Latifa Khaleb lebt seit drei Wochen neben einem Panzer. So ganz hat sie sich noch nicht daran gewöhnt, dass in ihrer Küche die Kaffeetassen im Regal klirren, wenn sich der Panzer bewegt. "Etwa 20 Soldaten mit ein paar Jeeps und diesem Panzer sind einfach meinen Hügel hinaufgefahren und haben ihr Lager aufgeschlagen", beschreibt sie die Ankunft der israelischen Armee in ihrem Hinterhof. Als ihr Sohn Bassam an jenem Tag mit dem Traktor vom Feld zurück kam, wollten die Soldaten ihn nicht passieren lassen. "Da habe ich mein privates Oslo-Abkommen mit den Soldaten geschlossen!", lacht die 65-jährige Bäuerin mit dem traditionellen gestickten Gewand und den winzigen, wachen Augen. "Ich bin zu ihnen gegangen und habe gesagt: Ihr lasst Bassam die Auffahrt hinauf, und i
Die Soldaten schießen nicht auf Mädchen
FRAUEN IN DER INTIFADA Der Widerstand hat viele Gesichter. Ein Monopol der Männer ist er schon lange nicht mehr
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d ich verspreche dafür, dass er euch nicht angreift".Das war Latifas erstes Gespräch mit einem Israeli. Sie hat ihr Dörfchen Surda nahe Ramallah noch nie im Leben verlassen. Surda ist "Zone C", wie es in der Sprache des wirklichen Oslo-Abkommens heißt. Und das bedeutet: vollständige israelische Kontrolle, genau wie in insgesamt knapp über 50 Prozent des Westjordanlandes. "Das Wichtigste für mich ist", sagt Latifa, "dass wir unsere Felder ungehindert bestellen können". Von "großer Politik" mag sie nichts hören. Unterhalb ihres Hauses passiert eine Demonstrantenschar und protestiert gegen die Sperrung der Straße durch die Armee. Latifa fordert Bassam auf, den Demonstranten Wasser auszuschenken. "Gott wird es richten und die Besatzer eines Tages vertreiben!", sagt sie und nimmt einen Schluck Kaffee.Umm Jahja ist 35 Jahre alt und arbeitet als Kindergärtnerin in Ramallah. Heute, am "Tag des Bodens", an dem die Palästinenser an die israelische Landnahme erinnern und gegen den Bau von Siedlungen und Militärbasen demonstrieren, nimmt sie mit ihren beiden kleinen Kindern Jahja und Ghada an der großen Kundgebung teil. "Wir sind stärker als die Besatzer", erklärt sie entschlossen. Sie marschiert in einem Block mit etwa 50 verschleierten Frauen und schwenken grüne Flaggen der Hamas, auf denen das islamische Glaubensbekenntnis zu lesen ist. Als der Demonstrationszug sich dem israelischen Militärcheckpoint im Stadtteil Al-Birah nähert, spalten die Frauen sich ab und marschieren alleine weiter. "Zu gefährlich", sagt Umm Jahja, und deutet auf ihre Kinder. "Wir gehen stattdessen zur Mutter eines Märtyrers, um unser Beileid zu bekunden". "Das ist unsere Aufgabe als Frauen", ergänzt eine Mitstreiterin: "Wir helfen den Familien der Gefallenen und Verwundeten, das haben wir schon während der ersten Intifada getan"."Das ist mein Beitrag zur Intifada: Ich versuche, der gigantischen israelischen Propagandamaschinerie etwas entgegen zu setzen", erklärt Muna Tamimi, eine Englischdozentin an der Bir Zeit-Universität nahe Ramallah. Seit vor sechs Monaten die zweite Intifada ausbrach, hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, die internationale Presse auf unfaire und parteiische Berichterstattung hin zu überprüfen. Per e-mail koordiniert sie die Mitglieder ihrer Initiative, die Leserbriefe schreiben oder Gegendarstellungen verfassen.Muna Tamimi wohnt nur wenige hundert Meter vom Checkpoint von Al-Birah entfernt. Vergangene Woche schlug ein Artilleriegeschoss hinter ihrem Haus ein. "Die Intifada kann man nur verstehen, wenn man sich klar macht, dass sie aus einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Aktivitäten besteht: es gibt Frauen, die Steine werfen; Frauen, die Kranke pflegen; Frauen, die Politik machen, und Frauen, die jeden Tag mit weniger Geld ihre Familie ernähren müssen, weil ihre Ehemänner arbeitslos geworden sind", fährt sie fort. "Alle diese Frauen haben einen anderen Hintergrund. Einige sind in einem religiösen Umfeld aufgewachsen, andere gehören zur intellektuellen Oberschicht, wieder andere sind einfache Bäuerinnen."In einem sind sich alle einig: Die erste Intifada von 1987 bis 1993 war schwieriger für sie. "Die Soldaten waren ja damals in unseren Städten, sie haben durch unsere Haustüren in unsere Wohnzimmer geschossen", erklärt Umm Jahja. Damals schlugen Frauen auf Soldaten ein, warfen Steine von Balkonen, und gewährten Steinewerfern Unterschlupf. Bei der zweiten Intifada wird vor allem an den Checkpoints scharf geschossen. Nur vereinzelt findet man dort Frauen."Zugleich gibt es aber eine neue Sorge für uns", ergänzt Muna Tamimi: "Die nächtlichen Bombardierungen jagen den Kindern eine Höllenangst ein. Viele sind Bettnässer geworden, wollen nachts bei ihren Eltern schlafen". In Ramallah kursiert seit Monaten die Geschichte eines Jungen, den seine Eltern eines Tages in Frauenkleidern fanden. "Die Soldaten schießen nicht auf Mädchen", war seine Begründung.Und was ist mit den Kindern, die von ihren Müttern "an die Front geschickt" werden? Kindesmissbrauch hatte die schwedischen Königin Sylvia diese angebliche Praxis genannt und damit einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. "In Wahrheit versuchen wir alles, um unsere Kinder daran zu hindern, zu den Ausschreitungen zu gehen", stellt Umm Jahja richtig. "Sind Sie jemals mit Ihren Kindern allein in ihrem Haus gewesen, und haben mit angesehen, wie es von bewaffneten Soldaten gestürmt und auf den Kopf gestellt wird? Haben Sie jemals erlebt, wie Ihre Kinder des Nachts in Panik aufwachen, weil sie Schüsse und Bomben hören?", antwortete Sama Aweidah Liftawi vom Jerusalemer Zentrum für Frauenstudien der Monarchin in einem offenen Brief. "Ich bin sicher, das ist nicht der Fall. Sie wurden mit einem silbernen Löffel im Mund geboren. Ich verurteile Sie nicht. Sie können es ja nicht besser wissen!". Und tatsächlich: Immer wieder kann man sehen, wie Mütter ihre Söhne aus dem Pulk der Steinwerfer herauszerren und ihnen manchmal schon an Ort und Stelle den Hintern versohlen.Der Märtyrer, dessen Mutter die Frauen ihre Aufwartung machen, hieß Diya´ Tawil. Sein Bild ist in Ramallah an jeder Straßenecke zu sehen. Der zwanzigjährige Maschinenbaustudent sprengte sich am 27. März in Jerusalem in die Luft und verletzte dabei 30 Israelis. Als Umm Jahja und die anderen Frauen sich dem fahnen- und porträtgeschmückten Haus nähern, in dem die weibliche Verwandtschaft Beileidsbekundungen entgegen nimmt, lassen sie Sprechchöre erklingen: "Warte auf uns, O Diya´! Nimm uns mit ins Paradies!". In der Wohnung wird der traditionelle bittere Kaffee gereicht. Die Mutter des Toten sitzt mit versteinertem Gesicht auf ihrem Stuhl. Keine Spur von Hysterie. Stattdessen Stille. Die Frauen flüstern nur."Ich bin unendlich traurig", sagt Nida leise, die 22-jährige Schwester, und fügt hinzu: "Diya` war sehr mutig!". Sie seien einander sehr nahe gewesen, berichtet sie, "aber er hat keinem von seinem Plan erzählt." Geschichten machen die Runde: Drei Tage vor dem Anschlag soll Diya´ einen ganzen Tag lang in der Moschee beim Beten beobachtet worden sein. Freunde, die ihn nach dem Grund fragten, bekamen zu hören: "Das geht euch nichts an!". "Diya´ hat nicht an sich gedacht, sondern an uns alle", erklärt Nida, "er konnte nicht ertragen, wie wir leben müssen und wollte etwas daran ändern helfen".Fast 500 getötete Palästinenser seit Beginn des Aufstandes sind eine schwere Hypothek. Und, dass die Mehrheit aller Palästinenser unterhalb des Existenzminimums lebt, dass jeder einen Verwandten oder Bekannten in einem israelischen Gefängnis hat, dass die meisten ihre Verwandten wegen der Absperrungen seit Monaten nicht gesehen haben - all das hat die Fronten unendlich verhärtet. "Ein Märtyrer in der Familie macht die Familie stärker", sagt Umm Jahja trotzig und würde doch nie wollen, dass ihr Sohn dasselbe tut wie Diya´."Palästinensische Frauen sind nicht anders als Frauen irgendwo auf der Welt. Wir trauern genau so um unsere toten Kinder. Wir leiden genau so, wenn sie nicht auf der Straße spielen können, weil es zu gefährlich ist, oder die Schule ständig ausfällt, weil geschossen wird". Muna Tamimi hat fast 30 Jahre lang in verschiedenen Frauenorganisationen gewirkt. "Genau wie Frauen überall in der Welt kämpfen auch wir um Gleichberechtigung", sagt sie. "Natürlich wollen in dieser Gesellschaft viele, dass wir uns vornehmlich auf den privaten Bereich beschränken. Aber das ändert sich. Daran haben auch die beiden Aufstände einen Anteil, weil wir bewiesen haben, dass wir belastbar sind. Viele Männer sitzen zuhause und wissen nichts mit sich anzufangen. Sie bekommen Komplexe, werden depressiv. In solchen Situationen tragen Frauen die volle Last des Konfliktes allein", ergänzt sie."Ich muss noch zu einer anderen Trauerfeier", kündigt Umm Jahja auf dem Rückweg an. Bei der erneuten Bombardierung Ramallahs in der vergangenen Woche ist ihre Nachbarin Su´ad Teewi getötet worden. Zufällig, wie andere Frauen auch: Nada Srouji und Nada Hanani, beide über 50 Jahre alt, starben, weil sie wegen der Abriegelung ihrer Städte kein Krankenhaus erreichen konnten. Azeezeh Danoun, 56, wurde getötet, weil sie zufällig neben einem Auto stand, das von einem israelischen Helikopter beschossen wurde. Ebenso willkürlich starb die 43-jährige Ayda Fteiha. Auf dem Rückweg vom Markt, traf sie eine verirrte Kugel. Das 23 Tage alte Baby Hind und ein drei Jahre altes Mädchen erstickten an Tränengas. Je mehr sich solche Fälle häufen, desto eher sind Frauen bereit, auch aktiv an Demonstrationen teilzunehmen. Frauenorganisationen, die sich in der Vergangenheit auf Wohltätigkeitsarbeit beschränkt haben, rufen mittlerweile fast täglich zu gewaltfreien Märschen auf. "Wir sitzen vor dem Fernseher, und trinken Nescafé", schreibt Muna Hamzeh-Muhaisen in ihrem auf der Homepage einer Frauengewerkschaft veröffentlichten Tagebuch, "und ich beobachte den Gesichtsausdruck und die Gesten meines Nachbarjungen Firas. Ganz leise denke ich, dass ich mir genau einprägen sollte, wie er aussieht. Dann betrachte ich seinen Bruder Ibrahim, seine Mutter und frage mich, ob all diese Menschen, die mir so lieb sind, in den nächsten Tagen noch unter uns sein werden. Ob ich noch hier sein werde".
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