Das deutsch-italienische Anwerbeabkommen von 1955 war von schlimmen Erfahrungen italienischer Arbeitskräfte mit dem nationalsozialistischen Deutschland überschattet. Die NS-Führung hatte 1937 angesichts des Arbeitskräftemangels in der Rüstungsindustrie italienische Arbeiter ins Land geholt. Der Sturz Mussolinis im Jahr 1943 und der Übergang des italienischen Königs und Marschall Badoglios in das Lager der Alliierten wurde von der NS-Führung als "Verrat" empfunden und hatte zur Folge, dass die freien italienischen Arbeitskräfte zu Zwangsarbeitern gemacht wurden. Zusätzlich nahmen die Nationalsozialisten rund 725.000 italienische Kriegsgefangene und setzten sie als Militär-Internierte zur Zwangsarbeit ein. Schätzungsweise 40.000 bis
bis 50.000 italienische Soldaten kamen in deutscher Gefangenschaft um. Die furchtbare Behandlung der italienischen Militär-Internierten lag noch nicht so lang zurück, als in den fünfziger Jahren die ersten "Gastarbeiter" aus Italien in die Bundesrepublik kamen.Keine "echte" Arbeitslosigkeit mehrDas deutsch-italienische Anwerbeabkommen für Arbeitskräfte ging auf die expansive ökonomische Entwicklung Nachkriegsdeutschlands zurück. Insbesondere die Landwirtschaft, die Bauwirtschaft, der Bergbau und Industriezweige, die durch schwerste körperliche Arbeit geprägt waren, suchten früh ausländische Arbeitskräfte. Wirtschaftsminister Ludwig Erhard erklärte im November 1954, es gebe es keine "echte" Arbeitslosigkeit mehr. In Italien litten besonders die Regionen südlich von Rom unter hoher Erwerbslosigkeit und erschreckender Armut. Auf deutscher Seite hatte das Bundesarbeitsministerium trotz anfangs starker Bedenken die Federführung bei den Anwerbeverhandlungen übernommen. Es folgte der gewerkschaftlichen Warnung vor einem Lohndumping und vereinbarte die sozial- und tarifpolitische Gleichstellung der italienischen Arbeiter. Der Anwerbevertrag mit Italien werde, so lautete am Ende die Ansicht des Bundesarbeitsministeriums, den deutschen Beschäftigten erhebliche Vorteile bringen. "Die Hereinnahme ausländischer Arbeitnehmer" werde, so ein Vertreter des Ministeriums im November 1955, "dazu beitragen, deutsche Arbeitskräfte mit Hilfe von Fortbildungsmaßnahmen für eine qualifizierte Tätigkeit freizumachen." Das lief auf die Unterschichtung der deutschen Arbeiterschaft durch Ausländer hinaus.Die große Mehrheit der Migranten kam aus Süditalien. Bei der Suche nach den Auswanderungsmotiven stößt man auf das geflügelte Wort vom pezzo di pane, vom Stück Brot, für das man die Emigration auf sich nehmen müsse. Wer sich nicht mehr mit der Armut abfinden wollte, ging nach Deutschland, wie etwa der 1935 geborene Giovanni Giordano. Mit tiefer Erbitterung schildert er, der 1957 nach Deutschland kam, um wie sein älterer Bruder im Ruhrbergbau zu arbeiten, die Verhältnisse in seinem Dorf. Die Familie lebte in einem Raum, Wasser holte man vom Brunnen, und in heißen Sommern mussten sie manchmal fast ohne Wasser auskommen. Die Arbeit war unregelmäßig und schlecht bezahlt. Dem Padrone, dem Grundbesitzer, musste man als Kleinpächter die besten Teile der Ernte überlassen. Er erwartete dazu eine devote Haltung und Dankbarkeit. Giordano war froh, Süditalien verlassen zu können. Migration nach Deutschland hieß jedoch nicht, die Bindungen zum Geburtsort mit einem Schlage aufzugeben. Man reiste anfangs Jahr für Jahr für mehrere Wochen in das Heimatdorf. Obwohl die verkehrstechnischen Voraussetzungen für Reisen zwischen Italien und Deutschland immer besser wurden, lockerten sich im Laufe der Zeit die Beziehungen zwischen den süditalienischen Dorfgemeinschaften und ihren Emigranten. Ging es den meisten anfangs um einen Aufenthalt von wenigen Jahren, während der man ein Auto, eine Aussteuer erwerben und einen Hausanbau finanzieren wollte, wurde schließlich die avisierte Rückkehr immer weiter aufgeschoben, um beispielsweise die Ausbildungs- und Berufschancen der Kinder nicht zu gefährden. Jeder neuerliche Aufschub vertiefte unbewusst oder in bewusster Entscheidung die Eingewöhnung. Man wollte bald eine bessere Wohnung, Sprach- und Kontaktfähigkeit nahmen zu. Gleichzeitig wurde Deutschland immer "italienischer". Livia Martino aus Düsseldorf, 1953 im sizilianischen Trappeto geboren, gibt Beispiele: "Artischocken hat damals in Deutschland kein Mensch gekannt. Aber heute kriegt man hier alles. Es gibt viele italienische Lokale..." Die Migranten entwickelten Identitäten, die keine schiere Addition "italienischer" und "deutscher" Anteile waren, sondern in der variantenreichen Kombination ein neues Selbstverständnis und neue Träume schufen. "Das Meer ist bei uns im Dorf so schön", schwärmt Livia Martino und lacht, "sehr, sehr schön. Das vermiss´ ich sehr. Düsseldorf und das Meer, das wär´ wirklich Perfektion." Den Migranten sind beide Gesellschaften, jene der Herkunft wie jene der Emigration, eigen und fremd zugleich.Rückkehr-Mythos Der italienischen Arbeitsmigration kam eine Vorreiterrolle für die bundesdeutsche Anwerbepolitik zu. Diese Rolle war durch die EWG-Mitgliedschaft Italiens, die enge Bindung der deutschen katholischen Kirche an die römische Kurie sowie durch einen schwärmerisch geprägten touristischen Blick auf Italien beeinflusst, der in der westdeutschen Bevölkerung ein gewisses Gegengewicht gegen fremdenfeindliche Klischees bildete. Von der Politik wurden die möglichen gesellschaftlichen Folgen der Arbeitsmigration jedoch weder beim Abschluss des Anwerbevertrages mit Italien noch in der Phase wachsender Zuwanderung aus anderen Ländern gründlich genug erwogen.Die bundesdeutsche Politik sah in den Arbeitsmigranten primär eine industrielle Reservearmee. Deren Steuern und Sozialabgaben nahm man gerne entgegen, während man einen Familiennachzug und die damit verbundenen Ausgaben für Bildung und Wohnungsbau nur langsam akzeptierte. Die deutsche Ausländerpolitik ging davon aus, dass die Bundesrepublik kein Einwanderungsland sei, und war vor allem durch die Hoffnung bestimmt, dass die Angeworbenen im Falle einer Wirtschaftskrise in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden. In diesem entscheidenden Punkt ergaben sich Korrespondenzen zwischen deutscher Politik und dem Selbstverständnis der betroffenen Italiener. Auch jene Hunderttausende Italiener, die dauerhaft in Deutschland blieben, gingen lange Zeit von einer künftigen Rückwanderung aus. Insofern beschränkte sich der Mythos einer Rückkehr nicht auf die deutsche Politik. Der von der Politik jahrzehntelang konservierte Rückkehr-Mythos hat der Integration der Einwanderer Grenzen gesetzt. Anders als die Arbeitsmigranten aus den übrigen Anwerbestaaten waren die Italiener als Angehörige eines EWG-Mitgliedslandes allerdings nicht vom 1973 beschlossenen Anwerbestopp betroffen. Ohnehin hat dieser Anwerbestopp ironischerweise die angestrebte Reduzierung der Ausländerzahlen völlig verfehlt: Die Arbeitsmigranten erkannten, dass sie nicht mehr würden wiederkommen können, wenn sie das Land nun verlassen würden. Sie blieben nicht nur, sondern holten jetzt in verstärktem Maße ihre Familien nach.Die Hochphase der Arbeitsmigration fand unter sehr günstigen wirtschaftlichen Bedingungen statt. Vor allem dadurch wurden bei weitem nicht alle, aber doch große Gruppen der Arbeitsmigranten in die deutsche Gesellschaft eingebunden. Doch gleichzeitig hat das jahrelange Fehlen einer Integrationspolitik dazu geführt, dass es nach wie vor eine unzureichende politische Teilhabe der Einwanderer gibt und in Schule, Ausbildung und Beruf Migranten - seien sie aus Italien, der Türkei oder "Spätaussiedler" aus Osteuropa - mit dramatischen Problemen konfrontiert sind. Sieht man von den italienischen Selbstständigen in der Gastronomie und anderswo ab, werden ausländische und mit ihnen die italienischen Arbeitnehmer nach wie vor weit häufiger als Deutsche als Un- und Angelernte beschäftigt. In den Angestelltenberufen sind sie dagegen wenig vertreten und der Öffentliche Dienst bleibt ihnen bisher fast ganz verschlossen. Migranten und mit ihnen die Mehrheit der Italiener finden nach wie vor am ehesten Beschäftigung in Berufen mit körperlicher Schwerarbeit, hohen Lärm- und Emissionsbelastungen und in schlecht bezahlten Dienstleistungsberufen wie Putz- und Reinigungsdiensten.Dr. Yvonne Rieker ist Autorin des Buches "Ein Stück Heimat findet man ja immer." Die italienische Einwanderung in die Bundesrepublik, Klartext Verlag, Essen, 2003
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