»Wir müssen über den Islam wieder reden«

Leseprobe Heute kommen Muslime nach Europa nicht mehr als Eroberer, sondern als meist friedliche Migranten, doch der Islamismus wandert mit ein und will sein Projekt in Europa vollenden. Und: Von seiner Zukunft hängt auch die Zukunft Europas ab
Düsseldorf (2019): Muslim:innen und Besucher:innen während eines stillen Gedenkmarsches an die Opfer von Christchurch
Düsseldorf (2019): Muslim:innen und Besucher:innen während eines stillen Gedenkmarsches an die Opfer von Christchurch

Foto: Maja Hitij/Getty Images

Vorwort

Es ist vier Jahre her, dass der Deutsche Kulturrat eine Talkshow-Pause forderte, weil die Demokratie vermeintlich in Gefahr sei. Die Medien sollten sich eine Art Schweigegelübde in Sachen Islam auferlegen. Auslöser war eine Sendung von Sandra Maischberger gewesen, mit dem Thema »Die Islamdebatte – wo endet die Toleranz?« Die Ausstrahlung hatte 2018 eine heftige Diskussion in den sozialen Netzwerken ausgelöst, woraufhin der Kulturrat sich zu dieser drastischen Forderung hinreißen ließ.

Dabei war schon in den Jahren davor die deutsche Debattenkultur rund um das Thema Islam fast zum Erliegen gekommen. Die Flüchtlingskrise 2015 und ihre Folgen, die gesellschaftliche Polarisierung, die Angst vor dem islamistischen Terror einerseits und vor dem Aufstieg der Rechten andererseits, dazu der wachsende Einfluss der linken Identitätspolitik in den Medien, in der Politik und in der akademischen Welt hatten eine ehrliche und faire Debatte über den Islam, seine Geschichte und seine Zukunft in Deutschland erschwert. Die Parteien der Mitte verzichteten 2017 darauf, Themen wie Migration und die Bekämpfung des Terrors im Namen Allahs zu Schwerpunkten ihres Wahlkampfes zu machen, obwohl gerade das viele Deutsche umtrieb. Von dieser Leerstelle profitierte nur die AfD, die als einzige Partei Migration zum Hauptthema ihrer Kampagne machte. Mit Erfolg: Die AfD konnte bei der Bundestagswahl mit 12,6 Prozent ihr Ergebnis aus dem Jahr 2013 fast verdreifachen.

Und jetzt also eine selbst auferlegte Talkshow-Pause. Um die Demokratie nicht zu gefährden. Die Frage ist nur: Welche Demokratie, die diesen Namen auch verdient, sollte auf kontroverse

Debatten verzichten, zugunsten einer inszenierten, brüchigen Harmonie? Welche Gefahr sollte durch Religionskritik entstehen? Und welche Ängste würden verschwinden, wenn man Themen, die für diese Ängste mitverantwortlich sind, totschweigt?

Sandra Maischberger antwortete im Nachgang der Sendung in einem Gastbeitrag in der ZEIT zu Recht: »Wer aus Angst vor einem falschen Wort gleich die Debatte vermeiden will, überlässt erst recht denen die Bühne, die diese Angst (...) zu nutzen wissen.« Die von vielen Menschen als »historisch empfundene Herausforderung« durch die Flüchtlingswelle sei keineswegs vorüber, sie stelle vielmehr »die Eckpfeiler unserer alten Gesellschaftsordnung infrage. Deshalb streiten wir«, so Maischberger. Auch wenn, wie sie in ihrem Beitrag selbstkritisch einräumte, dass in ihrer Sendung zu »wenig über den politischen Islam und zu viel über kulturelle Alltagsprobleme diskutiert« worden sei. [1]

Die Talkshows pausierten zwar seitdem nicht, aber es gab so gut wie keine mediale oder politische Debatte mehr zum Thema Islam. Die Forderung des Kulturrates und die Reaktionen darauf passten gut in eine Atmosphäre, in der sich eine woke, politisch korrekte Anti-Rassismus-Bewegung zunehmend Gehör verschafft. Es ist eine Bewegung, die die Geschichte des »weißen Mannes« rückwirkend verurteilt – in Teilen definitiv zu Recht –, aber dabei manchmal über das Ziel hinausschießt. Indem sie den Diskursraum verengt, künstlich immer mehr Tabuthemen schafft und die Grenzen des Sagbaren so weit verschiebt, dass manche den Eindruck haben, sie könnten nicht mehr sagen, was sie denken – aus Angst, plötzlich auf der falschen, der politisch rechts gerichteten Seite zu stehen. Es ist eine Bewegung, die sich kritisch mit »White Supremacy« und den Folgen von Kolonialismus auseinandersetzt und gleichzeitig jede Kritik an Minderheiten, an der Geschichte und Gegenwart ihrer Religion und an den Missständen in ihren Communities mit Rassismus gleichsetzt.

Der Begriff »Islamophobie« entstammt der Feder dieser Anti-Rassismus-Bewegung, die nicht nur in Deutschland, sondern weltweit an Einfluss gewinnt. Doch gut gedacht ist nicht immer gut gemacht. Zweifelsohne verdienen Minderheiten einen besonderen Schutz, gerade vor Diskriminierung und Rassismus. Aber ein Begriff wie »Islamophobie« ist nicht nur irreführend, sondern gefährlich. Denn er wirft Glauben und Gläubige in einen Topf – eine Sichtweise, die nicht nur muslimische Fundamentalisten haben, sondern auch rechte Fanatiker, die nicht zwischen dem Menschen und der Ideologie bzw. Religion unterscheiden. Für sie ist jeder Muslim ein potenzieller Dschihadist.

Dazu passt, dass die politisch korrekte Anti-Rassismus-Bewegung Kritik an der Religion mit einem Angriff auf die Menschenwürde gleichsetzt. Dabei sind es keineswegs friedliebende Muslime (also die überwiegende Mehrheit), die von Kritikern an den Pranger gestellt werden würden. Kritisch zu beleuchten wären vielmehr Organisationen des politischen Islam und fundamentalistische Gruppierungen. Eine Unterscheidung, die Vertreter dieser Bewegung oft nicht treffen. Wenn aber jede Kritik als Rassismus ausgelegt wird, werden Kritiker diffamiert und mundtot gemacht, und der politische Islam erhält den Freibrief, sich weiter ungestört entfalten zu können.

Das Erlahmen einer offenen und kontroversen Islamdebatte dürfte seinerzeit auch der Bundesregierung nicht ganz ungelegen gekommen sein. Sie hatte die Grenzen des Landes für Hunderttausende Flüchtlinge aus der islamischen Welt »geöffnet«, wie es fälschlicherweise oft hieß, und war nun selbst Wut und Hassangriffen ausgesetzt. Vor allem nach den Ereignissen in der Silvesternacht 2015/2016 in Köln und dem Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin im Jahr darauf wurden die Stimmen immer lauter, die die Entscheidung der Bundesregierung für falsch hielten und Muslime pauschal als Gefahr für die innere Sicherheit betrachteten.

Gerade jetzt, da faire Debatten über den Islam, über Migration und Integration so dringend notwendig gewesen wären, gerieten sie ins Stocken. Stattdessen wurden die Menschen in diesem Land in Lager aufgeteilt: Diejenigen, die sich für die Flüchtlinge einsetzten, galten als zivilisiert und menschlich; diejenigen, die Bedenken äußerten, fanden sich in einem Topf mit Neonazis und anderen Rechtsauslegern wieder. Das dritte Lager, das sich nicht eindeutig positionierte, wurde in die Zange genommen.

Und so wurde eine Debatte durch Empörung von der einen Seite, durch Moralisierung von der anderen und durch das Schweigen der dritten Seite im Keim erstickt. Ähnliches wiederholte sich während der Corona-Krise; auch da gab es die drei Lager, die mit zunehmender Dauer der Pandemie aufhörten, miteinander vernünftig zu kommunizieren und Argumente auszutauschen. Es wirkt, als hätten wir verlernt, Kontoversen nicht nur zu führen, sondern andere Meinungen überhaupt auszuhalten. Für den großen britischen Philosophen John Stuart Mill war »reden und reden lassen« schon im 19. Jahrhundert oberstes Gebot, wenn es um das Führen von Debatten ging. Für ihn gab es gute und schlechte Gedanken, hilfreiche und gefährliche Argumente. Ist eine Idee gut, sollte sie multiperspektivisch in der Öffentlichkeit diskutiert werden, damit so viele Menschen wie möglich davon profitieren können. Ist eine Idee schlecht oder gar gefährlich, dann muss sie erst recht öffentlich diskutiert und entkräftet werden, um die Gesellschaft gegen diese Idee und ihre Agitatoren immun zu machen. Doch weder Befürworter noch Gegner der Idee dürfen im Voraus festlegen, ob sie gut oder schlecht ist. Das ist die Aufgabe der Öffentlichkeit, nachdem sie sich die Argumente beider Seiten angehört hat.

Von dieser »Diskursethik«, wie Jürgen Habermas das nennt, gibt es heutzutage leider immer weniger. Stattdessen bestimmen Emotionen, Moralismus und Diskursverweigerung die meisten Debatten. Denn häufig geht es nicht darum, ein Argument zu entkräften oder ihm auf den Grund zu gehen, um anschließend einen Konsens zu erzielen, sondern darum, für seine Gruppenidentität und die damit einhergehenden politischen Interessen zu kämpfen. Das Ergebnis ist eine Form von »cancel culture«, ein Tadeln für vermeintlich die »falsche Gesinnung«, die eben keinen Raum mehr für alle Argumente bietet.

Parallel zu dieser Aufteilung in »gute« und »böse« Lager und damit der Verengung des Diskursraums entstand bei manchen Menschen im Land das ungute Gefühl, es gebe eine Diskrepanz zwischen dem, was wirklich geschieht, und dem, was die Medien berichten. Ein schleichender Prozess, der mit den verzögerten ersten Berichten über die Silvesternacht von Köln begonnen hatte. In einer Langzeitstudie der Uni Mainz zum Thema Medienvertrauen gaben 2016 22 Prozent der Befragten an, den Medien nicht zu vertrauen. 2019 waren es 28 Prozent; zudem gingen 23 Prozent davon aus, die Medien würden gemeinsam mit der Politik agieren, um die Meinung der Bevölkerung zu manipulieren.2

Auffällig sind die Peaks während der Flüchtlingsund der Corona-Krise. Es scheint an Transparenz zu fehlen, die Leute fühlen sich von der Politik nicht mitgenommen, von den Medien nur unzureichend oder gar falsch informiert. In beiden Situationen musste die Politik Entscheidungen treffen, die alle Beteiligten vor nie da gewesene Herausforderungen stellten. Eine durchdachte Strategie konnte es zu diesem Zeitpunkt nicht geben. Aber je länger sie ausblieb, und je widersprüchlicher bestimmte Maßnahmen etwa während der Corona-Pandemie im Konzert der Bundesländer ausfielen, umso größer wurde das Feld für Verschwörungstheorien. Bei den Flüchtlingen fabulierten einige von der »Umvolkung«, die die Bundesregierung plane, bei Corona waren es die drohende »Diktatur« oder gar ein perfides Menschenexperiment von Bill Gates und Konsorten.

Man kann die Mehrheit der Menschen von einer Idee nur überzeugen, indem man sie von vorneherein miteinbezieht und indem man mit Kritikern dieser Idee offen debattiert, und zwar so lange, bis ihre Argumente entkräftet werden. Die Vertrauenslücke zwischen Politik, Medien und einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung wird so lange größer werden, solange wir es nicht schaffen, die notwendigen Debatten zu führen. Denn aufgeschoben ist nicht aufgehoben, und das, was unter der Oberfläche brodelt, ist viel gefährlicher als das, was öffentlich ausgesprochen wird.

Was den Islam angeht, machen inzwischen auch deutsche Universitäten, politische Stiftungen und Kirchen einen großen Bogen um Themen, bei denen ein kritischer Blick auf den Islam geworfen werden könnte. Sie laden sogar Vertreter des politischen Islam und Erdoğan-Anhänger als Referenten ein, um Toleranz und Vielfalt zu demonstrieren. Religionskritiker dagegen werden von diesen Diskussionen häufig ferngehalten. Toleranz und Vielfalt bezieht sich hier ganz offensichtlich nicht auf Meinungsvielfalt und Toleranz gegenüber Kritik. Nicht nur ich habe mehrfach erlebt, dass selbst vernünftige, humanistisch begründete Religionskritik als unsachliche Hetze abgestempelt wird. Mit der Konsequenz, dass die kritischen Stimmen fehlen, und Apologeten des Islam unwidersprochen die dunklen Seiten ihrer Religion glorifizieren oder behaupten können, dass Scharia und Demokratie miteinander vereinbar seien.

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[1] DIE ZEIT, 5/2018

11.01.2023, 11:35

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