Im Herbst 2016, ich war achtundvierzig Jahre alt, traf ich eine mir banal erscheinende, unverändert gültige Entscheidung:
Ich werde, wenn mir meine statistisch vorbestimmte Restlebenszeit von rund dreißig Jahren bleibt, die ökologische Bilanz meines Lebens bis zu meinem Tod ausgleichen. Keine ökologischen Schulden hinterlassen. Oder, mit anderen Worten: Ich will sterben in der Gewissheit, mit meinem Dasein Schaden und Nutzen für das Lebenssystem Erde zumindest in der Balance gehalten zu haben.
Bis dato ist diese Bilanz natürlich tiefrot.
Die Entscheidung für dieses Vorhaben war eine private. Sie war zuvorderst egoistisch motiviert. Ich wollte mein Lebensgefühl verbessern und mein schlechtes Gewissen im Hinblick auf die Frage, was ich meinen Kindern mit meinem Leben hinterlasse, beruhigen. Ich hatte nicht die Erwartung oder gar die Absicht, dass aus diesem Entschluss mehr werden würde als ein, so dachte ich, nicht ganz einfaches, am Ende vielleicht ein wenig eigenwilliges Projekt, das mich Zeit, Energie und Geld kosten würde.
Gut zwei Jahre später, im Dezember 2018, erschien anlässlich der Weltklimakonferenz im polnischen Katowice ein von der US-amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press (AP) verbreiteter, recht langer und bebilderter Artikel über den Zwischenstand meines Vorhabens, der in über dreißig Ländern der Welt in großen Tageszeitungen veröffentlicht wurde. Am Erscheinungstag schrieben mir Freunde, Bekannte und Geschäftspartner, aber auch wildfremde Menschen aus Indien, Singapur, aus China, den USA und Australien, und schickten mir die Zeitungsmeldungen samt Fotos von meinem Hund Emil und mir. Ich las ihre E-Mails und Kommentare und betrachtete die Fotos, die mich staunen ließen. Das fühlte sich surreal an.
Als Kind hatte ich davon geträumt, berühmt zu werden, als Fußballer oder als Tennisspieler. Wir alle träumen wohl dann und wann davon. Als Unternehmer und Gründer von PRECIRE Technologies hatte ich im digitalisierungsskeptischen Deutschland dann tatsächlich einiges an medialer Aufmerksamkeit erfahren – meist ungefragt und nicht immer zu meinem Vorteil. Aber dass mich nun ein – aus meiner Warte – banales Vorhaben, nämlich im Tod ökologisch ein halbwegs aufgeräumtes Leben zu hinterlassen, für einen kurzen Moment weltweit präsent werden ließ: Das verstörte mich schon ordentlich. Ich erinnere mich, dass ich abends im Bett noch einige E-Mails und Nachrichten las und dann, nach dem Einschlafen, recht sonderbare Dinge träumte, die mich, unterwegs auf einer Art In 80 Tagen um die Welt-Reise, mehrfach aufwachen ließen, nur um den seltsamen Traum nach dem nächsten Einschlafen fortzusetzen.
Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, dass mein Vorhaben Neugier weckt. Ich finde die Idee dahinter weiterhin unspektakulär. Das lässt mich immer wieder zweifeln, ob mein »Green Zero«, meine grüne Null, tatsächlich so viel Aufmerksamkeit verdient. Aber die Geschichte der Idee und ihrer Umsetzung ist in der Tat ganz unterhaltsam.
Und diese Geschichte beginnt genau genommen so:
II
Mist.
Es ist ein ganz sanftes Ziehen in der Magengegend, irgendwo hinten-unten zwischen Beckenboden und Zwölffingerdarm, gefolgt von einem leichten Kräuseln meiner Jahr für Jahr wachsenden Stirn, das mir zweifelsfrei signalisiert:
Den Start hatte ich mir wohl deutlich leichter vorgestellt. Ernüchterung kehrt ein.
Mist.
Unschlüssig halte ich ein Paar brauner Socken in den Händen. Sie haben ihre beste Zeit eindeutig hinter sich. Der Linke scheint mir in Ehren gealtert, mit lichten Flecken dort, wo Hacke und Zehen seit einem ganzen Sockenleben mahlend und scheuernd an meinen Schuhen reiben, eine Art textiler Untergrundkämpfer zahlloser Meetings und Besprechungen, die er geduldig in meinen Schuhen, mal rechts, mal links, verbracht hat, freundlicher Schutz gegen die drohende Fußkälte in Herbst und Winter. Es steht nicht gut um ihn. Ich fühle mit ihm.
Und der Rechte? Oha, denke ich, während ich ihn gegen die Sonne halte, der Rechte ist in seinem Sockenleben noch einen Schritt weiter. Selbst für einen Veteranen der Haute Couture ist er ein trauriger Fall, dreifach gelöchert, mit Knubbeln und Rissen übersät und von schlapper Taille da, wo er sich einst entschlossen an mein Schienbein klammerte, überreif für die Altkleidersammlung oder den Restmüll. Ein bisschen schäme ich mich. War es mangelnde Pflege oder übermäßiger Gebrauch, das falsche Waschmittel oder ein Mangel an Weichspüler, die ihn derart zugerichtet haben? Zur Scham gesellt sich etwas Unwohlsein, und das am frühen Samstagmorgen.
Verflixt.
Das braune Paar ist, bei meinem ersten Griff, eine Zufallsbeute aus dem schubgeladenen Panoptikum meiner Fußkleider, einem wilden Haufen brauner, schwarzer, grüner und – hier muss mich ein modischer Teufel geritten haben – orangener Socken, die bis vor einer Minute einen friedlichen Samstagmorgen in der oberen Schublade meiner Schlafzimmerkommode verbracht haben. Sie reihen sich in der linken Hälfte zu knödeligen Formen irgendwie ineinander gewurstet auf, gefolgt von einer eindrucksvollen Rotte ehemals weißer – jetzt grauer – Sportsocken. Ich zähle acht Paar. Daneben liegen zwei Varianten mehrfarbiger, mehrschichtiger Socken zum Wandern in Braun und Grau, wahrscheinlich, so erkläre ich mir die farblichen Unterschiede, eins für das Flachland und eins fürs Gebirge. Dann drei Paar Socken für die Jagd, dunkelgrün und erschreckend groß, die wie erschlaffte Gummistiefel aussehen, eskortiert von zwei merkwürdigen kleinen Nylondingern, die sich wahrscheinlich aus dem Kleidungsfundus meiner beiden Töchter hierhin verirrt haben. Und während ich noch staune über den Irrsinn dieses eigentlich alltäglichen Anblicks, drängt sich schon vehement der rechte Teil der Schublade ins Blickfeld, in dem die Unterhosen ein großzügiges Terrain besetzen; ich will sie jedoch erst angehen, wenn ich mit den Socken durch bin.
Die Socken ihrerseits geraten nun, so scheint mir, in Unruhe. Ich kann ihre Verwirrung mit meiner eigenen wachsen spüren, denn – ihre penible Zählung steht bevor: die mit neutestamentarischer Konsequenz geführte Eintragung all meiner Socken und Unterhosen in lange Listen, aber auch all meiner Unterhemden, T-Shirts und Pullover, Hosen, Jacken, Mäntel und Westen, einschließlich des Regiments meiner Schuhe und Stiefel und noch all der Schals, Mützen und Hüte, der Handschuhe und Einstecktücher, der Fliegen und Krawatten, der Ersatzschnürsenkel, Anstecker und Abzeichen, der Börsen, Brieftaschen und Etuis, der Schlüsselbunde, Schweißbänder und Schirme. Nun ja, um genau zu sein: schlicht all der Dinge, die ich besitze und die ich, mit der nimmermüden Akribie eines fünfzigjährigen Konsumenten, angeschafft, genutzt, verwahrt, behütet, mehr oder weniger gepflegt, gefaltet, sortiert, gestapelt, verräumt, verlegt und – oft überraschend – vor-, aufund wiedergefunden habe.
Die Socken sind für mein Vorhaben, für das ich diesen Samstag im Januar schon vor Wochen eingeplant habe, ein ganz mieser Start. Denn schon nach wenigen Momenten meiner Beobachtermission muss ich feststellen, dass dieses Zählen bei Weitem nicht so einfach ist, wie es mir aufgegeben wurde: Einzutragen in lange Excel-Listen sind nämlich »Art des Kleidungsstücks« (»Socke«), »Anzahl« (»2«), »Alter« (ich rate: »24 Monate«) und, und spätestens da sperren sich die braunen Probanden hartnäckig, »Materialzusammensetzung« (»Baumwolle« – und was noch?), »Herkunftsland/-region« (ich habe keine Ahnung), »Herstellungsprozess konventionell« oder »Herstellungsprozess biologisch« (wer weiß denn so was?) und »Nutzungsdauer« (in Monaten; ich gebe beiden noch eine Gnadenfrist von einem Monat und trage »25« ein, weil ich den Tag nicht mit einem Verlust beginnen möchte).
Verzweiflung macht sich breit. Es ist ein Gefühl, wie ein Tennisspiel mit drei Doppelfehlern zu beginnen.
Ich überlege kurz, meine Frau um Hilfe zu rufen – doch sie hat meine Seelenpein quer durch alle Bruchsteinwände unseres alten Hauses längst erahnt. Sie kommt auf knarzenden Stufen die Wendeltreppe zum Schlafraum hinauf, ein die Antwort schon vorwegnehmendes »Und, klappt’s?« auf den Lippen. Sie kennt meine Mission, und sie goutiert sie mit freundlicher Langmut.
Ich schlucke und ringe mit der Formulierung, dann murmele ich in die Schublade:
»Weißt du, woher die Socken sind?«
»Geschenk von deiner Mutter, vorletztes Weihnachten.« Meine Frau erstaunt mich immer wieder.