Blick zurück

Curatorial Eine Bestandsaufnahme tut not – und die Schau im Kunstmuseum Wolfsburg wählt dafür einen Blickpunkt in weiter Ferne: Wie würde die Epoche aus einer fernen Zukunft aussehen? Was würde eine Archäologie unserer Gegenwart liefern?
„OR-BIT 1“ (2016), Kinetische Skulptur | Monira Al Qadiri
„OR-BIT 1“ (2016), Kinetische Skulptur | Monira Al Qadiri

Foto: Monira Al Qadiri Courtesy die Künstlerin | Stefan Altenburger

Aus der fiktiven Distanz möglicher Zukünfte fragt die Ausstellung und ihre Macher, was typisch war an dieser Zeit, was großartig und schön, was hässlich und furchtbar, und wie sich all das in Kunst und Kultur widerspiegelt.

Auf drei Arten ist Erdöl explizit in der Kunst präsent. Erdöl ist unmittelbares Material der Kunst, als Bitumen, Rohöl oder Plastik. Zum Zweiten liefert Öl den Gegenstand der Kunst, es prägt unsere Lebenswelten und Gesellschaften: Städte, Straßen, Autos, Fliegen, Krieg, Arbeitswelten des Öls, ebenso wie Infrastrukturen und ökologische und politische Verheerungen. Und zum Dritten gibt es Kunst durch das Erdöl: künstlerische Produktionen oder Sammlungen, die von Akteuren in der Erdölindustrie im weiteren und engeren Sinn beauftragt oder unterstützt wurden.

Die Kunst der Moderne hat sich auf vielfältige Weise mit der fossilen Grund­lage der Epoche auseinandergesetzt: Schon die Futuristen feiern den Motor als Grundlage eine neuen Ästhetik, Malewitschs Schwarzes Quadrat (1915) wurde erstmals für eine Oper 1915 zum Sieg der Kohle über die Sonne gemalt. Und Picassos Guernica (1937) stellt den Schrecken des Luftkriegs aus. Eine Kunst, die sich nicht direkt oder indirekt mit einer vom Erdöl geprägten Lebenswelt befasst, hat es im 20. Jahrhundert kaum gegeben.

Was ist Erdöl und wie wird es genutzt?

Erdöl ist ein flüssiges Gemisch aus abertausenden unterschiedlichen Molekülen, aus Kohlenwasserstoffen und aus deren Verbindungen mit weiteren, chemischen Elementen, etwa mit Sauerstoff, Stickstoff oder Schwefel. Dies bedeutet eine enorm hohe Energiedichte: In einem Kilo Benzin ist rund zehnmal so viel Energie enthalten wie in der gleichen Menge Dynamit. Die Grundsubstanz für Erdöl bildet fossile Biomasse, etwa aus Algen. In ihnen ist fossile Sonnenenergie gespeichert. Was heute als Erdöl gefördert werden kann, ist das Ergebnis eines kaum vorstellbar langsamen, biogeochemischen Prozesses enormer Verdichtung und Selektion.

Upstream –
Midstream –
Downstream –

Die Erdölindustrie unterscheidet die beteiligen Wissenschaften und Techniken in einzelne Bereiche: Upstream umfasst das Erschließen, Anbohren und Fördern von Öl. Midstream bezeichnet das Verteilen etwa in Pipelines oder Tankschiffen. Unter Downstream versteht man das Verarbeiten des Rohstoffs in Raffinerien und den Vertrieb.

Die Architektur der Ausstellung

Autos und Flugzeuge, weltweit verschaltete, immer schneller getaktete Produktionszyklen, vielfältige Formen der Beschleunigung gehören zu den Grunderfahrungen der Petromoderne. Eine zentrale Achse der Mobilisierung bildet daher das Kernstück der Ausstellung Oil. Schönheit und Schrecken des Erdölzeitalters. Wie eine Startbahn verbindet sie das Molekulare und das Planetare, die Energie aus der Tiefe und den Flug zu den Sternen. Kunstdünger gehören an zentraler Stelle zur Petromoderne. Die Chemie der Düngemittel ist ab 1910 ein entscheidender Meilenstein auf dem Weg zur Petrochemie und zur molekularen Mobilisierung des Planeten.

Erdöl steht für beispiellosen Wohlstand und gleichzeitig für die Schrecken des Krieges und der Vernichtung. Es ist zugleich toxisch und Grundlage der modernen Pharmazie und Kunstdüngerindustrie. Seine Nutzung erzeugt Wegwerfartikel und Wissen über die Frühgeschichte des Lebens auf der Erde. Es stützt Diktaturen, aber auch beispiellos vielfältige Subkulturen. Es ist Mittel der Ermächtigung und Emanzipation ebenso wie der Unterdrückung und Ungerechtigkeit.
Erdöl steht für Schönheit und Schrecken zugleich.

Diese Widersprüche nicht einzuebnen, sondern als Kennzeichen der Epoche zu interpretieren, geschieht im Kunstmuseum Wolfsburg im Kabinett der Ambivalenzen. Am Eingang der Ausstellung sind dichte Schaustücke aus Kunst und Kulturgeschichte versammelt, aus Zeitgeschichte und Naturgeschichte, in denen sich exemplarische Ambivalenzen überlagern.

Ölgeld

Kunst ist immer auch Teil der Ökonomie. Um Kunst zu machen, müssen Überschüsse zunächst erwirtschaftet werden. In der Petromoderne ist Ölgeld eine zentrale Grundlage künstlerischer Produktion. Und diese nicht selten problematische und korrumpierende Verstrickung ist selbst Thema der Kunst: Dass fast alle Biennalen, Ausstellungen, Stipendien direkt oder indirekt petromodern finanziert waren, ist in einer Retrospektive auf die Kunst der Petromoderne immer mitzudenken.

Zum ausführlichen Curatorial zu „Oil. Schönheit und Schrecken des Erdölzeitalters“ im Kunstmuseum Wolfsburg.

27.10.2021, 19:22

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