Mittwoch, 27. September
Am Vormittag, in der Mensa, zwischen den Arabischkursen, ist es noch ein Gerücht. Bis zur Mittagspause hat jemand eine Tageszeitung aufgetrieben, und jetzt wissen wir, dass es stimmt: Ariel Scharon will morgen den Tempelberg besichtigen. Ariel Scharon ist ein Arsch, das weiß hier jeder. Der verhassteste aller israelischen Politiker. Selbst die palästinensischen Studenten, mit denen ich spreche, halten das Ganze zunächst für einen Witz. »Niemals!«, sagen die meisten und lachen. »Warum nicht?« - »Das traut er sich nicht.«.
An der Bir-Zeit-Universität in der Nähe von Ramallah, mitten in der Westbank und nur 20 Kilometer von Jerusalem entfernt, studieren 5.000 palästinensische Studenten. Und ein paar Dutzend Austauschstudenten aus aller Welt. Die meisten fangen nicht erst jetzt an, sich mit Palästina zu beschäftigen, einige haben palästinensische Eltern und sind in Europa oder den USA aufgewachsen. Scharon will also den Tempelberg besuchen. Im Kopf mache ich mir eine Notiz: aufpassen, vielleicht gibt es Ärger.
Donnerstag, 28. September
Die Fahrt im Sammeltaxi von Bir Zeit nach Jerusalem dauert ungefähr eine Stunde: eine Viertelstunde bis Ramallah, dann umsteigen. Viertelstunde Fahrt, israelischer Checkpoint, Viertelstunde Fahrt, israelischer Checkpoint. In einer Stunde durch Palästina, wie es nach sechs Jahren Friedenprozess und den Oslo-Nachfolgeabkommen aussieht: Bir Zeit ist Zone B, das heißt palästinensische Selbstverwaltung, aber israelische Sicherheitshoheit. Ramallah ist Zone A, also autonom. Danach wieder Zone B. Schließlich endet die Fahrt am Damaskustor, im israelisch besetzten Ost-Jerusalem. Von dort aus gelangt man in die Altstadt und zur Klagemauer, die direkt unterhalb des Tempelbergs liegt.
Der Tempelberg ist ein Plateau, auf dem zwei Moscheen stehen - der Felsendom und die Al-Aqsa-Moschee. Von unten, von der Klagemauer aus, kann man die goldene Kuppel des Felsendoms sehen. Weil wir Arabisch studieren, sagen wir »Haram al-Scharif«, und nicht Tempelberg. Das heißt »Heiliger Bezirk«. Tempelberg ist die jüdische Bezeichnung, weil die Klagemauer der letzte Überrest des ersten Tempels ist. Heute sieht man noch mehr Militär als sonst. Die gesamte Altstadt ist voll. Aber ich habe zu lange geschlafen - der Scharon-Besuch ist schon vorbei. »Hat es am Morgen Probleme gegeben?«, frage ich den Wirt, als er mir den Kaffee bringt. »Ja'ni«, antwortet er und macht eine abwägende Handbewegung. »Ja'ni« - das kann alles heißen. Heute Morgen heißt es: »So mittel«. Ich frage noch ein paar Menschen, und erfahre, dass es eine große Demonstration gegeben hat und dass 400 Soldaten nötig waren, um Scharon zu beschützen. Steine und Stühle sind geflogen, und die israelischen Soldaten haben zurückgeschossen. Sie sind ziemlich stolz auf ihre »Hartgummigeschosse«, Metallzylinder mit einer Schicht Gummi darum. Als könnten die nicht töten ...
Ich fahre nach Ramallah zurück. Als ich dort in das Taxi nach Bir Zeit steigen will, treffe ich einen Studenten, der sagt mir, unten in al-Birah, einem Stadtteil von Ramallah, gäbe es Unruhen. Ich finde ein Taxi, das mich hinbringt. Ingie aus Norwegen ist fünf Minuten vor mir angekommen. Sie zeigt mir ein »Hartgummigeschoss«, das direkt hinter ihr in die Wand eingeschlagen ist. Etwa hundert Meter vor uns brennt ein Haufen Autoreifen, davor umgestürzte Müllcontainer und Wellblechbarrikaden. Hinter ihnen haben sich die Steinewerfer verschanzt. Ein paar Dutzend nur, einige vermummt, einige mit Steinschleudern. Ungefähr fünfzig Meter weiter, gerade außer Wurfweite, stehen sechs israelische Jeeps. Die Palästinenser werfen Steine und Molotow-Cocktail-Attrappen. Jeder Treffer wird beklatscht. Alle paar Minuten, später häufiger, feuern die Israelis zurück. Krankenwagen fahren zu den Barrikaden und holen die Verletzten ab. So geht es für ein paar Stunden. Ingie und ich rauchen nervös, suchen Bekannte. Scheint, als seien wir die einzigen. Natürlich haben wir Angst. Wir haben so etwas noch nie gesehen.
Gegen fünf Uhr gehen die ersten Steinewerfer nach Hause. Hier in Ramallah, genau wie in allen anderen Westbankstädten und in Gaza, haben sie heute gezeigt, was sie von Scharon halten. Abends, im Internet-Cafe, treffen wir die anderen Austauschstudenten. Ingie und ich zeigen die Patronen, die wir aufgesammelt haben. Meine Mitbewohner, William und Ron, sind neidisch. Sie haben meinen Zettel gefunden, sind mir nach Jerusalem nachgefahren und haben mich den ganzen Nachmittag dort gesucht.
Freitag, 29. September
Viele Palästinenser aus der Westbank sind heute nach Jerusalem gefahren. Sie wollen zum Freitagsgebet auf dem »Haram al-Scharif«. Wir sind Ausländer und keine Muslime, deshalb dürfen wir nicht hinein. Auf dem Platz vor der Klagemauer wird den israelischen Soldaten gerade ihr Mittagessen ausgeteilt: eine Gurke, ein labbriges Sandwich, etwas Obst. Jim fotografiert sie, weil sie heute in voller Kampfmontur herumstehen. Mit einem Ohr nehme ich die herüberwehenden Worte der Freitagspredigt auf. Plötzlich Schreie. Frauen und Mädchen, die eben noch an der Klagemauer gebetet haben, rennen panisch auseinander. »Eine Bombe«, denke ich. Alles geht jetzt durcheinander. Ich bemerke erstaunt, wie sich meine Wahrnehmung ändert - ich bin ganz ruhig. William zeigt auf die israelischen Soldaten, die den Eingang zum Haram absichern sollen. Sie stürmen durch das Tor, und verschwinden außer Sichtweite. Wir wissen, dass sie auf dem Vorplatz der Al-Aqsa - Moschee sind, als wir die ersten Schüsse hören.
Ab jetzt ist klar, dass wir Zeugen einer Katastrophe sind. Jim hat erfahren, Steine, die von der Moschee aus auf die Klagemauer geworfen wurden, hätten alles ausgelöst. Ich habe keine Steine gesehen, nur schreiende Menschen. Egal, das ist jetzt nicht wichtig, wir müssen hier raus. Außerdem will ich wissen, was auf dem Haram geschehen ist. Ich renne los Richtung Damaskustor. Nach wenigen Schritten schon geht es nicht mehr weiter, weil die Muslime in Panik aus dem Haram flüchten. »Was ist passiert?«, will ich wissen. »Renn!«, ruft mir einer der Gläubigen zu. Aber die ganze Altstadt ist im Nu verstopft. Ein kleiner Junge neben mir fällt fast in einen Topf mit siedendem Öl. Eine verletzte Frau wird durch die Menge getragen. Erst nach einer halben Stunde erreichen wir endlich das Damaskustor. Zum ersten Mal erfahren wir, dass Menschen gestorben sind. Draußen, auf der Hauptstraße vor dem Tor, fahren Krankenwagen vor. Noch immer gellen Schüsse. Jim, William und ich laufen außerhalb der Stadtmauer nach Süden, weil dorthin die plötzlich herangepreschten israelischen Militärjeeps fahren. An der nächsten Ecke schon brennt ein Krankenwagen, eine Straßenschlacht ist in vollem Gange. Richard sieht, wie palästinensische Jugendliche einen Juden verprügeln. Steine und Schüsse. Stunden vergehen so. Wie aufgescheuchte Hühner laufen wir durch die Gegend, fragen, was geschehen ist. Drei Tote, vier Tote, sieben Tote, erfahren wir. Immer wieder suchen wir Deckung, wenn die Israelis auf die Steinwerfer schießen.
Es ist schwer zu sagen, wie man sich dabei fühlt. Wir sind hergekommen, um uns die Wirklichkeit anzusehen, nicht länger nur Fernsehaufnahmen. Jetzt merken wir, dass wir wirklich hier sind. Körperlich. Dass uns etwas zustoßen könnte. Um uns herum laufen schon die ersten Kameramänner und produzieren die Wirklichkeit für Mama und Papa zu Hause. Hoffentlich filmen sie mich nicht. Mit der Dunkelheit lassen die Unruhen etwas nach. Wir finden ein Sammeltaxi, das uns nach Ramallah bringt. Niemand spricht ein Wort. Unterwegs geraten wir in einen Stein- und Kugelhagel. Aber das regt niemanden mehr auf. Die Unruhen haben auf die Westbank übergegriffen. Vor dem frühen Morgen geht kaum jemand von uns ins Bett. Wir schicken e-mails nach Hause, dass es uns gut geht.
Samstag, 30. September
»Blutiger Freitag« - das ist die Überschrift in Al-Ayyam. Und: »Sieben Palästinenser wurden gestern zu Märtyrern«. Wir wissen, dass es heute schlimm werden wird. Tote führen immer zu Unruhen, ein Massaker auf dem Tempelberg erst recht. Schon werden die ersten Poster mit den Fotos der Getöteten aufgehängt. Ingie ruft an, sie wohnt in Ramallah. Von ihrem Zimmer aus kann sie Schüsse hören. Sie klingt tränennah. Im Kopf habe ich noch die Bilder von gestern, während ich im Fernsehen schon die von heute sehe: es ist ein schwarzer Tag in der Westbank und in Gaza.
Innerhalb von einer Stunde steigt die Zahl der von den Agenturen gemeldeten Toten von sechs auf elf für heute. Einige von uns sind nach Ramallah gefahren, um sich die erneuten Unruhen dort anzusehen. Abends berichten sie, dass die Israelis auch mit scharfer Munition geschossen haben. Trotzdem sterben die meisten Palästinenser heute an »Hartgummigeschossen«. Es gibt fast 600 Verletzte. Henk erlebt mit, wie direkt neben ihm jemand schwer getroffen wird. Er glaubt, der Junge ist tot. In Bir Zeit steht das Leben still. Vor den Fernsehern versammeln sich Menschen. Es wird wenig gesprochen. Dass die Universität auf absehbare Zeit geschlossen bleibt, ist klar. Drei Tage Trauer sind das Mindeste. Aber Trauer hier heißt auch weitere Demonstrationen. Mein Tagesablauf dreht sich nur noch um Internet, CNN, Telefon und Zeitungen. Mein Mund ist den ganzen Tag über trocken.
Auf der Straße vor meinem Haus kippt ein Mülleimer um, und ich ducke mich. Ich weiß schon, wo es sicher ist und wo nicht. Deshalb gehe ich heute nicht nach Ramallah. Ich habe das Gefühl, mehr gesehen zu haben, als mir lieb ist. Nach Mitternacht treffen wir uns in der Wohnung von Felicita, Ulrike und Lama. Sie haben das größte Wohnzimmer und einen Fernseher, der die beiden palästinensischen Sender empfängt.
Immer wieder haben sie dort die schrecklichen Bilder von einem Vater und seinem kleinen Sohn gezeigt, die von Israelis beschossen werden. Der Junge stirbt. Alle, mit denen ich heute in Bir Zeit gesprochen habe, haben mir von dieser Szene erzählt. Die Palästinenser sind zornig. »Ein Junge! Vor den Augen seines Vaters!« Der Mann, bei dem ich meine Zigaretten kaufe, ist den Tränen nahe. Jetzt sehe ich die Aufnahmen zum ersten Mal selbst. Unterlegt mit arabischer Marschmusik und nationalistischen Texten. Mir wird übel. In dem Wohnzimmer sitzen etwa 20 Austauschstudenten und einige Palästinenser.
Wir fragen sie, was in den nächsten Tagen geschehen wird. Aber das weiß keiner. Morgen werden die Toten beerdigt. Das bedeutet weitere Demonstrationen. Als ich ins Bett gehe und versuche zu schlafen, ist die Zahl der Toten auf 24 gestiegen.
Sonntag, 1. Oktober
Mit den ersten Sonnenstrahlen werde ich wach. Wir frühstücken bei Henry, dem Kanadier. Die arabischen Zeitungen sind voller Bilder von Toten und Verletzten. Die Zeitung von gestern benutzen wir als Tischdecke. Ich versuche, nicht zu genau hinzusehen, während ich esse. Richard und Ben wollen nach Jerusalem fahren, müssen also vorher nach Ramallah. Ich begleite sie, weil ich Geld tauschen muss. Schon als wir aus dem Taxi aussteigen, weiß ich, das Geldtauschen kann ich vergessen. Der Beerdigungszug zieht gerade durch die Stadt, etwa 3.000 Menschen. Auf dem zentralen Platz von Ramallah hält jemand auf dem Dach eines Autos und mit einem Megaphon eine Rede. Von Widerstand und Märtyrertum, von Jerusalem und Widerstand. Wir entscheiden uns, nach El-Birah zu laufen. Einige Demonstranten stehen dort schon sechs israelischen Jeeps gegenüber. Aber noch wirft nur sporadisch jemand einen Stein.
Eine Stunde später kommen etwa Tausend Palästinenser von der Beerdigung herüber und werden mit Gejohle und Jubelrufen empfangen. Jetzt geht es los. Steine gegen »Hartgummigeschosse«, immer dasselbe Bild. Immer wieder fordern uns Palästinenser auf, alles zu fotografieren. »Zeigt das zu Hause! Zeigt ihnen, wie sie uns umbringen!« Etwa zwei Dutzend Verletzte werden in den folgenden Stunden abtransportiert. Zwischendurch schießen die Israelis scharf - nach drei Tagen habe ich schon gelernt, die verschiedenen Geräusche zu unterscheiden. Ich renne und suche Deckung hinter einer Mauer. Nach zwei Stunden scheint es vorüber zu sein, wir wollen schon gehen, als plötzlich zwei bewaffnete palästinensische Polizisten zu den Steinewerfern herübergehen und dort mit Jubel empfangen werden.
Dann geht alles sehr schnell. Ich weiß nicht, wer zuerst geschossen hat. Auf jeden Fall reagieren die Israelis mit Maschinengewehrsalven, und ich hab noch nie solche Angst gehabt. Die Lage eskaliert, Johan und ich rennen, so schnell wir können, genau wie alle anderen. Ich drehe mich nicht um, während wir durch Hinterhöfe rennen, dann einen Berg hinauf, bis wir endlich in der Nähe der Sammeltaxi-Abfahrtsstelle sind. Die Luft ist voll von Schüssen und Sirenen. Ich finde ein Taxi und habe die Hose voll. »So lange sie uns töten, wird der Ärger weitergehen!«, erklärt der Taxifahrer. In Bir Zeit ist alles ruhig. Gott sei Dank! Wie auf ein geheimes Kommando treffen wir uns abends alle wieder bei den drei Mädchen.
Alle sehen müde aus, Lama hat tiefe Schatten unter den Augen. Neue Gerüchte: Panzer in Nablus, Kriegsschiffe vor Gaza. Im Fernsehen wird all das bestätigt, und mehr: wieder elf Tote. Fast 700 Verletzte. Stumm reichen wir Zeitungen herum. Ingie ruft an: Sie kann nicht kommen, weil Ramallah abgeriegelt ist. Zwei Tote dort. Ob es die beiden palästinensischen Polizisten sind? Nachts kann ich nicht einschlafen.
Montag, 2. Oktober
Ich setze heute kaum einen Fuß vor die Tür - von meiner Veranda aus kann ich sehen, wie über Ramallah schwarzer Rauch aufsteigt, das heißt, dass sie wieder Autoreifen verbrennen. Kurz darauf höre ich aus der Ferne die ersten Schüsse. Über Bir Zeit kreist ein Hubschrauber. Es gibt zwei israelische Siedlungen in unmittelbarer Nähe, die beschützt werden müssen. Jim und ein paar andere versuchen, sich nach Nablus durchzuschlagen. Jim hat die Auslandskorrespondenten-Krankheit, glaube ich. Ich werde heute neben dem Telefon sitzen bleiben. In unserer Wohnung stinkt es, merke ich. Wir haben seit fünf Tagen nicht mehr abgewaschen. Ich räume auf, meine erste völlig alltägliche Handlung seit Tagen. Gleich im Anschluss fülle ich so viele Gefäße wie möglich mit Wasser; die Israelis können jeder Zeit die Wasserzufuhr sperren. Zu essen ist auch nichts im Haus, ich habe noch 30 Schekel, das sind 15 Mark. Angeblich öffnet ein Laden heute abend für kurze Zeit. Angeblich wurde gestern ein Waffenstillstand ausgehandelt. Das interessiert aber niemanden, wie es scheint. Heute Morgen ist ein israelischer Soldat erschossen worden. So lange Leute sterben, gehen die Unruhen immer einen Tag weiter. Der Taxifahrer hat Recht.
Dienstag, 3. Oktober
Bei den beiden schwedischen Studenten sehen wir Nachrichten auf BBC. Arafat und Barak haben sich auf einen Waffenstillstand geeinigt. Zugleich finden heute mittag in der ganzen Westbank und in Gaza Beerdigungen statt - gestern wurden 17 Palästinenser getötet. So fangen die Demonstrationen meistens an. Mit William, der aus Jerusalem zurück ist, diskutiere ich die Lage. Abwarten. Ich rufe Muhammad an, und frage ihn, was er von den Verhandlungen hält. »Gut!«, sagt er, »aber Arafat und Barak können nicht in fünf Minuten vergessen machen, dass fast 50 Leute gestorben sind!« Abwarten.
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