„In vier Schritten zum Feministen“

Leseprobe Radikal ehrlich: Kurz und bündig arbeitet das Autor*innenteam heraus, wie Männer zu Feministen werden können. Denn wo Männer den Einsatz für Gleichberechtigung zu ihrer eigenen Sache machen, profitieren alle Geschlechter von einer gerechteren Welt...
Ein erster Schritt: Gerechte Aufteilung von Mental Load und Care Arbeit
Ein erster Schritt: Gerechte Aufteilung von Mental Load und Care Arbeit

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Wer wir sind

Zunächst einmal: Wer ist dieses »wir«, das mit dir spricht?
Wir sind eine Gruppe von sieben Personen – Redner:innen, Forscher:innen, Aktivist:innen, Studierende, Mentor:innen, Autor:innen, Berater:innen und/oder Moderator:innen –, und unsere Wurzeln sind in Deutschland, England, Finnland, Schottland und den USA.
Dieses Buch wurde von uns sieben zwischen Januar 2020 und dem Frühjahr 2022 als gemeinsames Projekt geschrieben. Der Text, den du in Händen hältst, baut auf einer ersten Diskussion auf, die wir in einer größeren Gruppe während eines von der Friedrich-Ebert-Stiftung veranstalteten und unterstützten WochenendWorkshops in Berlin über Männer und Feminismus geführt haben.

Als Coautor:innen dieses Projekts bringen wir eine Reihe von Perspektiven mit ein. Einige von uns beschäftigen sich beruflich mit Fragen zu Sexismus und Geschlechtergleichstellung, andere interessieren sich eher persönlich und politisch für das Thema. Einige von uns sind in der Stadt aufgewachsen, andere auf dem Land. Einige von uns kommen aus der Arbeiterklasse, andere eher aus der Mittelschicht. Einige von uns bewegen sich in akademischen Kreisen, andere in einem eher praktischen oder unternehmerischen Umfeld. Wir sind zwischen Anfang 20 und Mitte 30 Jahre alt, junge Eltern, alleinstehend, verheiratet, homosexuell, bisexuell, heterosexuell ... und wir sind uns einig, dass solche Bezeichnungen die wahre, bunte Vielfalt des Lebens kaum widerspiegeln.

In diesem Sinne möchten wir gleich zu Beginn unserer gemeinsamen Reise betonen, dass unsere Perspektiven in erster Linie genau das sind: Perspektiven. Wir erheben nicht den Anspruch, alle Antworten auf die in diesem Text aufgeworfenen Fragen zu kennen, und wir glauben auch nicht, dass dieser Text in irgendeiner Weise erschöpfend ist. Als eine Gruppe weißer Cisgender-Frauen und -Männer, die keine Behinderung haben und in Europa und Nordamerika leben, sind unsere persönlichen Erfahrungen mit sich überschneidenden Identitäten und Diskriminierung letztlich begrenzt. Deshalb haben wir uns bemüht, sicherzustellen, dass die Hinweise und Ressourcen, die wir dir auf diesen Seiten bieten, auf Erfahrungen und Erkenntnissen beruhen, die wesentlich vielfältiger als unsere eigenen sind.

Stattdessen möchten wir dieses Buch als einen Ausgangspunkt betrachten, der all jenen die Tür öffnet, die mehr über ihre Rolle in einer gerechten und mitfühlenden Welt wissen möchten. Wir hoffen auch, dass unser Text zu interessanten, zum Nachdenken anregenden und produktiven Gesprächen führt! Wir würden uns freuen, wenn wir gemeinsam die Reise des Zuhörens, Lernens und Nachdenkens fortsetzen und zu proaktiveren Akteur:innen des Wandels werden könnten.

Unsere Geschichten

Um uns dem Thema Feminismus aus einer persönlichen Perspektive anzunähern, möchten wir dir unsere eigenen Geschichten erzählen; wie wir uns im Laufe unseres bisherigen Lebens mit Geschlechterungleichheit und dem Patriarchat auseinandergesetzt haben und selbst zu Feminist:innen wurden. Einige von uns haben den Feminismus in ihren frühen Teenagerjahren entdeckt, andere erst kürzlich; manche durch Zufall, andere ganz bewusst; für einige geht es darum, wie wir uns zu Hause verhalten, für andere geht es um politische Bewegungen.

Die Themen, die wir in unseren Geschichten anschneiden, werden alle – mehr oder weniger – im Laufe des Gesamttextes zur Sprache kommen, daher können sie als eine Art (inoffizielle) Einführung in den Feminismus gelesen werden, die auf unseren Erfahrungen basiert.

MARTIN (er/ihn/ihm): Die Themen Geschlechtergerechtigkeit und Feminismus betraten relativ spät die Bühne meines Lebens. Es war in meinen späten Zwanzigern. Mir ging es so wie sicherlich vielen Männern: Auch wenn ich über die Familie, Medien und Freundinnen hier und da Bezugspunkte zu diesen Fragen hatte, so verstand ich lange nicht, was meine Rolle darin ist – sowohl mit Blick auf mein persönliches Verhalten als auch auf die größeren strukturellen Zusammenhänge. Ich dachte lange, Feminismus sei reine Frauensache und gehe mich nichts an.

Ich bin im ländlichen Raum in Bayern aufgewachsen, in einem Umfeld, in dem Rollen immer noch relativ klassisch zwischen den Geschlechtern verteilt waren oder kulturell erwartet wurden. Als Kind, Jugendlicher und später junger Mann kopierte und adaptierte ich vielfach unbewusst diese Muster. Sie machten mich zu einem, wie ich heute sagen würde, »unbewussten Sexisten«. In meiner Rollenerwartung musste ein Mann stark sein, durfte Schwächen nicht zu offen zeigen und musste sich von allem abgrenzen, was zu weiblich wirkte. Ich ging in den Schützenverein, machte sexistische Witze und nahm nur halb ernst, was Frauen sagten. Dazu kam, dass ich früh spürte, dass ich mich eher von Männern als von Frauen angezogen fühlte. Das verstärkte meine sexistischen Verhaltensund Denkmuster eher noch, denn wie sicherlich alle Männer wissen, ist es mit das Schlimmste, auf dem Schulhof als »schwul« bezeichnet zu werden.

Über die Jahre hinweg merkte ich, wie destruktiv und sogar toxisch mein Verhalten war. Es tat mir gesundheitlich wie auch psychisch nicht gut, ebenso wenig wie den Frauen in meiner Umgebung. Erst als ich mich dafür öffnete, mit Freundinnen und Freunden, mit der Familie und meinem Umfeld offen über Rollenbilder, Erwartungen, Geschlechtergerechtigkeit zu sprechen, konnte ich mich selbst besser kennenlernen – und mich damit schrittweise auch von meinem verinnerlichten Sexismus distanzieren. Ein Weg, der bis heute andauert und heilsam ist. Wir alle sollten die Chance haben, unabhängig von unserem Geschlecht oder unserer Orientierung zu sein, wer wir sind, gleiche Rechte und Möglichkeiten haben. Unsere starren Rollenbilder und Strukturen, unsere Angst steht uns dabei oft im Weg. Wir müssen und können sie überwinden. Eine feministische Zukunft ermöglicht uns genau das.

AILEEN (sie/ihr): Als Teenager habe ich gern gelesen. Ich verschlang die Bücher und Geschichten, die unsere Lehrerinnen und Lehrer uns gaben – Helden, Legenden, Abenteuer –, das war meine Art, etwas über meine Umwelt und das Leben zu lernen. Ich erfuhr von den Jakobiten: wie die Männer sich versammelten, um über Politik zu reden, die Soldaten der britischen Regierung zu bekämpfen und zu sterben. Ich lernte, wie fischreich die schottischen Meere sind, wie stark der Wellengang ist und wie die Männer mit ihren Booten hinausfahren, um den Fang einzuholen. Ich lernte, wie man sich von der Kunst inspirieren lassen kann: wie Männer in Glasgow und Edinburgh, Paris und New York seit Jahrhunderten großartige Werke schaffen und uns alle lehren, wie man malt.

Doch je mehr ich las und je mehr ich lernte, desto mehr fiel mir auf, dass etwas – oder besser: jemand – fehlte: Frauen. Nachdem ich gemerkt hatte, dass sie nicht vorhanden waren, veränderte sich mein Leben von Grund auf. Ich begann, mir gewisse Fragen zu stellen. Gab es keine weiblichen Jakobiten? Was haben die Frauen gemacht, während die Männer draußen auf dem Meer waren? Gab es keine weiblichen Künstlerinnen? Meine Lehrerinnen und Lehrer gaben mir keine zufriedenstellenden Antworten, und ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob ich damals die richtigen Worte gefunden habe, um die richtigen Fragen zu stellen. Dennoch lagen diese Gedanken meinem feministischen Erwachen zugrunde.

Für mich persönlich geht es im Feminismus inzwischen um drei Dinge.

Fragen und Antworten: Ich habe Jahre gebraucht, um passende Antworten auf die Fragen zu finden, die ich als Jugendliche stellte, und in der Zwischenzeit sind mir unzählige weitere eingefallen. Was ist gerecht, wer wird ausgeschlossen, wie kann unser Leben inklusiver werden? Der Feminismus hilft mir dabei, Antworten zu finden.

Materieller sozialer Wandel zum Besseren: In meiner idealen feministischen Welt haben wir alle ein sicheres Zuhause, gesundes Essen, glückliche Beziehungen und ein erfüllendes Alltagsleben. Meine feministische Politik hilft mir, meinen Platz bei der Schaffung dieser Realitäten zu finden.

Solidarität: Der Feminismus hat mich gelehrt, dass gegenseitige Hilfe und der Einsatz füreinander die mächtigsten Werkzeuge sind, die wir Menschen besitzen.

AMY (sie/ihr): Schon auf dem College habe ich mich als überzeugte Feministin betrachtet. In einem Soziologiekurs erklärte mir ein Professor, dass Feminismus im Wesentlichen bedeute, an die Gleichheit der Geschlechter zu glauben. Auch wenn das vielleicht nach einer zu starken Vereinfachung klingt, wurde der Feminismus – den ich früher für einen eher linken Begriff hielt – für mich zugänglicher, denn ich glaube in der Tat, dass die Geschlechter gleichberechtigt sein sollten. Mein eigener Feminismus wurde jedoch erst in Kombination mit etwas anderem wirklich lebendig – dem Gedanken des »peacebuilding«, also der Friedenskonsolidierung.

Als ich das erste Mal auf dieses Konzept stieß (2011 in einer Ausgabe des Christian Science Monitor), war ich beeindruckt von der Idee, dass Frieden im Grunde genommen geschaffen werden kann, dass man aktiv darauf hinarbeiten kann und er nicht nur eine Wunschvorstellung bleiben muss. Als ich den Gedanken weiterverfolgte, entdeckte ich mehr darüber, wie Friedenslösungen (d. h. Friedensabkommen) zustande kommen, und ich war fassungslos, dass Frauen – historisch gesehen und in modernen Konfliktkontexten – in den meisten Fällen aus den Verhandlungsräumen ausgeschlossen werden und dass Frauengruppen, die sich für den Frieden einsetzen, ausgegrenzt werden oder sich den Zugang erzwingen müssen. Wie können Friedensergebnisse Bestand haben, wenn die Hälfte der Bevölkerung von vornherein nicht mit einbezogen wird?

Mein Feminismus ist aus einer pragmatischen Berufung heraus entstanden, die ich seit zehn Jahren verfolge, um genau darauf hinzuarbeiten: dass Frauen einbezogen werden, damit der Frieden Bestand hat. Denn wenn wir in einer friedlicheren Welt leben wollen, dürfen wir die Frauen nicht ausgrenzen.

MIRIAM (sie/ihr): Ich würde sagen, dass ich bis Anfang 20 politisch eher uninteressiert war. In den Medien nur weiße männliche Politiker zu sehen hat mich abgeschreckt – und mir das Gefühl gegeben, dass politische Themen nichts mit mir als junge Frau zu tun hatten. Dann besuchte ich an einem regnerischen Tag im November 2018 die Ausstellung »200 Frauen«. Inspiriert von dem Zitat von Gloria Steinem »Man kann Frauen nicht stärken, ohne sich ihre Geschichten anzuhören«, wurden ganz unterschiedliche Frauen porträtiert. Ihre persönlichen Geschichten zu lesen hat mich tief berührt und zum Nachdenken gebracht: Warum werden ihre Stimmen in der Öffentlichkeit nur selten gehört? Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass die Stimmen der Frauen überall fehlten, nicht nur im politischen Kontext, sondern auch in der Art und Weise, wie ihre Lebensgeschichten erzählt wurden. In mir wuchs der Wunsch, weibliche Vorbilder zu haben, zu denen wir aufschauen können.

Aber es war nicht nur die fehlende Repräsentation, die für mich plötzlich deutlich wurde, sondern mehr noch das fehlende Zuhören. Jede Frau hat eine Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden, aber es wird ihr einfach kein Rahmen geboten, und es wird ihr nicht aktiv zugehört. Zu Beginn meiner Ausbildung als Designerin und User Researcherin wollte ich lernen, wie man bei Interviews mehr in die Tiefe gehen kann. Ohne groß darüber nachzudenken, sprang ich ins kalte Wasser und fragte Politikerinnen und Aktivistinnen, ob sie bereit wären, sich mit mir zu einem Interview zu treffen. Zu meiner Überraschung antworteten alle auf eine sehr zugängliche, persönliche Art und Weise. Voller Aufregung machte ich mich am nächsten Tag sofort auf den Weg, um ein Mikrofon zu kaufen. Auf diese Weise wurde nicht nur die Basis für meinen Podcast 100 Frauen* geschaffen, sondern ich bin dadurch auch zur Feministin geworden. Für mich bedeutet Feminismus genau das: Frauen sichtbar zu machen, ihre Geschichten mitzuteilen und ihren unterschiedlichen Stimmen Gehör zu verschaffen, ob in einer privaten Runde, an einem Sitzungstisch oder auf einer politischen Bühne.

ROBERT (er/ihn/ihm): Als ich nach dem langen Studium, in dem es immer nur um einzureichende Matheaufgaben und die Prüfungen am Anfang und Ende des Semesters ging, zu mir kam, wurde mir bewusst, was in der Welt vor sich ging. Es war die Zeit, als Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde. Nicht nur damit, sondern auch mit vielen anderen Dingen war ich nicht einverstanden. Ich wurde politisch aktiv, nicht zuletzt aus meiner persönlichen Erfahrung heraus, privilegiert zu sein. Daher rührt meine Motivation, mich politisch zu engagieren, in der Überzeugung, dass jedes Kind, egal wo es geboren wurde und unter welchen Bedingungen es aufwächst, die gleichen Chancen haben sollte, die eigenen Träume zu verwirklichen.

Es ist nicht schwer, zu erkennen, dass es schon bei Kindern einen Unterschied zwischen Mädchen und Jungen gibt. Kinder werden oft je nach Geschlecht unterschiedlich erzogen, und allzu oft werden klassische »Vorurteile« verbreitet, zum Beispiel, dass Mädchen schlecht in Mathe wären. Das zieht sich durch das ganze Leben und alle Bereiche. Eine Konsequenz: Frauen verdienen weniger als Männer und sind deshalb häufiger von Altersarmut bedroht. Unsere Strukturen unterstützen eine ungleiche Gesellschaft – das Patriarchat. Wir brauchen politische Maßnahmen.

Als ich anfing, mich mit diesen Themen zu beschäftigen, war ich frustriert und entsetzt, weil diese Perspektive für mich so neu und unerwartet war. Ich brauchte auch einige Zeit, um zu erkennen, dass ich selbst ein Teil des Problems war und manchmal leider immer noch bin.

Ich habe mit vier Jahren angefangen, Fußball zu spielen. Seitdem habe ich bis zu viermal pro Woche hart trainiert und war dabei die ganze Zeit nur von Männern umgeben. Man kann sich vorstellen, dass ich alle möglichen Phasen der Unsicherheit in Bezug auf meine eigene Männlichkeit durchlaufen habe und durch die besondere Gruppendynamik junger unsicherer Männer sozialisiert wurde. Heute – ich spiele immer noch Fußball – denke ich folgendermaßen über eine Fußballmannschaft:

Ein erfolgreiches Team braucht keine protzigen Typen, sondern ehrliche Kerle. Ein gesundes Team bietet einen Raum dafür, Gefühle und Verletzlichkeit offen zu zeigen. Witze, Scherze und Konflikte sind normal, aber sie brauchen Grenzen, die ein Team nur für sich selbst setzen kann.

In einer Mannschaft kommt es oft darauf an, dass diejenigen in der zweiten oder dritten Reihe bereitstehen, motivieren und den Ball annehmen, wenn er ihnen zugespielt wird. Sie werden ständig gebraucht. Dieses Engagement der weniger Talentierten zu schätzen ist genau das, was ein Team besonders stark macht.

Denn am Ende kommt es nicht darauf an, wer der »Stärkste« in der Mannschaft ist, sondern darauf, als Team stärker zu sein als die anderen Teams.

Für mich bedeutet Feminismus heute zunächst einmal, an meinem eigenen Verhalten und meinen Mustern zu arbeiten und andere Männer zu motivieren, das Gleiche zu tun und im Sinne dieses Buches Feminist:innen zu unterstützen. Das ist nicht immer einfach, und vor allem die eigenen Fehler tun manchmal weh, aber wenn man lernt, sein eigenes Verhalten zu reflektieren und es zu ändern, führt das dazu, dass man ausgeglichener und glücklicher wird. Und dadurch trage ich dazu bei, in der Welt zu leben, die ich mir für unsere Kinder wünsche.

VINCENT (er/ihn/ihm): Ich bin schon mit Feminismus aufgewachsen. Meine Eltern gingen auf Augenhöhe miteinander um; beide liebten ihren Beruf, und beide kümmerten sich gleichermaßen um die Betreuung und Erziehung von meiner Schwester und mir. Von meinen Eltern habe ich zweierlei gelernt:

Erstens gibt es Männer, die alles in ihrer Macht Stehende tun, um Frauen von der Arbeitswelt fernzuhalten, vor allem solche Frauen, die nach höheren Führungspositionen und Einfluss streben. Als meine Mutter die akademische Karriereleiter hinaufkletterte und schließlich Professorin für Musikund Kulturwissenschaften wurde, sah sie sich immer wieder auf verschiedene Art und Weise heftiger Frauenfeindlichkeit und offener Feindseligkeit vonseiten der Männer ausgesetzt. Die Männer verschworen sich, um sie (und andere Frauen) davon abzuhalten, bestimmte Positionen oder Beförderungen zu erhalten. Meiner Mutter wurde einmal ins Gesicht gesagt, sie gehöre nicht an eine Universität und solle zu Hause bei ihren Kindern bleiben. Das hat sie zwar nicht daran gehindert, eine Professur zu bekommen, aber es hat den Prozess verzögert und für Frustration gesorgt.

Zweitens: Nicht alle Männer sind so. Mein Vater verkörperte einen anderen Typus von Mann. Er verbrachte unglaublich viel Zeit mit meiner Schwester und mir, auf Spielplätzen, in der Küche, bei langen Spaziergängen, beim Klettern auf Bäume oder beim Besuch von Kochkursen. Damit ermöglichte er meiner Mutter nicht nur, die nötige Zeit an der Universität zu verbringen, sondern er bot uns ein Vorbild für einen anderen Männertyp: Männer, die Frauen in ihrer Karriere und zu Hause unterstützen, Männer, die Frauen nicht herabwürdigen oder sie ungerechten Stereotypen unterwerfen, um ihre eigene Unsicherheit zu überspielen. Kurz gesagt: Durch meine Eltern lernte ich sowohl, warum Feminismus notwendig ist, als auch, dass Männer ebenfalls Feministen sein können.

Dass es diese verschiedenen Arten von Männlichkeit gibt, ist mir bis heute sehr stark bewusst und beeinflusst noch immer tief greifend mein eigenes Denken und Verhalten. An der Universität belegte ich eine Reihe von Kursen über Geschlechtergleichstellung, Gendertheorie und Queerpolitik. Mir wurde klar, dass ein echter Fortschritt hin zu einer gleichberechtigten und gerechten Gesellschaft ohne die Beteiligung von Männern nicht möglich ist.

Feminismus ist für mich eine Bewegung – oder besser gesagt eine Reihe von Bewegungen –, die von Frauen ins Leben gerufen wurde, von Frauen angeführt wurde und weiterhin von Frauen angeführt werden sollte, die aber auch von Männern maßgeblich unterstützt werden kann. Nachdem ich Anfang 2021 selbst Vater einer Tochter geworden bin, lerne ich immer mehr darüber, wie wichtig Teamarbeit und ein Verhältnis auf Augenhöhe zu Hause sind, um das Familienleben zu erleichtern und auch einen breiteren gesellschaftlichen Wandel in Richtung Gleichberechtigung zu ermöglichen. Ich betrachte das als die vielleicht wirkungsvollste Art und Weise, wie Männer als Feministen etwas bewirken können: im Kleinen anzufangen, als aufmerksame Väter, gute Zuhörer, respektvolle Mitarbeiter und unterstützende Ehemänner oder Partner.

W I L L I A M (er/ihn/ihm): Schon zu Hause habe ich feministisches Denken kennengelernt. Doch in einer feministischen Familie aufzuwachsen und einfach nur an die Richtigkeit der Gleichstellung der Geschlechter zu glauben macht mich noch nicht zum Feministen. Ich habe von vielen Frauen in meinem Leben gelernt, dass Feminismus eine aktive und reflektierte Praxis erfordert und eine Verpflichtung ist. Er verlangt, dass man dafür eintritt, daran arbeitet und Verantwortung übernimmt – besonders von Männern.

Ein Schlüsselerlebnis, das mir geholfen hat, dies zu verstehen, hatte ich während meines Studiums. Ich habe mich schon in meiner Jugend für soziale Gerechtigkeit engagiert. Aber trotz meines feministischen Familienhintergrunds habe ich mich nicht immer intensiv mit Geschlechterfragen beschäftigt. In meinem letzten Studienjahr machte mich meine Schwester darauf aufmerksam und ermutigte mich, mich für einen Kurs zur Prävention geschlechtsspezifischer Gewalt anzumelden. Das war die Initialzündung für mich. Die Professorin brachte uns neue feministische Theorien über Ungleichheit und das Patriarchat nahe, und ich lernte in dem Kurs, wie allgegenwärtig und schwerwiegend die geschlechtsspezifische Gewalt von Männern auf der ganzen Welt ist und wie jeder Einzelne ein besserer Verbündeter bei der Gewaltprävention sein kann. Wir sprachen insbesondere darüber, wie und warum Männer in diese Arbeit einbezogen werden sollten. Der Feminismus bot sowohl eine plausible Analyse der Probleme als auch die inspirierende Vision eines gerechteren und friedlicheren Weges in die Zukunft.

Aber eine der wichtigsten Lektionen, die ich aus diesem Jahr mitnahm, lernte ich nicht aus dem Kursinhalt, sondern aus der Zusammensetzung der Gruppe. Sie bestand aus 25 Teilnehmer:innen, und ich war einer von zwei Männern. Sowohl das Ausmaß der männlichen Gewalt als auch die Abwesenheit von Männern in diesem Kontext haben mich bewegt. Ich begann, die Beziehung zwischen Männern und Feminismus zu hinterfragen. Warum kamen die Männer nicht zu den Kursen über die Gleichstellung der Geschlechter? Und vor allem: Warum hat es so lange gedauert, bis auch ich hingegangen bin? Und wie können wir das ändern?

In den letzten zehn Jahren habe ich mich stärker mit Feminismus beschäftigt und dazugelernt, kritisch über meine eigene Männlichkeit nachgedacht und mit Gruppen von Jungen und Männern über diese Themen diskutiert. Für mich ist klar: Der Feminismus bietet eine bessere Zukunft für Menschen aller Geschlechter, für mich, mein Umfeld und unsere Gesellschaft als Ganzes. Und Feminismus ist nicht nur eine Theorie oder eine Überzeugung – er ist ein Aufruf zum Handeln, der von Frauen und queeren Menschen angeführt wird und dem sich auch Männer anschließen können, was sie in zunehmendem Maße tun.

In diesem Buch geht es um Geschichten, die von Fortschritt, Ermächtigung, Heilung, Verständnis, Zweifel, Herausforderungen, Unterstützung und Verantwortung erzählen. Ganz so wie die persönlichen Geschichten, die wir gerade geteilt haben. Auf den folgenden Seiten zeigen wir anhand von Beispielen aus unserem eigenen Leben, warum wir die strukturelle Ungleichheit zwischen den Geschlechtern so dringend bekämpfen sollten, welchen Einfluss der Feminismus als eine Bewegung für sozialen Wandel besitzt und wie wichtig es ist, Männer in die Arbeit mit einzubeziehen. Und das Wichtigste: Dieses Buch soll dich dazu inspirieren, herauszufinden, wie dein eigener Weg zum Feminismus beginnen – oder sich beschleunigen – könnte, und zwar hier und heute.

Der Weg zu unserer persönlichen Rolle in einer Welt voller Komplexität und Widersprüche ist nicht einfach. Das gilt ganz besonders für Menschen, die in der Minderheit sind oder die für sich selbst entdecken, dass sie nicht den gesellschaftlichen Erwartungen an sie entsprechen. In einer anderen Hinsicht gilt dies auch für Männer, die erkennen, dass sie im Kampf um die Gleichstellung der Geschlechter eigentlich die Gegner waren, und nun zu Verbündeten werden wollen. Dies zu erkennen und das eigene Verhalten entsprechend weiterzuentwickeln kann schwierig oder beängstigend sein, aber wir glauben, dass es sich lohnt, diesen Schritt zu gehen. Wir sind der festen Überzeugung, dass Fortschritte sowohl auf kollektiver als auch auf individueller Ebene möglich sind und dass jede und jeder Einzelne von uns einen bedeutenden Beitrag zu einer besseren und gerechteren Welt leisten kann. Alles, was dazu nötig ist, sind geistige Offenheit, die Bereitschaft, zuzuhören und unsere Vorurteile zu korrigieren. Wir alle haben irgendwo angefangen und sind noch längst nicht am Ziel. Das Wichtigste aber ist, dass wir uns auf den Weg machen und auf ihm bleiben.

09.02.2023, 07:35

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