in ganz Europa mobilisieren würde, ohne die Mitgliedstaaten weiter fiskalisch zu belasten. Zugleich schien die französische Regierung grundsätzlich den Vorschlag zu übernehmen, den ich als griechischer Finanzminister unterbreitet hatte: den Umfang der griechischen Gesamtschulden und deren Tilgungsgeschwindigkeit an die Größe des griechischen Nominaleinkommens und dessen Wachstumsrate zu koppeln.
Berlin lobt Macron seit mittlerweile einem Jahr, während es einen nach dem anderen seiner Vorschläge vom Himmel schießt. Seitdem Merkel und Macron sich vergangene Woche in Meseberg getroffen haben, ist von Macrons Agenda nur noch der Versuch übrig, seine Demütigung schönzureden. Was die in den Medien groß gefeierte „Lösung“ der griechischen Schuldenfrage angeht, erlaubt sich die grausame Realität, anderer Meinung zu sein: Dem griechischen Staat wurden bequeme Tilgungen bis 2033 angeboten im Austausch gegen eine unbegrenzte strikte Sparpolitik und jährliche Rückzahlungen von 2033 bis 2060 in Höhe von etwa 60 Prozent der staatlichen Steuereinnahmen.
Können wir wenigstens sagen, dass Deutschland von Merkels Hinhaltetaktik profitiert? Nicht im Geringsten. Während in deutschen Banken dank eines gewaltigen Handelsüberschusses und einer Kapitalflucht aus Ländern wie Italien gigantische Überschüsse angehäuft werden, hält diese Liquiditätsschwemme die Zinsen bei null, zerstört so die Altersvorsorge der sagenumwobenen schwäbischen Hausfrau und bringt diese somit dazu, Frau Merkel den Rücken zu kehren und sich der AfD oder Horst Seehofer zuzuwenden.
In dieser Phase, in der Merkel sich der Realität verweigert, wird Europa mit seinem schlimmsten Albtraum konfrontiert: einer äußeren Bedrohung durch einen US-Präsidenten, der wild entschlossen ist, Europa zu entzweien, um uns zu beherrschen. Und mit einer inneren Bedrohung in Gestalt der nationalistischen Internationale, die Italiens Vize-Premier Matteo Salvini anführt: ein Politiker aus den 1930ern, der vorsätzlich die Saat der Fremdenfeindlichkeit sät, um an die niedrigsten Instinkte einer Mehrheit von Italienern zu appellieren. Salvini macht sich den Umstand zunutze, dass das mittlere Einkommen der Italiener aufgrund der Konstruktionsfehler der Eurozone seit zwei Jahrzehnten immer weiter sinkt und zeigt auf das Versagen der EU, die Last der ankommenden Migranten auf ganz Europa zu verteilen. Italiens Innenminister führt die nationale Internationale an, die sich mit Leuten wie Seehofer, Viktor Orbán oder Sebastian Kurz daranmacht, im Stile Trumps die Auflösung der EU in die Wege zu leiten.
Es ist ein Zeichen für den Zerfall eines Systems, wenn seine Autoritäten ihre zweifelhaften Erfolge feiern, während die Fundamente kollabieren. Die EU bricht auseinander, während unsere bedrängten Regierungschefs sich zu ihrer guten Arbeit beglückwünschen. Aus diesem Grund ruft unsere Bewegung Democracy in Europe Movement, DiEM25, alle fortschrittlichen Europäer dazu auf, sich unabhängig von Nationalität oder Parteizugehörigkeit gegen die nationalistische Internationale und das Establishment zusammenzuschließen.
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