Grenzenlose Schulden?

Leseprobe Axel Stommel liefert in seinem neuen Buch eine allgemein verständliche Darstellung der Dreiecksbeziehung zwischen Staatsfinanzierung, Klima- und Sozialpolitik – auch jenseits von Corona
Leergefegte Straßen in Frankfurt vor der Börse, März 2020
Leergefegte Straßen in Frankfurt vor der Börse, März 2020

Foto: Thomas Lohnes/Getty Images

Wenn der Planet verbrennt, sind Staatsschulden belanglos. Deshalb gilt es, von der Schwarzen Null Abstand zu nehmen und Investitionen in Klimaschutz von der Schuldenbremse auszunehmen.

Solche oder ähnliche Sätze waren immer häufiger zu hören, bevor sie von den Problemen der alles überlagernden Corona-Pandemie verdrängt wurden. Dasselbe Schicksal erlitten die riesigen Investitionslücken in unserer Infrastruktur, in Bildung, Sicherheit, Recht, Ordnung, Informationstechnologie und vieles mehr, die als weitere Gründe für staatliche Neuverschuldungen im Normalbetrieb genannt wurden; außerdem die Furcht vor einer Abschwächung der Konjunktur. Angesichts dieses Bündels an höchst bedenklichen, gleichwohl gewöhnlichen Zuständen erschien die Forderung nach einer beherzten Klima-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik auf Kredit in weiten Teilen der Fachwelt fast schon wie eine schiere Selbstverständlichkeit.

Und dann, wie aus heiterem Himmel, die Corona-Pandemie. Als im Jahre 1320 die Pest in der zentralchinesischen Provinz Hubei ausgebrochen war, hatte sie noch 25 bis 30 Jahre benötigt, um bis nach Italien vorzudringen. Unter den Bedingungen der fortgeschrittenen Technik und der Globalisierung hat Corona genau dieselbe Strecke in 25 bis 30 Tagen bewältigt; außerdem hat sich das Virus nicht nur auf den Weg nach Europa begeben, sondern es ist in alle Himmelsrichtungen ausgeschwärmt, hat das wirtschaftliche und soziale Leben auf allen Kontinenten wochenlang gelähmt und das Denken der Menschen in grundstürzender Weise beeinflusst.

Dass der Staat in dieser extremen Situation gefordert ist, das Schlimmste zu verhindern und besonders betroffenen Unternehmen und Haushalten mit zusätzlichen Krediten und Zuschüssen unter die Arme zu greifen, um wirtschaftliche Existenzen und ganze Wirtschaftszweige vor dem Ruin zu bewahren, war den politischen Entscheidungsträgern von der Kommissionspräsidentin der EU bis hinab zum Ortsbürgermeister umgehend klar. »Wir tun, was nötig ist«, erklärte deshalb die Kanzlerin, Inhaberin der nach wie vor beim Nationalstaat liegenden, entscheidenden Gestaltungsmacht, mit einem für sie ungewöhnlichen Zug spontaner Entschlossenheit; Schwarze Null und Schuldenbremse ließ sie sogar ohne eigene Anwesenheit (sie befand sich mit Coronaverdacht in häuslicher Quarantäne) auf einer einzigen Sitzung per Kabinettsbeschluss aus der aktuellen Regierungsagenda entfernen.

Aber weder restlos noch für immer. Denn zum einen geht es auch in der extremen Situation der Corona-Krise bei aller gebotenen, unbürokratischer Schnelligkeit nicht darum, den Staat bedenkenlos zu verschulden; ungebremst darf auch in pandemischer Zeit Geld nicht verteilt werden. Zum anderen überdeckt Corona zwar plötzlich alles andere, namentlich die fortschreitende Verschlechterung des meteorologischen und des gesellschaftlichen Klimas. Aber selbst wenn die Corona-Krise länger dauern und mehr Schaden anrichten sollte als alles bisher Dagewesene: Die Corona- Krise wird irgendwann ein Ende haben. Das Klima nicht. Es bleibt bestehen, und zwar sowohl das gesellschaftliche als auch das meteorologische Klima mitsamt jeweiliger Probleme und Gefahren: Nach der Corona-Krise ist mitten in der Klima-Krise.

Für die Schwarze Null dagegen beginnt mit Ende der Corona-Krise ein neuer Frühling. Das konservative Lager mit seiner traditionell unscharfen Programmatik wird die Gelegenheit ergreifen, sich in gewohnter Weise als Wahrer bewährter Werte zu positionieren und – wahrscheinlich im Verein mit weiteren politischen Gruppierungen – Neuverschuldung mit ausdrücklichem Verweis auf den mächtig weiter gewachsenen Schulden- stand ablehnen sowie Schuldenbremse und Schwarze Null in seine aktuelle Programmatik zurückholen. Der von der CDU gestellte Bundeswirtschaftsminister, Peter Altmaier, hat dies unverzüglich klar und deutlich angekündigt: »Altmaier stellt schnelle Rückkehr zur Schwarzen Null in Aussicht«, meldet die Nachrichtenagentur Reuters am 23.3.2020 und fährt fort: »›Wenn die Krise überwunden ist und wir hoffen, dass dies in einigen Monaten der Fall sein kann, dann werden wir zurückkehren zur Politik der Sparsamkeit‹, sagte der CDU-Politiker im ZDF. Nach Möglichkeit werde dies auch wieder die Schwarze Null sein.«

Die Corona-Viren setzen also Schwarze Nullen und Schuldenbremsen außer Kraft. Aber sie töten sie nicht. Corona nimmt sie lediglich aus dem Rampenlicht. Hinter der Bühne mästen die Viren sie sogar. Wenn die Schwarze Null zusammen mit ihrer Partnerin, der Schuldenbremse, zu gegebener Zeit wieder vorne auf der Bühne vor das Publikum tritt, stehen die bekannten Fragen wie eh und je im Raum – nur dass Wirtschaft, Gesellschaft und Staat dann als Folge von Corona ärmer, weiter geschwächt auf einem bedeutend höheren Schuldensockel stehen werden. Die Dreiecksbeziehung zwischen Staatsfinanzierung, Sozial- und Klimapolitik wird dann ziemlich konturscharf sichtbar, spätestens dann werden Fragen der Belastung, der Schuldentragfähigkeit sowie die Frage, welche Aufgaben der Staat zu übernehmen habe und wie sie zu finanzieren seien, hochaktuell.

Diese Fragen gründlich zu bedenken ist deshalb nie zu früh, aber schnell zu spät. Wenn der Handlungsbedarf dringend ist, ist der Bedarf an durchdachten Entscheidungen groß; aufgeregtes, spontan-unbedachtes Reagieren hat sich selten als hilfreich beim Lösen von Problemen erwiesen. Gerade diejenigen, welche die Herausforderungen nicht nur durch Extremereignisse ernst nehmen, sondern auch Klimawandel und soziale Spaltung unserer Gesellschaft, beides allmähliche, gewissermaßen schleichend fortschreitende Erscheinungen, tun deshalb gut daran, die maßgeblichen Sachverhalte und Zusammenhänge von Grund auf zu betrachten und in Ruhe zu Ende zu denken.

Die Aufgabe ist anspruchsvoll. Die vorliegende Schrift soll dafür leicht fassliche Hilfen bereitstellen. Um überschaubar zu bleiben, konzentriert sie sich auf Fragen, die mit der Verschuldungsthematik in engerem Zusammenhang stehen. In wesentlichen Passagen stellt sie einen themenspezifischen Extrakt aus den Anfangskapiteln meiner umfangreichen, ein Jahr zu- vor erschienenen Schrift »Basics der Ökonomie – Herrschende Lehren auf dem Prüfstand, Band 1: Wirtschaftspolitik, Staat und Steuern« dar, die es übrigens soeben in die Shortlist des Hans-Matthöfer-Preises für Wirtschaftspublizistik geschafft hat – ein ziemlich erstaunlicher Vorgang, wenn man bedenkt, dass die »Basics« vorherrschenden Lehrmeinungen, wie sie auch in der Auswahl-Jury vertreten sind, durchgängig dezidiert widersprechen.

Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung und des sozialen Zusammenhalts erscheinen im Mittelpunkt der Betrachtung. Vom Klima und von Corona wird dagegen seltener ausdrücklich die Rede sein.

Dennoch stehen Klima und Corona ständig unausgesprochen über bzw. hinter den Ausführungen – das Klima als Extremfall einer allmählich, aber ziemlich beständig wachsenden krisenhaften, ökonomisch getriebenen Entwicklung, Corona als Extremfall eines urplötzlich ausbrechenden Krisenereignisses, als einmaliger, weitestgehend externer (»exogener«) Schock; Juristen nennen es »höhere Gewalt«.

Nebenbei fegen Corona und das Klima gemeinsam die interessierte Vorstellung vom Staat als ärgerlichem Hindernis der Entwicklung, als dem gesellschaftlichen Akteur, der nur möglichst »schlank« zu ertragen sei, vom Platz. Ist es doch ganz offensichtlich der Staat und sonst niemand, der sich um die Eindämmung des Virus kümmert, die Gesundheitsversorgung organisiert, diverse gesundheits- und klimapolitische Grenzwerte setzt, die Lebensgrundlage von Menschen und Unternehmen auch in Zeiten der Not aufrecht erhält sowie Wirtschaft und Gesellschaft durch die Krise steuert. Das Erscheinungsbild des Staates wandelt sich in den Augen vieler bislang skeptischer Zeitgenossen über Nacht von einem verschlafenen, gefräßigen Taugenichts zum rettenden Ritter. Erstaunt wird registriert, dass der Staat durchaus fähig ist, Interessen des gemeinen Wohls durchzusetzen, wenn er denn will; Schuldenbremsen und Schwarze Nullen sowie die EU-Regeln zur maximalen Staatsverschuldung jedenfalls kann er von einem Tag auf den nächsten geradezu mühelos außer Kraft setzen.

05.08.2020, 08:05

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