Demokratie zusammen denken

Leseprobe Das Buch stellt konkrete Beispiele kommunaler Veränderungsprozesse in Deutschland, Österreich, der Schweiz und den USA vor: Leuchtturmprojekte, die Mut machen, lokale Allianzen zu bilden und die eigene Kraft zur Lösung von Problemen zu entdecken
Beschäftigte der Lausitz Energie Bergbau AG legten als Zeichen ihres Protests gegen die drohende Schließung des Braunkohlekraftwerks in Jänschwalde im September 2019 grüne Holzkreuze und Helme aus.
Beschäftigte der Lausitz Energie Bergbau AG legten als Zeichen ihres Protests gegen die drohende Schließung des Braunkohlekraftwerks in Jänschwalde im September 2019 grüne Holzkreuze und Helme aus.

Foto: PATRICK PLEUL/AFP via Getty Images

Der Wiederaufbau unserer Demokratien muss von unten beginnen. Er erfordert eine Veränderung der Weise, wie lokale Gemeinschaften auf Probleme und Missstände reagieren. Wirksam zu reagieren heißt in der Praxis ungefähr Folgendes: Unterschiedliche Vertreter:innen örtlicher Vereine und Organisationen treffen sich, um zu überlegen, wie sie mit ihrer oftmals sich immer weiter verschlechternden Situation umgehen können – Handelskammern, Kirchen, Ortsverbände oder einfach Bürger:innen, die sich aktiv beteiligen möchten. Sie versuchen, einen Plan zu erarbeiten, etwa um neue Formen der Beschäftigung zu finden, wenn ältere oder traditionelle Arbeitsverhältnisse wegfallen.

Derzeit reagieren viele Städte und Regionen nicht wirksam auf neue Herausforderungen. Ein klassisches Beispiel sind westliche Staaten, die erkannt haben, dass sie im Kampf gegen die globale Erwärmung aus dem Kohleabbau aussteigen müssen, beispielsweise in den Appalachen der USA oder in der brandenburgischen und sächsischen Lausitz. Dasselbe Problem stellt sich in den ehemaligen Industrieregionen der USA und Frankreichs, wo sowohl die Konkurrenz sich industrialisierender Länder als auch die Automatisierung der Arbeitssysteme die heimische Industrie zerstört haben. Diese Regionen haben jahrzehntelang unter Deindustrialisierung, einer neoliberalen Fiskalpolitik und politischer Vernachlässigung so schwer gelitten, dass ihnen heute die Ressourcen fehlen, um den aktuellen und künftigen Herausforderungen wirksam begegnen zu können.

Diesen Kommunen mangelt es nicht nur an finanziellen Mitteln und politischem Einfluss, sondern auch an Ressourcen, die manchmal noch schwerer zu beschaffen sind, weil sie nicht einfach von einem Teil der Gesellschaft auf einen anderen übertragen werden können, wie es die deutsche Bundesregierung im Lausitzer Revier versucht, wenn sie gewaltige Geldsummen in die Region leitet. Die Ressourcen und Fähigkeiten, die wir meinen, gehören zum Sozialkapital und zur Kultur.

Die Kohle-, Stahl- und Fertigungsindustrie hat nicht nur die Qualifikation und das Einkommen großer Teile der Bevölkerung geprägt, sondern auch die Kultur der Region, beispielsweise die Vorstellung davon, was es heißt, ein Arbeiter zu sein oder für die Familie zu sorgen. Mit der Deindustrialisierung haben diese Gemeinschaften deshalb nicht zuletzt auch einen Teil ihres Selbstwertgefühls und ihrer Selbstachtung eingebüßt – als Individuen, aber auch als Kollektiv.

Im Zuge des wirtschaftlichen Niedergangs haben diese Gemeinschaften zusammen mit ihrem Selbstwertgefühl auch die Zuversicht verloren, politisch etwas bewirken zu können. Politiker:innen haben globalen Freihandel und neoliberale Arbeitsmarktreformen gepredigt und versprochen, deren Segnungen würden als Trickle-down-Effekt letztlich allen Haushalten zugutekommen. Doch in der Lausitz oder im amerikanischen Rust Belt dauert der Niedergang jetzt schon so lange, dass die Menschen das Vertrauen in das politische System verloren haben und sich zunehmend als wehrlose Opfer einer anonymen Maschinerie fühlen. Wer kann, wandert in die Städte ab, und diejenigen, die bleiben, ziehen sich ins Private zurück.

Im Ergebnis büßt die lokale Gemeinschaft ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation und zur Entwicklung zukunftsweisender neuer Ideen ein. Sie verliert auch die Fähigkeit, ihre Abgeordneten wirksam zu beeinflussen. Damit kommt ein verhängnisvoller, sich selbst verstärkender Kreislauf in Gang: Die politische Wirkungslosigkeit der Gemeinschaft verstärkt die bereits vorhandene Erosion des lokalen politischen Gemeinwesens. Mehr und mehr kommt den Wähler:innen grundsätzlich das Verständnis für die Mechanismen des Wandels abhanden. Sie wissen nicht mehr, wie sie ihr Schicksal kollektiv in die eigenen Hände nehmen und etwas bewirken können. Dieses Dilemma, das für die genannten Kohlereviere typisch ist, wird sich zunehmend auch andernorts zeigen. Etwa auch beim Erdöl, beispielsweise in der Erdölindustrie der kanadischen Region Alberta. Der Rest Kanadas steht Ölpipelines zunehmend ablehnend gegenüber, teils aus Angst vor den Folgen für die Umwelt im Falle eines Lecks, teils aber auch aus dem Bewusstsein heraus, dass wir von der CO2-intensiven Energie wegkommen müssen. Gleichzeitig verfallen immer mehr Industriestandorte, denen die Konkurrenz aus den Schwellen- und Entwicklungsländern und die Automatisierung vor allem durch die rasante Entwicklung der künstlichen Intelligenz zusetzen. Die Erosion lokaler Gemeinschaften hat tiefgreifende Auswirkungen auf das politische System unserer Demokratien, denen wir uns nun zuwenden.

Was wir als schwindendes Verständnis der Wähler:innen für die Mechanismen des Wandels beschrieben haben, ist Teil einer umfassenden Abkoppelung unseres Systems der repräsentativen Demokratie von den Bedürfnissen und Bestrebungen der breiten Bevölkerung. Moderne Demokratien brauchen, anders als die antike griechische Polis, repräsentative Institutionen, um funktionieren zu können. Diese Institutionen komplett durch direkte Demokratie zu ersetzen, ist keine Option. Aber damit Demokratie wirklich funktioniert, muss es eine stabile Verbindung zwischen diesen Institutionen und den Zielen und Anliegen der Bürgerschaft geben. Diese Verbindung kann allerdings leider verschleißen oder sogar reißen. Dafür gibt es verschiedene Gründe.

Erstens: Die Agenda moderner Gesellschaften ist umfangreich und vielgestaltig. Regierungen steuern nicht nur unsere Wirtschaft in einer globalisierten Welt, sondern finanzieren und verwalten auch Sozialsysteme, treffen weitreichende Entscheidungen zu Ehe und Familie, verfolgen außenpolitische Ziele und so weiter. Nicht alle Punkte dieser Agenda können immer in gleicher Weise im Vordergrund stehen, und inwieweit sie in der öffentlichen Aufmerksamkeit Beachtung finden oder nicht, hängt weitgehend davon ab, welche Rolle sie in der Öffentlichkeit und insbesondere in den führenden Medien spielen. Die vitalen Bedürfnisse einiger Bürger:innen können in den Hintergrund gedrängt werden, weil andere Themen die öffentliche Diskussion beherrschen. In jüngerer Zeit geschah dies in vielen westlichen Ländern mit Bezug auf die ungleiche Verteilung der wirtschaftlichen Vorteile von Freihandel und Globalisierung. Erst der drohende Wahlerfolg von Populisten auf Kosten der Mainstream-Parteien brachte dieses Problem ins Zentrum der Diskussion Zweitens: Geld ist in demokratischen Gemeinwesen eine starke Macht. Es verschafft einigen Individuen Kontrolle über die Medien und bestimmt die eben erwähnte Verzerrung der öffentlichen Aufmerksamkeit für bestimmte Themen. Lobbyismus und Wahlkampffinanzierung können mit Geld aber auch sehr viel direkteren politischen Einfluss nehmen, wie es das Beispiel der Vereinigten Staaten besonders deutlich zeigt.

Drittens: In den letzten Jahrzehnten haben neoliberale Illusionen über die Natur der Märkte und ihre angeblich positiven Effekte auf eine gerechte Verteilung des neuen Reichtums einige der eklatantesten Ungleichheiten verschleiert oder verharmlost. Am Ende, so hieß es, würden sich die Dinge schon einrenken.

Die beiden letztgenannten Trends haben zu einer Entwicklung beigetragen, die von vielen als die derzeitige Krise der liberalen westlichen Demokratie beschrieben wird. Der Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen in Europa und den Vereinigten Staaten ist eine ernste Herausforderung für die egalitäre, offene Demokratie, die wir in der Nachkriegszeit aufzubauen versuchten und die die grundlegenden Werte der amerikanischen Republik und der Europäischen Union verkörpert.

Der eklatanteste Befund ist die Zunahme von xenophobem Misstrauen gegen »Fremde« und der Ablehnung von Zuwanderung, ja sogar von verzweifelten Geflüchteten. Zum Aufschwung dieser Bewegungen hat los beigetragen, dass Angehörige der Arbeiter- und Mittelschicht in vielen Staaten das Gefühl haben, dass der eigene Lebensstandard immer weiter sinkt; dass sie nach dem Wohlstand der Nachkriegszeit – die Franzosen sprechen von Les Trente Glorieuses, den dreißig glorreichen Nachkriegsjahren – den Anschluss verlieren; dass sie und noch mehr ihre Kinder erleben müssen, wie soziale Mobilität nur noch eine Abwärtsbewegung kennt und gute, sichere Jobs immer schwerer zu finden sind; dass sie, mit anderen Worten, in einer Welt leben, in der Arbeitsplätze zunehmend knapper, zeitlich befristet und prekär sind.

Tatsächlich haben Globalisierung und Automatisierung in einer Zeit des Laissez-faire-Neoliberalismus zu einer massiven sozialen Ungleichheit geführt, die sich durch die Finanzkrise 2008 und eine rigorose Austeritätspolitik noch verschärft hat. In den einst blühenden Industrieregionen und Kleinstädten zahlreicher Länder, besonders in den Vereinigten Staaten und in Frankreich, führte dies zu einer dramatischen Verschlechterung des beruflichen und sozialen Lebens. Dieses Gefühl der Vernachlässigung trieb viele Wähler:innen dieser Regionen dazu, der illusionären und diskriminierenden Politik eines Donald Trump oder einer Marine Le Pen ihre Stimme zu geben.

Den Mainstream-Parteien wurde vorgeworfen, »Fremde«, vor allem Zuwanderer:innen und Geflüchtete, gegenüber den »echten« Franzosen oder Amerikanern zu bevorzugen. Und selbst in Gesellschaften, deren Wirtschaft in einem sehr viel besseren Zustand und deren Beschäftigungsrate immer noch hoch ist wie etwa in Deutschland, werden gegen die traditionellen Volksparteien ähnliche Vorwürfe erhoben: vor allem, dass sie sich mehr um die Geflüchteten als um die Belange der Deutschen kümmern.

Die Tatsache, dass der:die Durchschnittswähler:in in den vergangenen Jahrzehnten das Verständnis für die Mechanismen des Wandels verloren hat, war wesentlich für den Erfolg populistischer Bewegungen wie der Trumps in den USA, des Front National in Frankreich und der AfD in Deutschland. Es ist unerheblich, ob Parolen wie »Make America great again« (trotz der offenkundigen Unmöglichkeit, in die Vergangenheit zurückzukehren) deshalb Erfolg haben konnten, weil die Wähler:innen unfähig waren, derartige Versprechungen als allzu simpel zu durchschauen, oder weil sie zwar das Illusionäre solcher Heilsbotschaften erkannten, aber so frustriert waren, dass sie mit ihrem Protest die selbstgerechten Eliten schockieren wollten. Entscheidend ist, dass sich mit einer derart erbärmlichen Rhetorik nur jene Wähler:innen gewinnen lassen, die bereits den Glauben verloren haben, ihre Bedürfnisse und Interessen im Zuge der demokratischen Prozesse erfolgreich zur Geltung bringen zu können.

Die hier beschriebene Abkoppelung der demokratischen Prozesse von den Bürger:innen hat schwerwiegende Konsequenzen und muss rückgängig gemacht werden. Aber die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen, dass ein erneutes »Ankoppeln« nicht automatisch im Rahmen der Routineabläufe unserer demokratischen Gesellschaften erfolgen wird. So notwendig es ist, wird es auch nicht genügen, den Mythos des »gefährlichen Fremden« zu zerstören, insbesondere die islamophobe Fantasie, alle Muslime seien potenzielle Terroristen. Wir werden den Kampf gegen den fremdenfeindlichen Populismus nicht gewinnen, wenn wir nicht etwas gegen das von vielen Angehörigen der Arbeiter- und Mittelschicht gehegte, durchaus berechtigte Gefühl der Vernachlässigung tun. Wir müssen entschlossen handeln, um im Rahmen unserer repräsentativen Institutionen den Bedürfnissen und Bestrebungen dieser Menschen wieder Rechnung zu tragen.

Der Wiederaufbau der Demokratie von unten ist dafür unabdingbar. Er ist nicht die einzige Maßnahme, die wir ergreifen müssen, aber sie kann ein wichtiger Teil der Lösung sein (…). Wenn es einer lokalen Öffentlichkeit gelingt, die zur Lösung ihrer Probleme notwendigen Programme klar zu definieren und gleichzeitig die zu deren Umsetzung nötige Solidarität zu schaffen, kann sie zu einer politischen Kraft werden, die von den gewählten Mandatsträgern (zumindest auf lokaler Ebene) nicht mehr zu ignorieren ist. Auf diese Weise wird zwischen lokalen Bedürfnissen und Bestrebungen und dem demokratischen System eine neue und starke Verbindung hergestellt.

Um es anders zu formulieren: Damit würde die politische Sphäre im Sinne Hannah Arendts, d.h. die offene Beratschlagung zwischen gleichen Bürger:innen über ihre gemeinsamen Ziele und ihr gemeinsames Handeln, schlagartig erweitert: Sie umfasst dann nicht mehr nur Parlamentsabgeordnete, sondern eine neue Gruppe informierter und engagierter Bürger:innen. In diesem Buch stellen wir deshalb Projekte vor, die eine solche Erweiterung des Politischen ermöglichen.

19.01.2022, 11:58

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