„Unsere Ausstellung zeigt, dass es keine chronologisch gleichförmig positive historische Entwicklung von Staatsbürgerschaft hin zu jeweils offeneren und diskriminierungsfreieren Formen oder auch zu mehr transnationaler Durchlässigkeit gibt. Vielleicht könnte man sagen, es gibt so etwas wie eine Tendenz hin zu mehr Offenheit, weg von verschiedenen Formen von Diskriminierung. Aber diese ist immer fragil. Sie weist Brüche und Abgründe auf, wie etwa der Entzug von Staatsbürgerrechten belegt. In der Ausstellung wird besonders deutlich, welcher Gewinn daraus entstehen kann, wenn wir es schaffen, die Geschichte von Staatsbürgerschaften jenseits ihrer emotionalen und nationalen Aufladungen zu begreifen.“ – Raphael Gross, Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum
Dazugehören – oder nicht? Diese Frage löst starke, auch widerstreitende Gefühle aus. Sie kann von existenzieller Bedeutung sein. Die Staatsbürgerschaft bündelt als Gegenstand von Kämpfen um politische Mitbestimmung und staatliche Fürsorge viele dieser Gefühle. Der Pass garantiert den Bürgerinnen und Bürgern eines Staates grund- legende Rechte und verweist darauf, wer „dazugehört“. Als ein Rechtsstatus stiftet die Staatsbürgerschaft nationale und politische Gemeinschaft, aber sie markiert auch einen Vorrang gegenüber denen, die außerhalb dieser Gemeinschaft stehen.
Ihr ein- und zugleich ausschließender Charakter wird besonders in Zeiten von Krisen und Kriegen deutlich. Dass die Unionsbürgerschaft der EU keineswegs die nationalen Staatsbürgerschaften abgelöst hat, haben zuletzt die politischen Reaktionen auf die Corona-Pandemie oder das Brexit-Referendum gezeigt: Die aktuellen Tendenzen zur Renationalisierung innerhalb der EU beeinflussen erkennbar die nationalpolitischen Abschottungs-, Einbürgerungs- und Wanderungsdynamiken.
Mit seiner neuen Ausstellung „Staatsbürgerschaften. Frankreich, Polen, Deutschland seit 1789“ thematisiert das Deutsche Historische Museum den Bedeutungswandel und die Mobilisierungskraft von Staatsbürgerschaft vom „langen“ 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart: Entscheidend für ihre Herausbildung war die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789.
Sie schuf den citoyen – den Staatsbürger – und bestimmte, welche Rechte und Pflichten mit dieser neuen Rolle einhergingen. In der Folge stieg die Staatsbürgerschaft zur dominanten Form politischer Zugehörigkeit im Zeitalter des Nationalstaats auf, wurde von Diktaturen als Mittel ethnischer und politischer Selektion eingesetzt und nimmt in der Unionsbürgerschaft der supranationalen EU neue Gestalt an. Die Staatsbürgerschaft wurde somit zum zentralen Instrument der Verteilung von Lebens- und auch Überlebenschancen in den europäischen Staaten des 19. und 20. Jahrhunderts.
Im Fokus der Ausstellung stehen drei Länder Europas – Frankreich, Polen und Deutschland –, die als Nachbarstaaten durch gewaltsame Auseinandersetzungen in Gestalt von Besetzung und Vertreibung sowie politische Kooperation eng miteinander verflochten waren und sind. Der Blick auf zwei Jahrhunderte geteilter Geschichte zeigt, wie stark die Konzepte und Praktiken der Staatsbürgerschaft nicht nur die politischen Beziehungen zwischen den drei Nachbarn abbilden, sondern diese in Abhängigkeit von politisch-sozialen Konstellationen und Interessen maßgeblich mitbestimmen.