Aufklärung und Genuss

Leseprobe "Franz Keller hat bei vielen Gesprächen mit Fachleuten festgestellt: Die Bevölkerung ist bereit für eine Agrar- und Lebensmittelwende, doch die Politik wird von den starken Lobbyinteressen ausgebremst."
Aufklärung und Genuss

Foto: Ore Huiying/Getty Images

Wir brauchen dringend eine echte Agrar- und Ernährungswende

Ex-Sternekoch und Buchautor Franz Keller hat bei vielen Gesprächen mit Erzeugern, Experten und Medizinern festgestellt: Die Bevölkerung ist bereit für eine Agrar- und Lebensmittelwende, doch die Politik wird von den starken Lobbyinteressen ausgebremst.

Ich frage mich oft, was eigentlich noch passieren muss, bis wir begreifen, was für uns auf dem Spiel steht. Wochenlang haben wir auf das apokalyptische Inferno in Australien geschaut, wo gerade schätzungsweise mehr als eine Milliarde Tiere verbrannt sind. Wir lesen, dass die Ozeane noch nie so warm waren wie heute. Wir hören Warnungen wie die des BUND, der in naher Zukunft Ernteausfälle von bis zu 90 Prozent befürchtet, wenn wir das Insektensterben nicht in den Griff kriegen. Und was machen wir? Wir diskutieren gerade darüber, ob wir in der Landwirtschaft neben den Äckern drei Meter breite Schutzstreifen für unsere Insekten einrichten können. Sorry, aber das ist doch wirklich noch weniger als ein Schamtuch. Ein Viertel aller Säugetiere ist in der Existenz bedroht und kämpft derzeit ums Überleben. Nur haben wir vergessen, dass wir auch zu dieser Gattung gehören, und sägen munter weiter an dem Ast, auf dem wir selbst sitzen.

Es ist höchste Zeit für einen echten Richtungswechsel. Das völlig überholte Brüsseler Subventionsmodell fördert nach wie vor die Tendenz zu immer größeren Betrieben und ruft in jüngster Zeit auch immer mehr Finanzinvestoren auf den Plan, die im großen Stil Ackerland aufkaufen, um dafür Subventionen zu kassieren. Das Nachsehen bei diesem kranken und korrupten Spiel haben dann genau die verantwortungsbewussten Landwirte, die womöglich gerne auf Bio umstellen würden. Was wir also tun müssen, liegt auf der Hand. Wir könnten der Landwirtschaft sagen, ihr werdet mit viel Geld subventioniert, aber jetzt fördern wir nur noch den Umwelt-, Klima- und Gesundheitsschutz, also gute Qualität und keine Massenprodukte.

In Deutschland werden heute in jedem Jahr rund 60 Millionen Schweine produziert und geschlachtet, 630 Millionen Hühner und rund 3,5 Millionen Rinder. Auf der anderen Seite haben Lebensmittelindustrie und -handel in einem mörderischen und globalen Wettbewerb die Preise immer tiefer gedrückt. Diese auch politisch gewollte Entwicklung hat nicht nur das Produkt Nahrungsmittel völlig entwertet, sondern auch die Arbeit und das Ansehen der Landwirte. Jetzt, wo die Folgen dieser falschen Entwicklung vom Insektensterben über das Gülleproblem bis zu den gesundheitlichen Folgen dramatisch sichtbar werden, fühlen sich die Landwirte, die plötzlich als große Naturzerstörer dastehen, im Stich gelassen, weil man ihnen mit immer neuen Auflagen das ohnehin schon knapp kalkulierte Leben schwer macht. Das kann ich sogar verstehen, weil es eben für einen wirklichen Systemwechsel nicht reicht, an einzelnen Stellschrauben zu drehen.

Was mir in der öffentlichen Debatte fehlt, sind ein konkreter Plan und ein positives Bild, wie diese notwendige Agrar- und Ernährungswende aussehen und gelingen kann, damit wir alle davon profitieren. Es reicht eben nicht, wenn die Landwirtschaftsministerin den Leuten sagt, ihr zahlt doch so viel Kohle für eure Smartphones, dann könnt ihr auch mehr Geld für euer Fleisch ausgeben. So kommt bei den Leuten nur an, dass sie mehr bezahlen sollen – am Ende für den gleichen Dreck aus der Mastfabrik? Wie will man denn so die Lust in der Gesellschaft wecken, ein paar neue Wege zu gehen? Bei mir auf dem Falkenhof gelingt das in der Regel ganz einfach. Meine Gäste und Besucher sehen, wie meine Rinder und Schweine leben, und sie schmecken an meinem Tisch den Unterschied. Es ist eine sinnliche Erfahrung. Ich leiste bei meinen Gästen Aufklärungsarbeit durch Genuss.

28.05.2020, 18:10

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