Gewagter Ansatz

Leseprobe "Als mich die Reporterin von stern TV vor den Toren meiner Anstalt fragte, was ich denn mit den knapp 400 Gefangenen machen würde, wenn es nach mir ginge, antwortete ich: Ich würde alle freilassen."
Gewagter Ansatz

Foto: Ina Fassbender/AFP/Getty Images

Mein Weg ins Gefängnis und wieder heraus

Als mich die Reporterin von stern TV vor den Toren meiner Anstalt fragte, was ich denn mit den knapp 400 Gefangenen machen würde, wenn es nach mir ginge, antwortete ich: Ich würde alle freilassen. Als Journalistin freute sie sich über diese »steile These«, als Mensch hatte sie große Zweifel. Wie könnte man Derartiges verantworten? Was ist mit der Sicherheit der Allgemeinheit? Wäre das nicht ein Schlag ins Gesicht aller Kriminalitätsopfer?
Meine Tätigkeit im Strafvollzug hatte 2001 eher als Notlösung begonnen. Ich war nach Abschluss meines Jurastudiums beruflich unschlüssig und entschied mich nach kurzer Zeit als Anwalt für den Staatsdienst. Ein sicheres und gutes Gehalt und eine überschaubare Arbeitsbelastung waren meine Motivationen für die Bewerbung bei der Justiz. Auch die Aufstiegsmöglichkeiten waren gut. Bei meiner Einstellung sagte man mir, dass ich die Beförderung zum Regierungsdirektor nur durch Suizid verhindern könne.
Ich war nie zuvor in einer Justizvollzugsanstalt gewesen und wusste nicht, dass dort überhaupt Juristen tätig waren. Über den Strafvollzug hatte ich mir keine großen Gedanken gemacht. Das strafrechtliche Studium bestand vor allem in der Einübung mathematischer Regeln. Wenn A so handelt, ergibt das den Straftatbestand B, der dann zur Rechtsfolge C von X Monaten oder Jahren Haft führt. Ich dachte, wie wohl die Mehrheit der Menschen: Gefängnisse braucht es nun einmal. So fing alles an. Ein tieferes Interesse, eine Leidenschaft für die Frage, wie man am sinnvollsten mit Kriminalität und Straffälligen umgeht, habe ich erst im Laufe der Jahre entwickelt.
Meine erste Stelle war die eines Abteilungsleiters in der bayerischen Justizvollzugsanstalt Amberg. Dort war ich zuständig für etwa 200 Inhaftierte des sogenannten Hauptbaus, in dem die Gefangenen vor allem in 8-Mann-Hafträumen untergebracht waren. Der Dienstag und Donnerstag jeder Woche waren für Disziplinarverfahren reserviert. Ein Großteil der Gefangenen hatte ein Drogenproblem und die Anstalt war ein riesiger Umschlagplatz für Rauschmittel. Die Insassen konsumierten fleißig vor allem Cannabis und Heroin und wir disziplinierten sie dafür. Für Heroin gab es Arrest. Das bedeutete bis zu vier Wochen Isolation in einem winzigen Raum, in dem sich nur ein Bett und eine Bibel befanden. Wer das überstanden hatte, musste sich erst einmal wieder einen Schuss setzen oder einen Joint rauchen.
Im Nachhinein betrachtet habe ich vor allem durch diese Disziplinarverfahren Schuld auf mich geladen. Der Arrest ist eine archaische und nicht zu rechtfertigende Behandlung von Menschen, insbesondere von Suchtkranken, die es eben gerade nicht in der Hand haben, ob sie Drogen konsumieren oder nicht. Dass der Mensch so nicht zu einem besseren wird, war für mich früh zu spüren. Auch nicht, wenn man ihn mit sieben anderen Straftätern und Drogenkonsumenten zusammen in einen Haftraum sperrt, den er nur verlassen darf, um mit den gleichen Menschen für einen Lohn von 13 Euro am Tag zu arbeiten oder Runden im Hof zu drehen. Je länger ich in Amberg tätig war, desto mehr Gefangene sah ich, die immer wieder eingeliefert wurden, weil sie kurz nach ihrer Entlassung erneut straffällig geworden waren. Es dauerte allerdings noch viele Jahre, bis ich dieses Gefühl, dass vieles »faul« ist im Strafvollzug, ernst nahm. Bis ich es in Worte fassen konnte und es zu einer Überzeugung wurde. Denn schließlich war das ja der Staat, der hier handelte, und diesen zu hinterfragen kostet viel mehr Kraft und Zeit, als ihm zu folgen.
»Resozialisierung« war eine Art Zauberwort, um uns Mitarbeitern und der Allgemeinheit das Gefängnis schmackhaft zu machen. Ich vergleiche das gern mit der Art, wie zum Beispiel der Hersteller eines Riegels, der angeblich viel Milch enthält, aber vor allem aus einer Menge schädlichem Zucker und Fett besteht, dessen Förderlichkeit für die Gesundheit betont.
Tatsächlich gelebt wird der Resozialisierungsgedanke, dem eine dauerhafte Reduzierung des kriminellen Verhaltens der inhaftierten Straftäter zugrunde liegt, in deutschen Gefängnissen jedenfalls nicht. Er kann dort gar keinen Erfolg haben. Das Gefängnis und die dort Arbeitenden werden auch gar nicht daran gemessen, ob sie kriminelles Verhalten der Insassen auf Dauer reduzieren. Von den allermeisten Inhaftierten weiß man überhaupt nicht, was nach der Haft aus ihnen wird. Wenn man wissen will, ob eine Strafhaft für die Resozialisierung eines Verurteilten erfolgreich war, müsste man aber versuchen, das in Erfahrung zu bringen. Man will das aber nicht so genau wissen, da die vergleichsweise wenigen Daten, die es über Rückfälle entlassener Straftäter gibt, alles andere als vielversprechend sind. Faktisch wird das Gefängnis fast ausschließlich an der Sicherheit gemessen, die es der Bevölkerung verspricht, und sei diese Sicherheit noch so trügerisch. Solange jemand in Haft ist, darf kein Fehler passieren. Insbesondere kein Ausbruch. In den ersten Jahren meiner Anstellung in der JVA Amberg ist ein Inhaftierter ausgebrochen, indem er in nächtelanger Arbeit die Gitterstäbe seines Haftraumes durchgesägt hatte. Dieser grenzte an die Außenmauer des Gefängnisses, so dass er sich von dort in die Freiheit abseilen konnte. Ein Skandal, der die Anstalt unter enormen Druck setzte – obwohl der Gefangene in absehbarer Zeit ohnehin entlassen worden wäre und ohne schützende Mauern wieder unter uns leben sollte. Das Fenster dieses Raumes wurde zugemauert, so dass dort niemand mehr untergebracht werden konnte.
Um nicht missverstanden zu werden: Die Arbeit, die in den Gefängnissen geleistet wird, ist in allen Bereichen sehr anspruchsvoll und die absolut überwiegende Mehrheit der dort Beschäftigten ist engagiert und kompetent. Aber was hilft es uns allen, wenn ein Straffälliger in Haft durch große Bemühungen der Beamten zum Beispiel einen Schul- oder Ausbildungsabschluss nachholt und nach seiner Entlassung als ehemaliger Gefangener doch keine Chance auf dem Arbeitsmarkt hat? Was bringt es, wenn jemand, der immer wieder die Kontrolle über seine Aggressionen verliert und seine Partnerinnen schlägt, in Haft nicht weiter auffällig ist, weil er gar keine Möglichkeit hat, dort überhaupt eine Partnerschaft zu führen? Was hilft die Haft den Geschädigten von Vermögensstraftätern, die ihren Schaden nie ersetzt bekommen, weil Gefangene kaum etwas verdienen? Was hilft es den Opfern, wenn die Täter ihrer Verantwortung für die Taten allein dadurch gerecht werden, dass sie ihre Zeit im Gefängnis absitzen? Was hilft es der Allgemeinheit, wenn sich jemand – jeder Autonomie beraubt, aber auch jeder Verantwortung für das eigene Leben enthoben – einige Monate oder Jahre in Haft angepasst verhält und anschließend mit den Realitäten des Lebens in Freiheit völlig überfordert ist? Denn entlassen werden irgendwann fast alle Inhaftierten.
Es geht also nicht darum, die Menschen zu kritisieren, die im Strafvollzug arbeiten, oder die Arbeit, die sie dort leisten. Es geht darum, die Strukturen und die Rahmenbedingungen des Strafvollzugs zu hinterfragen, damit die Arbeit der Justizbediensteten möglichst erfolgreich sein kann.

Mit dem, was ich als schädliche Symbolwirkung des Gefängnisses bezeichnen würde, wurde ich während meiner siebenjährigen Tätigkeit als Abteilungsleiter in der Justizvollzugsanstalt Straubing konfrontiert – der Anstalt in Bayern mit der höchsten Sicherheitsstufe. Ein paar Hundert zu lebenslanger Freiheitsstrafe oder Sicherungsverwahrung verurteilte Männer sind dort inhaftiert. Unter ihnen sind Menschen, die wahrscheinlich immer wieder andere töten, vergewaltigen oder quälen würden und die ich auf keinen Fall in Freiheit sehen wollte. Aber ist es damit getan, sie einzusperren und die Allgemeinheit vor ihnen zu schützen? Dass es mindestens ebenso wichtig wäre, dafür Sorge zu tragen, dass in 20 Jahren nicht wieder jemand diese furchtbaren Dinge tut, ist vielen nicht bewusst. Jemand, der jetzt noch ein Kind ist. Im Zweifel übrigens ein Kind, dessen Bedürfnisse und Würde von klein auf missachtet und verletzt wurden, was nicht selten eine der Ursachen für Gewalttaten darstellt. Alle Welt ist schockiert und empört, wenn zum Beispiel ein Kind sexuell missbraucht und getötet wird. Dagegen muss etwas getan werden! Aber was wird wirklich getan? Der Täter kommt in Haft, wird dort über Jahrzehnte mit einem Aufwand von vielen Millionen verwahrt und therapiert und irgendwann entlassen, wenn er so alt ist, dass er kaum noch selbstständig gehen kann. Bei Weitem nicht jeder, der selbst in der Kindheit und Jugend Gewalt und Unrecht erlitten hat, wird irgendwann zum Straftäter. Aber bei fast allen Straffälligen ist in ihrer Biografie vieles schiefgelaufen. Das kann sie nicht entschuldigen, sollte den Staat aber zwingen, darüber nachzudenken, ob es nicht in vielen Fällen sinnvoller wäre, früher helfend zu intervenieren, als später nur zu strafen – mit einer höchst zweifelhaften Aussicht auf Erfolg.
Zwar sind schwere Übergriffe auf das Personal der Justizvollzugsanstalten zum Glück nicht an der Tagesordnung, wie etwa die furchtbare Geiselnahme und Vergewaltigung der Leiterin der sozialtherapeutischen Abteilung der JVA Straubing durch einen Inhaftierten, der eigentlich als erfolgreicher Teilnehmer der Therapie galt. Aber sie werfen in dramatischer Weise die Frage nach der Sinnhaftigkeit von vielem auf, was hinter den Gefängnismauern geschieht. Auch die Gewalt der Inhaftierten untereinander, wie etwa die Messerstecherei in der JVA Straubing in Kreisen der Russenmafia, die zu einem Toten und mehreren Schwerverletzten geführt hat, stellt immer wieder den Sinn von Gefängnissen in Frage. Denn sie dienen allein dem Zweck, möglichst viele Menschen in einer Anstalt kostengünstig bürokratisch zu verwalten. Die Eingesperrten sind fast ausschließlich Männer, zum Großteil junge Männer. Es ist unvermeidbar, dass in einem solchen Kontext Machtkämpfe, Aggressionen und Gewalt entstehen. Das wäre auch dann der Fall, wenn man einige Hundert rechtstreue Bürger in denselben Verhältnissen unterbringen würde.
Was also tun mit den Gefangenen meiner Anstalt, die im Durchschnitt zwischen ein und zwei Jahre Haft verbüßen und keine Mörder oder Schwerstverbrecher sind? Sie alternativlos freizulassen wäre keine gute Idee. Der Staat hat die Pflicht, das Mögliche zu tun, dass Einzelne anderen keinen Schaden zufügen. Er hat die Pflicht, dazu beizutragen, kriminelles Verhalten möglichst zu reduzieren. Und die Opfer von Straftaten haben ein Recht auf weitgehende Wiedergutmachung. Ohne staatliche Gewalt und ohne Zwang könnte unser Gemeinwesen nicht funktionieren. Dazu brauchen wir auch Strafen. Die Frage ist nur, wie wir strafen, was wir mit Strafen erreichen wollen und was wir mit diesen realistischerweise erreichen können. Wir müssen klug und sinnvoll strafen und dürfen uns weder von archaischen Impulsen leiten noch von Sonntagsreden beruhigen lassen.
Wie die Strafe der Zukunft aussehen sollte, beschreibe ich in diesem Buch. Neben meinen persönlichen Erfahrungen als Gefängnisdirektor und als Rechtsanwalt, mit Politikern und Journalisten haben mir auch die zahlreichen Diskussionen mit dem Publikum bei meinen Lesungen und Vorträgen gezeigt: Der Weg zu den Alternativen ist möglich und realistisch. Davon bin ich überzeugt. Es gibt vernünftigere Alternativen zum Gefängnis, wie wir es jetzt kennen.
Als ich also vor dem Gefängnis stand und sagte, dass ich die dort Inhaftierten freilassen würde, wurde mir selbst erst bewusst, dass ich nicht länger als Gefängnisdirektor tätig sein kann. Es ging nicht mehr nur um theoretische Fragen, es ging für mich darum, ob ich tatsächlich von dieser Haltung überzeugt war. Und das war und bin ich. Dann aber musste ich auch die Konsequenzen ziehen, um glaubwürdig zu sein. Ein Pfarrer muss aus der Kirche austreten, wenn er nicht mehr an Gott glaubt, sonst belügt er sich selbst und andere. Auch wollte ich nicht länger etwas tun, das ich letztlich für schädlich halte. Für Opfer, Gesellschaft und Täter. Für den Menschen. Daran ändern kann man innerhalb des Systems kaum etwas. Ich entschied mich, nun als Rechtsanwalt und Autor, für das zu kämpfen, was ich für richtig halte.

Wir alle wollen von Kriminalität verschont bleiben. Niemand möchte bestohlen, betrogen, vergewaltigt, verletzt oder gar getötet werden. Abhängig von Situation und Persönlichkeit haben wir sogar Angst vor solchen Straftaten. Sind wir selbst Opfer, verlangen wir die Wiedergutmachung des Schadens und entwickeln je nach Schwere der Tat ein Bedürfnis nach Rache und Strafe. Und selbst wenn wir nicht unmittelbar betroffen sind, empfinden wir vor allem bei schweren Straftaten Wut und Ärger. Unser Gerechtigkeitsgefühl verlangt auch dann nach Sanktionen, wenn wir weder Täter noch Opfer kennen oder die Tat weit entfernt geschah.
Als uns kurz vor Weihnachten 2018 die ersten Meldungen über eine Schießerei mitten in einer belebten Fußgängerzone der Wiener Innenstadt erreichten, bei der ein Mann einen anderen mit einem Kopfschuss tötete und einen weiteren schwer verletzte, ging es mir zunächst wie wohl den meisten: Ich war entsetzt und spürte das Verlangen nach einer schnellen Ergreifung des Täters, seiner Bestrafung und einer möglichst langen Inhaftierung in einem Gefängnis. Denn in unserer Vorstellung schützt uns dieses vor gefährlichen Menschen. Wir glauben, sie werden hinter Gittern menschenwürdig behandelt und auf ein straffreies Leben in Freiheit vorbereitet.
Nach und nach kamen immer mehr Informationen über die Gewalttat ans Licht. Die Opfer waren offenkundig führende Mafiamitglieder, die Tat war der Racheakt eines rivalisierenden Clans. Ich bin nicht dafür, dass Mafiamitglieder erschossen werden. Und dennoch: Mit diesem Wissen fand ich die Tat schon weit weniger beängstigend. Meine Wut und mein Strafbedürfnis sanken deutlich, ebenso mein Mitgefühl für die Opfer.
Ein und derselbe Vorgang löste also völlig unterschiedlich starke Emotionen und Bedürfnisse in mir aus. Unsere Wahrnehmung von Kriminalität, unsere Furcht vor Verbrechen, unsere Wut auf den Täter und unser Strafbedürfnis hängen also von unseren persönlichen Erfahrungen bzw. unserer Betroffenheit ab, aber auch ganz wesentlich von unserem Wissen über alle Details.

Das Opfer einer Straftat kann stärkere Wut auf den Täter verspüren als derjenige, der von dieser Straftat nur gehört oder gelesen hat. Wer glaubt, dass jeder Zweite irgendwann einmal beraubt wird, wird größere Sorge vor einem Raubüberfall haben als jemand, der weiß, dass die statistische Wahrscheinlichkeit viel geringer ist. Schließlich werden der Bestrafte und seine Angehörigen unser Strafrecht ganz anders beurteilen als diejenigen, die nie selbst strafrechtlich belangt worden sind.
Nicht wenige Menschen in Deutschland nehmen das Phänomen Kriminalität und das Gefängnis aus einer persönlich betroffenen Perspektive wahr. Etwa 64 000 Menschen sind derzeit in Deutschland in Haft (wenn man alle Formen der Inhaftierung wie Sicherungsverwahrung, Untersuchungshaft, Jugendstrafhaft und Erzwingungshaft dazuzählt). Die allermeisten Straftäter werden jedoch zu einer Bewährungs-oder Geldstrafe verurteilt. 2018 wurden beispielsweise 77,3 Prozent aller Angeklagten zu einer Geldstrafe verurteilt. Es ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer von nicht aufgedeckten Straftaten sehr hoch ist. Es werden Millionen von Straftaten jedes Jahr begangen. Nur für einen geringen Teil dieser Taten werden Menschen inhaftiert.
Wenn man jedoch berücksichtigt, dass so gut wie alle Gefangenen Ehepartner und / oder Kinder haben, sind es immerhin einige Hunderttausend Menschen jedes Jahr, die von der eigenen Inhaftierung oder der eines Familienmitglieds betroffen sind.
Die Zahl der Opfer bzw. der durch Straftaten Geschädigten ist naturgegeben noch erheblich höher. So wurden für das Jahr 2018 insgesamt 1 025 241 Personen als Opfer schwererer Delikte von Körperverletzung bis Mord polizeilich erfasst. Im gleichen Jahr gab es 386 Mordopfer und wurden fast 64 000 Fälle von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung registriert. Vor allem bei Letzteren kann man von einer erheblichen Dunkelziffer ausgehen. Zudem müssen nahe Angehörige, insbesondere bei Tötungsdelikten, ebenfalls zu den Betroffenen gezählt werden.
Der Deutsche Viktimisierungssurvey 2017 des Bundeskriminalamts weist nach einer repräsentativen Umfrage unter Personen mit einem Alter von mindestens 16 Jahren aus, dass in den letzten fünf Jahren vor der Befragung 8,1 Prozent der Haushalte Opfer eines versuchten oder vollendeten Einbruchdiebstahls geworden sind. Hochgerechnet auf die über 41 Millionen Privathaushalte in Deutschland10 sind das insgesamt über 3,3 Millionen Fälle. 4,7 Prozent der befragten Personen gaben an, in den zwölf Monaten vor der Befragung Opfer eines Waren- oder Dienstleistungsbetruges geworden zu sein.
Nicht zuletzt verdienen Hunderttausende Menschen in Deutschland ihr Einkommen als Richter, Staatsanwälte, Polizisten, Justizvollzugsbedienstete u. a. mit der Bekämpfung der Kriminalität. Auch sie nehmen das Thema als unmittelbar Betroffene wahr.

Die Mehrheit der Deutschen kennt Kriminalität jedoch nur aus den Medien, und manch einer mag einwenden, dass sich mit Fragen unseres Rechtssystems doch Expertinnen und Experten in Justiz, Politik und Wissenschaft beschäftigen mögen. Kriminalität ist jedoch nicht nur angesichts der großen Zahl an Tätern und Opfern ein gesellschaftlich höchst relevantes Thema, sondern auch, weil sie unsere stärksten Emotionen, individuell wie kollektiv, hervorruft. Unsere Angst und Wut, unser Hass und Mitgefühl sind es, die die härteste staatliche Gewalt gegenüber Individuen legitimieren. Sie soll der Gerechtigkeit dienen.
Kriminalität betrifft uns alle, denn wir alle können potenzielle Opfer sein und womöglich sogar potenzielle Täter. Niemand ist davor gefeit, unter bestimmten Umständen auch straffällig zu werden. Und zu guter Letzt sind wir alle Strafende. Wir haben unser Bedürfnis nach Strafe lediglich an den Staat delegiert.
Unser Recht ist der Versuch, einen möglichst gerechten Ausgleich der unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen zu finden. Dabei folgt es keinen Naturgesetzen wie in der Medizin, der Physik oder der Biologie. Was wir als eine Straftat definieren und welche Folgen diese für den Täter haben soll, entscheiden wir als Gesellschaft immer wieder neu.
Unser Strafrecht ist geprägt von dem Wunsch, dem mutmaßlichen Gerechtigkeitsempfinden der Allgemeinheit zu entsprechen. Urteile werden im Namen des Volkes gesprochen. Nichts bedarf so sehr der demokratischen Legitimation, Kontrolle und Mitwirkung wie das Strafrecht.
Doch Strafen haben keine Berechtigung per se. Sie dienen der Reduzierung von Gewalt und Konflikten innerhalb einer Gemeinschaft, müssen aber auch vermittelt werden können. Die Erklärung, ein Fall habe juristisch seine Richtigkeit, reicht dabei nicht aus. In dem Maße, in dem das Strafrecht von einer Mehrheit nicht mehr als sinnvoll und gerecht empfunden wird, verliert es seine Berechtigung.
Heute wird eine Mehrheit unsere Art zu strafen, insbesondere die Gefängnishaft, noch für sinnvoll, notwendig und gerecht halten. Was aber, wenn sie mehr über die Gründe für Straftaten, über die Realität von Haftanstalten und ihre Folgen wüsste? Ich möchte daher einladen, genauer hinzusehen: auf Täter und Opfer, auf Kriminalität und Gefängnisse.

Und auf uns.

14.05.2020, 14:22

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Biographie Thomas Galli studierte Rechtswissenschaften, Kriminologie und Psychologie. Von 2001 bis 2016 arbeitete er im Strafvollzug, mehrere Jahre davon als Anstaltsleiter. Daneben ist er als Publizist tätig
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