Kein Leben nach dem Feuer

Kamikaze Selbstmordatten­täter und illegale Emigranten wirken in ihrer rigorosen Todesverachtung wie Zwillinge. Doch ihre Rollen sind auf keinen Fall austauschbar

Wochen vor den Selbstmordattentaten von Casablanca im Mai 2003, bei dem es mehr als 40 Tote gab und über 100 Verletzte, veröffentlichte eine unabhängige Wochenzeitung 2003 einen Artikel mit dem provokanten Titel: Die neuen Kamikaze-Attentäter. Ganz anders, als die Überschrift erwarten ließ, ging es im Text aber nicht um Terrorismus, sondern um die Harragas (oder Verbrenner). So werden in Marokko die immer zahlreicher werdenden Illegalen genannt, die – um nicht mehr identifiziert werden zu können – ihre Papiere verbrennen, bevor sie die Überfahrt nach Europa versuchen. Seltsamerweise zögern heute manche unserer Journalisten nicht, wenn sie von Selbstmordattentätern sprechen, diese als neue Harragas oder Illegale zu bezeichnen. Heißt das, ihre Rollen sind austauschbar? Handelt es sich jenseits äußerlicher Unterschiede um ein und das selbe Phänomen? Müssen wir in den illegalen Emigranten Selbstmordkandidaten sehen und umgekehrt Selbstmordattentäter als Anwärter auf eine Auswanderung begreifen, die neue Horizonte ebenso anziehend finden wie ein neues Leben, so immateriell dieses auch sein mag?

Ich glaube das nicht. Um die einen von den anderen zu unterscheiden, achten wir zu wenig auf den radikalen, unumkehrbaren Aspekt des Feuers, dem wir die unbeständigen, vorübergehenden Eigenschaften des Wassers gegenüberstellen. Wasser fällt, fließt, verflüchtigt sich, trägt, transportiert und bringt etwas anderswo hin. Es ist Durchlass, Übergang, Werden. Der „Dammbruch“ kündigt die bevorstehende Geburt ebenso an, wie Wasser das Neugeborene begrüßt und ihm hilft, ein neuer Mensch zu werden. Dem Wasser, das auf Französisch weiblich ist – die Wasser also – haftet unstrittig etwas Mütterliches an. Außerdem klingen seltsamerweise die Worte mer (Meer) und mère (Mutter) auf Französisch exakt gleich. Wasser lässt Saatgut aufgehen, bringt Quellen zum Sprudeln und schenkt Leben.

Mit mir die Sintflut!

Im ursprünglichen wie übertragenen Wortsinn ist jener, der sich selbst ins Wasser schmeißt, bereit, zum Erreichen seines Zieles alle Hindernisse zu überwinden. Sein Entschluss steht. Nichts kann ihn zurückhalten. Er schaut direkt geradeaus und vermeidet es, sich umzudrehen. Indem er sich selbst ins Meer geworfen hat, ruft der Illegale nichts Geringeres als das Leben an. Er sucht nicht den Tod – nein, er ist alles andere als ein Selbstmörder. Er wählt das fließende Wasser, das sich stets erneuert und zu einem Anderswo führt, wo das Gras immer grün ist und üppiger wächst als am Ausgangsort. Um dort hin zu gelangen, schifft er sich auf dem Rücken des Meeres ein und stellt sich vor – das möge ihn ans Ziel tragen, so, wie ihn einst die eigene Mutter getragen hat. Er ist auf einem Boot, von Wasser umgeben und wider Willen mit seinen Brüdern im Schicksal eingepfercht – er kauert sich zusammen wie ein Fötus und hofft auf eine neue Geburt.

Mit dem Kamikaze-Flieger verhält es sich völlig anders. Indem er das Feuer wählt, beschwört er den schnellen und brutalen Tod herauf. Er braucht weder Boot noch Meer, um sich tragen zu lassen. Er ist ungeduldig und will die Etappen blitzschnell hinter sich bringen. Er lehnt lange Überfahrten ab. Sein Schicksal trägt er mit sich wie ein Monster mit rundem Bauch, das an seinem Ende angelangt ist und tötet. Trotzdem glaubt ein Selbstmordattentäter nicht, dass seine morbide Geste mehr tödliche Eigenschaften besitzt als das Leben selbst. Für ihn ist das Leben ein langer, langwieriger Weg der Zerstörung. Wenn er den beschreiten will, muss er eine Zelle nach der anderen sterben lassen oder auf einen tragischen Unfall setzen, an dessen Eintreffen er nicht mehr glaubt. Paradoxerweise hat der Selbstmordattentäter – und das unterscheidet ihn vom illegalen Emigranten – nichts gegen sein Leben einzuwenden. Er ist böse auf seinen Tod, der sich so viel Zeit lässt. Den Tod hasst er – so könnte man sagen – „bis auf den Tod“, denn er ist es, der ihn unendlich lange warten lässt.

In der Feuerprobe sucht der Selbstmordattentäter den schnellen, totalen Tod, der spurlos ist. „Alles, was sich schnell ändert, lässt sich durch das Feuer erklären“, lehrt uns Gaston Bachelard (s. A-Z, S. 32) Jenseits des antiken Mythos vom Vogel, der aus der eigenen Asche neu ersteht, ist die Transformation durch das Feuer radikal, vor allem unumkehrbar. Ein illegal Flüchtender, dem das Ertrinken droht, kann immer noch aus dem Wasser gefischt werden – ein Kamikaze kennt kein Leben nach dem Feuer.

Indem er sich für das Feuer entscheidet, wünscht der Selbstmordattentäter entstellt zu werden; er hofft, sein Gesicht möge er hinter sich lassen. Das ist paradoxerweise der Preis, durch den allein er Sichtbarkeit gewinnt (medialer und anderer Art). Er wird nicht mehr lokalisierbar sein. Ohne Grenzen, ohne Schranken wird er nirgendwo und überall zugleich sein. So wird er künftig die Gewissen belasten, denen er sich in gewaltsamer Weise aufgedrängt hat. Er – der ein Leben am Rande der Gesellschaft geführt hat – war für die Augen der Institutionen und sicher auch der Frauen unsichtbar. Muss ich den sexuellen Aspekt dieser Tat erwähnen? Rufen wir uns in Erinnerung: Die Psychoanalyse lehrt – Brandstiftung auf dem Felde ist fast immer auf die Krankheit eines Hirten zurückzuführen, der erschreckende Wünsche in sich trägt und das Feuer weitergeben möchte, das ihn ihm schwelt.

In einem Schwung todbringender Freigiebigkeit ist der Kamikaze – dieser entschlossene, seiner selbst sichere Fährmann – bereit, ohne Entgelt all jene mit auf seine Reise zu nehmen, die sich auf seinem Weg befinden. Seine Losung ist nicht Nach mir die Sintflut!, sondern Mit mir die Sintflut! Er engagiert sich für eine Mission, ruft sich selbst zum Retter aus und glaubt, das Recht zu haben auszuwählen, wer ihm folgen muss. Denn dieses Negativbild eines Noah trifft selbst den Entschluss, wer von den Männern, Frauen und Kindern zu seinen Erwählten zählen wird, die mit ihm im Feuer untergehen.

Im Gegensatz zum Illegalen, der sich ein besseres Leben erhofft und davon träumt, endlich aus der anonymen Masse hervorzutreten, möchte sich der Kamikaze seiner Hülle entledigen, die er für nichts als einen Schandfleck hält, für niederträchtige Materie. Er strebt danach, unsichtbar und immateriell zu sein. Er möchte sehen, ohne gesehen zu werden, und wünscht sich Macht über das Schicksal der Menschheit. Auf diese Weise ist bei ihm die erklärte Absicht vorhanden, an die Stelle der göttlichen Allmacht zu treten.

Durch seine mörderische Geste möchte der Selbstmordattentäter die Kräfte, die ihn an diese Welt binden, neu definieren. Nachdem man ihn misshandelt oder mindestens an seiner Statt gehandelt hat, nimmt er die Sache in die Hand und bewaffnet sich mit einer Tasche oder einem Gürtel voller Sprengstoff. Während eines kurzen, tragischen Augenblicks ist er am Ruder. Er hat die Macht, Bild und Ton unterbrechen zu lassen – sogar das Programm zu beenden. Er ist ungeduldig und spult schnell vor, so wie man einen Film vorspult, um rasch das Ende zu sehen. Den Kamikaze zeichnet dieses unwiderstehliche Bedürfnis aus, die Zeit zu beschleunigen, Etappen blitzschnell hinter sich zu lassen, das Leben einzuholen. Sobald er die Szenerie betreten hat, schwingt der Selbstmordattentäter nicht seine Gitarre, er hat ein am Ende ebenso hallendes Instrument, das er aber vor den Augen des Publikums verbirgt. Dieses Instrument wird es ihm erlauben – so denkt er zumindest – aus dem Schatten hervorzutreten und zu strahlen, ja sogar „die Schallmauer zu durchbrechen“.

Diese verzweifelten Pilger

Der Selbstmordattentäter befindet, dass er in der „durchschlagendsten“ aller Varianten wird sterben können. Für seine Interpretation der Todessinfonie braucht er keine Begleitung. Diese Einmann-Kapelle ist Funke und Brennstoff zugleich.

Aber kehren wir zu den Illegalen zurück. Ein Teil der Folgen dessen, was wir mitunter sogar ironisch den Arabischen Frühling nennen, ist auch das Anschwellen der illegalen Emigration. Seit der tunesischen Revolution zeigt uns der Fall Lampedusa mit seinen regelmäßigen Anlandungen von Boat people die Tragweite des Phänomens. Auch wenn es natürlich einen Unterschied gibt zwischen Selbstmordattentätern und Illegalen, so fühlt sich doch Europa von diesen verzweifelten Pilgern nicht weniger bedroht. An der Nordküste des Mittelmeeres versteht man bis heute nicht, warum Menschen, die ihr Blut für die Revolution gegeben haben, ihr umgehend den Rücken kehren und Würde und Wohlstand woanders suchen – im Grunde genau das, wofür sie zuhause gekämpft haben. Diese Frage führt zu dem Gedanken, dass diese Menschen im Moment ihrer Revolte das Modell einer Revolution vor Augen hatten, die ihre eigene, unvollendete, unerfüllte Revolution wie eine blasse Kopie ausschauen ließ. Es scheint so, als hätten die Illegalen – vor die Entscheidung zwischen Original und Kopie gestellt – ihre Wahl getroffen.


Youssouf Amine Elalamy
, 49, ist marokkanischer Schriftsteller und lebt in Rabat, zuletzt erschienen von ihm die Romane Nomade (2009) und Oussama, mon amour (2011)





Dieser Text ist Teil der Freitag-Sonderausgabe 9/11, die der Perspektive der arabisch-muslimischen Welt auf die Terroranschläge und ihre Folgen gewidmet ist. Durch einen Klick auf den Button gelangen Sie zum Editorial, das einen ausführlichen Einblick in das Projekt vermittelt. In den kommenden Tagen werden dort die weiteren Texte der Sonderausgabe verlinkt.

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