Das Völkerrecht im Blick

Leseprobe Carla Del Ponte erklärt in ihrem Buch wie und von wem Einfluss genommen wird auf Entscheidungen des Sicherheitsrates und beschäftigt sich ausführlich mit der Frage, ob sich die UN zu einem willfährigen Instrument mächtiger Länder macht
Ein syrischer Junge sitzt vor einem Flüchtlingscamp der UNHCR.
Ein syrischer Junge sitzt vor einem Flüchtlingscamp der UNHCR.

Foto: NAZEER AL-KHATIB/AFP via Getty Images

Mein Kampf für Gerechtigkeit

Frühling 2021: Seit einem Jahr lebt die Welt unter den Bedingungen einer globalen Pandemie. Während die meisten Menschen versuchen, sich mit dem »New Normal« zu arrangieren, sind die anderen Krisen der Welt in den Hintergrund geraten. Einzig der Krieg in Syrien scheint im Bewusstsein der westlichen Öffentlichkeit überlebt zu haben, schon allein deshalb, weil man in Europa mit den Menschen konfrontiert ist, die aus dem internationalen Schlachtfeld fliehen. Seit einer Dekade kämpfen dort nicht nur die innersyrischen Konfliktparteien, sondern auch die Regionalund Weltmächte, die sich zu sogenannten Schutzmächten der einzelnen Kriegsparteien aufgeschwungen haben. In Syrien sind Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit seit nunmehr zehn Jahren Teil des Alltags – und leider bis heute ungesühnt. Das Land am östlichen Mittelmeer stellt hier keinen Einzelfall dar. Es gibt in zahlreichen anderen Ländern bewaffnete Konflikte, die nicht minder grausam sind, aber hierzulande weit weniger öffentliche Aufmerksamkeit bekommen. Dazu gehört der Krieg im Jemen, der seit sechs Jahren anhält. Mosambik, Tigray in Äthiopien, Niger, Mali, Afghanistan – die Liste ist lang. Und immer ist es hauptsächlich die Zivilbevölkerung, die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ertragen muss – Verbrechen, die vor ein Gericht gehören; Verbrechen, für die den Opfern Gerechtigkeit zusteht.

Damit sind wir bei den Themen, für die ich mein Leben lang gekämpft habe: Völkerrecht, Menschenrechte und die internationale Gerichtsbarkeit, die sie durchsetzen soll. Ein Blick in die Welt zeigt: Die globale Rechtsprechung steht nicht da, wo sie stehen könnte. Und: Die Welt ist seit den ersten internationalen Gerichtsverfahren zu den Kriegen in Jugoslawien und Ruanda in den 1990er-Jahren kein sichererer Ort geworden. Statt einen Schritt in Richtung Gerechtigkeit für alle – und vor allem für die Opfer – zu machen, müssen wir uns eingestehen, dass wir wieder zurückgewichen sind. Zwar existiert das internationale Recht bereits seit den beiden Weltkriegen, aber es wird nicht angewandt, weil der politische Wille dazu fehlt.

Die derzeitige politische Lage hat die Menschenrechte und ihre Anerkennung in den Hintergrund gedrängt. Dafür verantwortlich sind maßgeblich die gegenläufigen Partikularinteressen einzelner Staaten, also ihre ureigenen Interessen aus nationaler Perspektive, und die Unfähigkeit der Weltorganisation UNO, dazu beizutragen, dass die Menschenrechte respektiert werden. Der Grund dafür ist wiederum, dass die Vereinten Nationen von den Entscheidungen des UN-Sicherheitsrats abhängen. Dabei handelt es sich um dasjenige Organ der UNO, das verfassungsgemäß, also nach der UN-Charta, die Hauptverantwortung für den Weltfrieden trägt. Und diese Institution ist momentan stark geschwächt.

Dominiert wird sie von den fünf mächtigen, permanenten Mitgliedsstaaten: China, Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA. Diese verfügen über ein Vetorecht, mit dem sie jede Resolution, also jeden Beschluss des Sicherheitsrats, aufhalten können. Das versetzt sie in die Lage, gewisse Entscheidungen, die wichtig für Gerechtigkeit und die Wahrung der Menschenrechte sind, zu blockieren. Eine Reform dieses Systems war nie möglich. Der Versuch des ehemaligen Generalsekretärs der UNO, Kofi Annan, scheiterte vor allem am Widerstand der permanenten Mitglieder, insbesondere an Russland und den USA, die ihr Vetorecht – und damit ihren Einfluss – nicht aus der Hand geben wollten. Dieses Ungleichgewicht liegt bis heute dem katastrophalen Zustand des Völkerrechts zugrunde.

Dabei sah es zunächst so aus, als sei die internationale Gerichtsbarkeit auf einem guten Weg. Erstmals seit den Prozessen von Nürnberg und Tokio, bei denen die Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs verhandelt wurden, kamen diejenigen, die schwere Völkerund Menschenrechtsverletzungen begangen hatten, vor Gericht. In den Tribunalen, die sich ab 1993 zunächst mit den Verbrechen während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien und ab 1994 dann auch mit den Verbrechen in Ruanda beschäftigten, ging es vor allem darum, die Verantwortlichen auf der Führungsebene zur Rechenschaft zu ziehen und sie als Drahtzieher zu verurteilen. Nicht nur die unmittelbar Beteiligten, wie zum Beispiel der Offizier, der mit seiner Einheit Dörfer plündert, Zivilisten hinrichtet und vergewaltigt, sollten verurteilt werden. Sondern auch und vor allem diejenigen, die diese Grausamkeiten in Auftrag gegeben, mit ihrer Politik die Menschen dazu angestachelt und mit akribischer Präzision Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit planen und ausführen haben lassen.

Und damit hatte man – hatten wir! – Erfolg. Mit Slobodan Milošević musste sich erstmals ein ehemaliges Staatsoberhaupt vor Gericht für schwere Kriegsverbrechen verantworten. Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Massaker und Deportationen legte ihm die Anklage zur Last. Und beinahe die gesamte Regierung Ruandas, die für das grausame Abschlachten der Tutsi verantwortlich war, stand vor Gericht. In nur etwa 100 Tagen im Jahr 1994 hatten Angehörige der Hutu-Mehrheit rund 75 Prozent der Tutsi-Minderheit getötet, ebenso wie moderate Hutu, die sich nicht am Völkermord beteiligen wollten. Erstmals gab es vor einem internationalen Gerichtshof 1998 eine Verurteilung wegen Völkermords. Ein Meilenstein.

Beide Tribunale waren somit, trotz vieler Rückschläge und zäher Ermittlungen, die ich als Chefanklägerin hinnehmen musste, ein Erfolg für die internationale Gerichtsbarkeit: 90 Angeklagte sprach man im Jugoslawien-Tribunal schuldig, 62 im Ruanda-Tribunal. Die Opfer und ihre Hinterbliebenen erfuhren Gerechtigkeit. Man konnte ihre Zufriedenheit und Dankbarkeit uns gegenüber spüren. Wir hatten es geschafft, der Straflosigkeit, mit der politische Führer bis dahin weltweit ihrer Verantwortung entgangen waren, Einhalt zu gebieten.

Nicht zuletzt trugen beide Tribunale maßgeblich zur Weiterentwicklung des Völkerstrafrechtes bei, zum Beispiel bei der Anwendung von Kriegsrecht in internen Konflikten und der Weiterentwicklung und Auslegung von Straftatbeständen. So legte das Ruanda-Tribunal eine umfassende Rechtsprechung zum Tatbestand des Genozids vor, die anderen Gerichten heute als Vorlage dafür dient, wie der schwer nachzuweisende Tatbestand des Völkermords erfolgreich verhandelt werden kann. Das Jugoslawien-Tribunal definierte hingegen erstmals sexuelle Gewalt als Tatbestand des Völkermords – ein weiterer Meilenstein im internationalen Strafrecht.

Die Tribunale waren außerdem Wegbereiter des permanenten Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), dessen Grundlage das am 17. Juli 1998 verabschiedete Rom-Statut (oder auch römisches Statut) des Internationalen Strafgerichtshofs bildete, welches von 123 Staaten unterzeichnet und ratifiziert wurde. Davon sind 33 auf dem afrikanischen Kontinent, 19 aus dem asiatisch-pazifischen Raum, 18 aus Osteuropa, 28 aus Lateinamerika und der Karibik sowie 25 aus Westeuropa und weiteren Regionen. Es gibt auch Staaten, die das Rom-Statut unterzeichnet, aber nicht ratifiziert haben und entsprechend nicht zu den Mitgliedern des Gerichtshof gehören. Dazu zählen beispielsweise Angola oder auch die USA.1 Zur Verdeutlichung: Im ersten Schritt unterzeichnen die Vertreter der Länder einen Vertrag. Das allein setzt diesen aber noch nicht in Kraft. Dafür bedarf es der Ratifizierung: Sie ist die völkerrechtlich verbindliche Erklärung, die den zuvor unterzeichneten Vertrag bestätigt, und erfolgt für gewöhnlich durch das Organ, welches die Vertragspartei – also zum Beispiel einen Staat – nach außen vertritt, etwa das Staatsoberhaupt. Erst nach der Ratifizierung ist der Vertrag bindend und von den Unterzeichnern einzuhalten. Darüber stellt man eine sogenannte Ratifikationsurkunde aus. Üblicherweise werden die Urkunden aller am Vertrag Beteiligten bei einer der Parteien hinterlegt. In Deutschland ist die gängige Handhabe, dass von der Bundesregierung ausgehandelte völkerrechtliche Verträge der Zustimmung oder der Mitwirkung der für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften bedürfen. Das heißt konkret, dass Bundestag und Bundesrat ihnen zustimmen müssen. Der Bundespräsident schließt daraufhin im Namen des Bundes die Verträge.2

123 Staaten ratifizierten ergo das Rom-Statut. Das sind zwar nicht sämtliche Staaten der Welt, aber viele. Sie alle haben sich zur internationalen Strafjustiz verpflichtet und dazu, das Völkerrecht und die Menschenrechte zu respektieren. Das ließ hoffen! Der Internationale Strafgerichtshof mit Sitz in Den Haag nahm am 1. Juli 2002 seine Tätigkeit auf. Seine Unabhängigkeit von der UNO soll verhindern, dass er machtpolitisch missbraucht wird – also Verbrechen nur dann geahndet werden, wenn das den politischen Interessen der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats entspricht. Darüber hinaus muss er schnell handlungsfähig sein und sofort eingreifen können, nicht erst dann, wenn die meisten Verbrechen schon begangen worden sind.

Wir haben somit die Rechtsgrundlage und eine Institution. Und dennoch erkennt jeder am politischen Weltgeschehen halbwegs interessierte Bürger: Sie ist kein besserer Ort geworden. 158 gewaltsame Krisen gab es allein im Jahr 2019,3 davon 27 bewaffnete Konflikte und Kriege.4 Die meisten davon finden auf dem afrikanischen Kontinent statt. Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Aggression – ein Tatbestand, für den die internationale Gerichtsbarkeit seit 2018 ebenfalls zuständig ist – ereignen sich täglich vor den Augen der Weltöffentlichkeit, der globalen Politik und der internationalen Gerichtsbarkeit.

Wie bereits erwähnt, trifft das Leid vor allem die Zivilbevölkerung. Allein in Syrien haben die Kriegsparteien seit Beginn der gewalttätigen Auseinandersetzungen im Jahr 2011 mehr als 100 000 Zivilisten ermordet. Insgesamt liegen die Opferzahlen bis heute noch um ein Vielfaches höher. Zwölf Millionen Menschen sind auf der Flucht. Die Armee Myanmars hat seit 2017 unter Gewaltexzessen rund 750 000 Angehörige der muslimischen Minderheit der Rohingya ins Nachbarland Bangladesch vertrieben. Myanmarische Sicherheitskräfte zerstörten Hunderte Siedlungen der Rohingya systematisch. Sie brannten die Dörfer nieder, setzten Landminen ein, mordeten, vergewaltigten und folterten.5 Seit Ende 2020 spitzt sich die humanitäre Lage in der äthiopischen Region Tigray zu. Bei Kämpfen zwischen der Regierung und abtrünnigen Truppen unter Führung der regionalen TPLF-Partei (Tigray-Volksbefreiungsfront) werden unter anderem Krankenhäuser geplündert und zerstört. Das Gesundheitswesen ist zusammengebrochen, Medikamente, aber auch Lebensmittel sind in der Region knapp. Afghanistan, Irak, Somalia, Sudan – die Liste der Länder, in denen Gewalt gegen die Zivilbevölkerung auf der Tagesordnung steht, ist, wie gesagt, lang. Mit der Liste der dort begangenen Verbrechen verhält es sich ähnlich.

Ende 2019 lag die Zahl der Menschen, die sich weltweit auf der Flucht befanden, bei 79,5 Millionen – das ist mehr als ein Prozent der Weltbevölkerung und doppelt so viel wie noch im Jahr 2010. Mehr als zwei Drittel der geflohenen Menschen stammen aus fünf Ländern: Syrien, gefolgt von Venezuela, Afghanistan, Südsudan und Myanmar.6 Die Gründe sind vielfältig: Armut, Perspektivlosigkeit, die Folgen des Klimawandels – viele Aspekte spielen eine Rolle. Die Hauptursache ist jedoch: Gewalt.

Die Verbrecher, die für dieses millionenfache Leid verantwortlich sind, kommen trotz Völkerrecht und Internationalem Strafgerichtshof ungesühnt davon. Sie werden nicht zur Verantwortung gezogen. Unsere Hoffnung, dass die Zivilbevölkerung nach den ersten internationalen Tribunalen besser geschützt sei, hat sich offensichtlich nicht erfüllt. Wir glaubten, dass die Präsidenten, Minister und Generäle dieser Welt nach diesen Urteilen auch bei bewaffneten Konflikten darauf achten, die Zivilbevölkerung zu schützen und sich an das Kriegsrecht zu halten. Die abschreckende Wirkung der Tribunale hat aber nie eingesetzt, und die Drahtzieher der Gewaltexzesse setzen nach wie vor auf Straflosigkeit. Denn obwohl es seit 2002 den Internationalen Strafgerichtshof gibt, ist internationales Recht nach wie vor abhängig vom politischen Willen einzelner Staaten. Und, ich wiederhole mich, dieser Wille fehlt.

Wurde die internationale Gerichtsbarkeit anfangs noch maßgeblich von den USA initiiert und finanziert, ließ deren Begeisterung im Verlauf der Jahrzehnte nach. Insbesondere unter Donald Trump wandte sich ihre Politik sogar gegen den Internationalen Strafgerichtshof und die Werte, die er vertritt. Zu groß ist die Angst, dass amerikanische Staatsbürger vor einer internationalen Institution zur Verantwortung gezogen werden könnten. Konkreter Anlass für die neuerliche Feindseligkeit der USA gegenüber dem Gerichtshof dürften dessen Vorermittlungen im Jahr 2018 sein. Untersuchungsgegenstand waren Foltervorwürfe gegen US-amerikanische Soldaten, die Gefängnisse in Afghanistan bewachten. Dabei ging es auch um eine mögliche Verantwortlichkeit der Dienstvorgesetzen sowie der CIA.7 Gänzlich neu ist diese – milde ausgedrückt – Skepsis der USA nicht: Bereits die Regierung des ehemaligen Präsidenten George W. Bush hatte gegen die internationale Strafjustiz gehetzt.8 Zudem gehören die USA, ebenso wie Russland und China, zu den Staaten, die das für den Internationalen Strafgerichtshof grundlegende Rom-Statut nicht ratifiziert haben. Diese drei Länder, die zu den größten und mächtigsten der Erde zählen, bleiben folglich bei der internationalen Gerichtsbarkeit außen vor. Dazu kommt: Als ständige Mitglieder im UN-Sicherheitsrat können sie mit ihrem Veto verhindern, dass dieser den Gerichtshof bei Kriegsverbrechen in Ländern beauftragt, die das Rom-Statut nicht ratifiziert haben – so geschehen durch die Vetos Chinas und Russlands für Syrien.

Alle Staaten, gegen deren Verantwortliche die internationale Strafgerichtsbarkeit bisher ermittelt hat, stellten ihre Legitimität infrage und bezeichneten sie als politisches Vehikel, mit deren Hilfe man ihre Nationen an den Pranger stellen wollte – aus ihrer Sicht zu Unrecht. Und ganz klar ist: Alle Staaten auf der Welt verfolgen ihre partikularen Interessen. Die Durchsetzung des internationalen Rechts ist für die meisten so lange in Ordnung, wie sie ihre nationalen Interessen nicht berührt. Das gilt auch für die USA, obwohl sie die internationale Justiz mitbegründet hatten.

Der mangelnde politische Wille der einzelnen Staaten ist es, der die internationale Gerichtsbarkeit schwächt. Denn das internationale Recht liegt in einer Grauzone zwischen Recht und Politik, zwischen nationaler Souveränität und internationaler Verantwortung. Und diese Grauzone ist im Verlauf der Jahrzehnte größer geworden. Mittlerweile müssen wir sogar froh sein, wenn wir den Status quo halten können. In den letzten Jahren haben sich mehrere Staaten aus dem Internationalen Strafgerichtshof zurückgezogen. Wer weiß, wie lange wir ihn überhaupt noch haben werden?

Das ist der Anlass für dieses Buch: Es ist momentan schlecht um die Menschenrechte und die internationale Gerichtsbarkeit bestellt. Wir müssen uns fragen, welche Bedeutung sie für uns haben und welche Rolle sie in Zukunft spielen sollen. Wenn wir wollen, dass die Welt eine bessere wird, müssen wir die internationale Gemeinschaft aufwecken und dem Schutz der unveräußerlichen Rechte, die alle Menschen auf diesem Planeten genießen sollten, wieder die gebührende Bedeutung zukommen lassen. Und ohne die internationale Gerichtsbarkeit ist das nicht möglich. Nur sie schafft Gerechtigkeit für die Hundertausenden Opfer und ihre Hinterbliebenen. Bei meinen Gesprächen mit Betroffenen, zum Beispiel mit syrischen Flüchtlingen in den Lagern im Libanon und in Jordanien, habe ich gespürt, wie wichtig es für diese Menschen ist, Gerechtigkeit zu erfahren, und wie sehr sie danach verlangen.

Nur über institutionalisierte Gerechtigkeit ist ein friedliches Zusammenleben möglich – sie unterbricht den furchtbaren Kreis der Blutrache, der es immer neuen Generationen von Drahtziehern ermöglicht, die Menschen für Gräueltaten zu mobilisieren. Sie ist der erste Schritt, wenn nicht zu einer Aussöhnung, dann zumindest zu einer Neuorganisation des Zusammenlebens nach einer gewalttätigen Auseinandersetzung. Die internationalen Gerichte sind Orte, an denen die Wahrheit ans Licht kommt. Und die Zivilbevölkerung muss diese Tatsachen akzeptieren. Andernfalls kommt es zu einer doppelten Geschichtsschreibung und zu Revanchismus, einer Politik, die darauf ausgerichtet ist, mit militärischen Mitteln »verlorene« Gebiete zurückzuerlangen oder als aufgezwungen empfundene Verträge zu annullieren. Dadurch ist der Internationale Strafgerichtshof die entscheidende Institution für die Verwirklichung der Hauptziele der UNO: Frieden und Stabilität für alle Menschen auf der Welt.

Damit die Vereinten Nationen diese existenziellen Aufgaben wahrnehmen können, ist es wichtig, sie so unabhängig wie möglich vom politischen Willen einzelner Länder zu machen. Das wird ohne eine Reform der UNO und ihrer Institutionen, wie des Sicherheitsrates, nicht möglich sein. Auch darum dieses Buch: um zu zeigen, dass internationales Recht unumgänglich ist und unabhängig sein muss, wenn wir friedlich miteinander leben wollen. Weg mit den Grauzonen! Damit wir den Machthabern rote Linien nicht lediglich aufzeigen, sondern auch auf einer rechtlichen Basis dafür sorgen können, dass sie diese nicht übertreten. Mein Kampf für Gerechtigkeit ist also nicht vorbei, sondern beginnt jeden Tag von Neuem.

08.06.2021, 16:24

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