Ewiger Kampf

Leseprobe "Wie also Marx sagt: 'Das Kapital ist daher rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird.'"
Ewiger Kampf

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Einleitung

Einhundert Jahre nach Durchsetzung des Achtstundentags, der am 1. Januar 1919 in Deutschland allgemeines Gesetz wurde, wird noch immer darum gekämpft und gesellschaftlich gestritten, was als Normalarbeitstag gilt und wie dieser garantiert werden kann – und muss. »Wir Arbeitgeber sind gegen die generelle Wiedereinführung der Stechuhr im 21. Jahrhundert«, hieß es im Mai 2019 in einer Stellungnahme der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Auf die Anforderungen der Arbeitswelt 4.0 könne man nicht mit einer Arbeitszeiterfassung 1.0 reagieren.[1] Damit antworteten sie auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Dieser hatte entschieden, dass Unternehmen verpflichtet werden müssen, Systeme zur Arbeitszeiterfassung einzurichten. Nur so lasse sich kontrollieren, ob zulässige Arbeitszeiten eingehalten würden, ein im EU-Recht zugesichertes Recht. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) begrüßte das Urteil. DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach: »Das Gericht schiebt der Flatrate-Arbeit einen Riegel vor – richtig so.« Flatrate-Arbeit, Arbeiten zum Pauschaltarif, ohne Zeitbegrenzung. Da lacht das Unternehmerherz. Dazu muss man wissen: Die Anzahl unbezahlter Überstunden bewegt sich in Deutschland bereits seit Jahren auf einem im europäischen Vergleich überdurchschnittlich hohen Niveau. Das kommt einem Lohn- und Zeitdiebstahl gleich. »Innerhalb eines Jahres«, so Buntenbach weiter, »wirtschaften sich die Arbeitgeber so rund 18 Milliarden Euro in die eigene Tasche.« Hinzu kämen ernsthafte gesundheitliche Folgen für die Arbeitnehmerinnen und -nehmer.[2] Kaum anders hörte es sich vor über 150 Jahren an: »Wenn Sie mir erlauben«, so ein bei Karl Marx zitierter »Fabrikherr« über seine Arbeiter und Arbeiterinnen, »täglich nur 10 Minuten Überzeit arbeiten zu lassen, stecken Sie jährlich 1000 Pfd. St. in meine Tasche«. Und weiter: »Zeitatome sind die Elemente meines Gewinns.«[3]

Der Kampf um die Normierung des Arbeitstags ist Gegenstand von Marx’ Analyse des Kapitals und war im 19. Jahrhundert – kaum verwunderlich – wesentlicher Teil der sozialdemokratischen Agitation und der gesellschaftlichen Kämpfe. Eigentlich ist es offensichtlich. Wer täglich zehn Stunden arbeitet, kann in dieser Zeit zu Hause weder Wäsche zusammenlegen noch putzen, nicht kochen, mit den Kindern spielen, essen oder schlafen, sich nicht zum Fußballspielen verabreden, seine Liebsten treffen oder einfach auf dem Sofa liegen. »Als die Arbeiterbewegung den Normalarbeitstag forderte, begründete sie ihn mit einer plausiblen Aufteilung der Zeit, die gleichsam der Natur der Verhältnisse zu entsprechen schien: acht Stunden Unternehmerdienst – acht Stunden Schlaf – acht Stunden Menschsein« – so Oskar Negt.[4] Marx hätte das sicher etwas umständlicher formuliert.

Normalarbeitstag – reaktionär oder fortschrittlich?

Der Kampf um den Normalarbeitstag begleitete Marx und Engels fast seit Beginn ihrer politischen und schriftstellerischen Tätigkeiten. Engels natürlich weitaus früher als Marx. Während Marx sich noch eher mit philosophischen Fragen beschäftigte, legte Engels als 24-Jähriger 1845 seine Studie zur Lage der arbeitenden Klasse in England vor.[5] Darin ging es ebenso um die Kämpfe um Arbeitszeitverkürzung wie in Artikeln, die er 1850 anlässlich eines Gerichtsurteils schrieb. Dieses hatte dafür gesorgt, dass Vergehen gegen die gesetzliche Festsetzung des Arbeitstags (Zehnstundenbill) nicht geahndet wurden – ein Freifahrtschein für das Kapital. Interessant und erhellend zugleich ist ein Vergleich jener frühen Arbeiten mit späteren Aussagen. So schrieb Engels 1891:

»Die 8-Stunden-Bewegung geht famos [...]. Die legal 8 hours agitation ist für die Engländer die Pforte zur sozialistischen Bewegung, haben sie die 8-Stunden-Bill für alle, auch Männer, einmal verschluckt [...], so scheuen sie vor nichts mehr zurück: das ist der Bruch mit der alten freetrade bourgeois Anschauung.«[6]

Der Kampf für einen Achtstundentag scheint ihm also Katalysator für eine viel radikalere Bewegung. Noch 1850 hatte Engels eine ganz andere Einschätzung vertreten.

»So war die Zehnstundenbill an sich und als abschließende Maßregel entschieden ein falscher Schritt, eine unpolitische und sogar reaktionäre Maßregel.«[7]

In einem anderen Text zu Thema schlussfolgerte Engels:

»Die Zehnstundenbill bot ein vortreffliches Terrain für diese reaktionären Klassen und Fraktionen, um auf ihm sich mit dem Proletariat gegen die industrielle Bourgeoisie zu verbinden. [...] War die Zehnstundenbill hauptsächlich von Reaktionären vertreten und ausschließlich von reaktionären Klassen durchgesetzt worden, so sehen wir hier, dass sie in der Weise, wie sie durchgesetzt wurde, eine durchaus reaktionäre Maßregel war.«[8]

Engels beurteilte den Kampf für die Begrenzung des Arbeitstags also völlig widersprüchlich: das eine Mal als zutiefst fortschrittsfeindlich, das andere Mal als emanzipatorisch, gar als die Pforte, die durchschritten, aus der Arbeiterbewegung eine revolutionäre, sozialistische Kraft machen sollte.

Was war zwischen dem Jahr 1850 und dem Jahr 1891 passiert? Hatte Altersmilde eingesetzt? Machen allein zwei Stunden – einmal ging es um den Zehnstunden-, das andere Mal um den Achtstundentag – aus einer reaktionären eine fortschrittliche Forderung? Neben der Tatsache, dass für Engels Bewertung des politischen Projekts der Arbeitszeitregulierung die Träger der Forderungen sowie die je konkrete Klassenkonstellation wohl entscheidend waren, hatte er dank seiner Auseinandersetzung mit dem marxschen »Kapital« auch hinzugelernt. Marx hat im »Kapital« den Kampf um den Normalarbeitstag eingehend analysiert und das mit einem begrifflichen Instrumentarium, das weder Engels noch Marx in den 1850er-Jahren zur Verfügung stand.

Überlegungen zum Arbeitstag im »Kapital«

Was aber ist bei Marx zu lesen? Schließlich war trotz Analyse und Begriffsarbeit auch für ihn der Normalarbeitstag gern herangezogenes Beispiel, wenn es um die Frage geht, wie Politik im und gegen den Kapitalismus zu denken ist.[9] Marx beanspruchte, die Momente herauszuarbeiten und zu analysieren, die den Kapitalismus kapitalistisch machen. Er nannte sein Kapitel »Der Arbeitstag« im ersten Band des »Kapital« eine »historischen Skizze«.[10] Noch in den »Grundrissen« sah Marx für den Arbeitstag einen anderen Ort vor, im »Kapitel vom Arbeitslohn«.[11] Warum ist das Kapitel im »Kapital« da, wo es ist, und welchen systematischen Stellenwert hat es, wenn es sich nur um eine historische Skizze handelt?

Bevor Marx im achten Kapitel dem Arbeitstag auf den Grund geht, hat er in den Kapiteln zuvor die Produktion des absoluten Mehrwerts als Arbeits- und Verwertungsprozess analysiert sowie den Begriff des Kapitals entwickelt, als sich verwertenden Wert, und die Bedingungen für diesen Prozess dargestellt: Die Arbeitskraft muss als Ware auf dem Markt vorzufinden sein, demnach der Lohnarbeiter doppelt frei ist, frei von unmittelbaren Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnissen, aber auch frei von Produktionsmitteln, die es ihm ermöglichen könnten, ohne den Verkauf der Arbeitskraft an Dritte zu produzieren und Waren zu verkaufen, mit deren Gelderlös das eigene Überlegen gesichert werden kann.

Marx zeigt, dass das Kapital, um sich verwerten zu können, Arbeitskraft einkauft, Lohn bezahlt und die Arbeitskräfte unter seinem Kommando arbeiten lässt. Arbeitskraft, die im Kapitalismus zu einer Ware geworden ist, ist Arbeitsvermögen, die Fähigkeit zu arbeiten. Das Kapital kauft die Arbeitskraft, um sich den Gebrauchswert dieser Ware anzueignen. Über den Gebrauchswert der Arbeitskraft schreibt Marx, er »zeigt sich erst im wirklichen Verbrauch, im Konsumtionsprozess der Arbeitskraft« und dieser »Konsumtionsprozess der Arbeitskraft ist zugleich der Produktionsprozess von Ware und von Mehrwert«.[12] Der Gebrauchswert der Arbeitskraft besteht darin, neuen Wert bilden zu können. Den Wert der Ware Arbeitskraft bestimmt Marx hingegen mit dem Wert, der zu ihrer Erhaltung notwendigen Lebensmittel. Dieser wird, so Marx’ Beispiel im »Kapital«, in sechs Stunden gebildet, einem halben Arbeitstag. Die in diesem Teil des Arbeitstags geleistete Arbeit nennt Marx »notwendige Arbeit«. Die Arbeitskräfte können aber länger als sechs Stunden arbeiten. Sie können also einen größeren Wert bilden, als zu ihrer Erhaltung notwendig ist. Die Arbeitszeit über die »notwendige Arbeit« hinaus nennt Marx »Mehrarbeit«, sie bildet den absoluten Mehrwert.

Arbeit und Ausbeutung gab es bereits vor dem Kapitalismus, unter der Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise haben diese jedoch eine bestimmte Form angenommen. Das Spezifische der kapitalistischen Produktionsweise ist, dass die unmittelbar Produzierenden von den Produktionsmitteln getrennt sind, das heißt, dass sie ihre Arbeitskraft gegen Lohn verkaufen müssen, um ihr Leben bestreiten zu können. Hinzu kommen jedoch spezifische Bedingungen, unter denen Produktionsmittel und Arbeitskräfte vereinigt werden »in der Hand des Kapitalisten [...] – nämlich als produktive Daseinsweise seines Kapitals«.[13] Der Verwertungszweck – dass aus Geld (G) mehr Geld (G‘) wird – ist demnach das wesentliche Unterscheidungsmerkmal kapitalistischer Eigentumsverhältnisse in Abgrenzung zu vorkapitalistischen Epochen, in denen die Produktion »gebrauchswertorientiert« verlief, es also nicht um eine blindgetriebene Dynamik ging, eine Dynamik, die auch den Einsatz und die Verteilung der Arbeit in der Gesellschaft regelt. Dieser Unterschied drückt sich auch in einer eigenen Zeitlichkeit aus: »Für die agrarisch-handwerkliche Arbeitskraft ist die bürgerliche Formel, ›Zeit ist Geld‹, höchst irrational und widerspricht zudem der aufgabenorientierten Arbeitsauffassung.«[14] Mit dem Ende der feudalen Produktionsweise verändern sich deshalb der Arbeits- und der Zeitbegriff grundlegend. Auch die Abschöpfung des Mehrprodukts folgte in vorkapitalistischen Gesellschaften einer anderen Logik: Die Herrschenden beuteten für historisch-spezifisch andere Bedürfnisse aus: für ein repräsentables Leben, für Gottgefallen durch Stiftung großer religiöser Bauten und um Kriege führen zu können. Der Zweck der Ausbeutung war nicht die selbstreferenzielle Akkumulation von Kapital.

Dieser Analyse des Kapitals und seiner Voraussetzungen im vierten Kapitel des »Kapital« geht in den drei vorangegangenen Kapiteln voraus, was die kapitalistische Produktionsweise als Spezifische auszeichnet: Die Produkte von Arbeit nehmen die Form von Waren an. Der Tausch ist vorherrschende Form des gesellschaftlichen Stoffwechsels geworden. Die Produktion ist Privatproduktion, das heißt, es findet keine bewusste Koordinierung der Arbeit statt. Ob etwas ein gesellschaftliches Bedürfnis befriedigt, stellt sich erst im Nachhinein heraus. Die Produktion ist nicht mehr »gebrauchswertorientiert«. Die Vergesellschaftung der Arbeit ist also eine nachträgliche, sie erfolgt ex post mittels des Geldes. Deshalb ist kapitalistische Warenwirtschaft immer Geldwirtschaft. Wenn Geld mit dem Zweck investiert wird, mehr Geld daraus zu machen, organisiert diese spezifische Form des Investitionsverhaltens, wie Arbeit in einer Gesellschaft eingesetzt wird – ohne dass vorher klar ist, ob sich das eingesetzte Geld verwertet, ja, ob die Arbeit, die dann tatsächlich verrichtet wird, überhaupt gesellschaftlich notwendig war. Die kapitalistische ist demnach nicht nur eine höchst irrationale, sondern auch eine verschwenderische Produktionsweise – in Bezug auf natürliche Ressourcen und menschliche Lebenszeit.

Mit dem Kapitel zum Arbeitstag endet der dritte Abschnitt des »Kapital« (»Die Produktion des absoluten Mehrwerts«) und es stellt sich die Frage, welchen methodischen Grund es für Marx gab, hier einen Ausflug in die Geschichte zu machen, den historischen Kämpfen um Arbeitszeit nachzugehen. Hierfür gibt es im Wesentlichen drei Gründe.

Staatlicher Zwang zu Arbeit

Die Lohnarbeitenden »müssen erst gezwungen werden, zu den vom Kapital gesetzten Bedingungen zu arbeiten. Der Eigentumslose ist mehr geneigt, Vagabund und Räuber und Bettler als Arbeiter zu werden. Dies versteht sich erst von selbst in der entwickelten Produktionsweise des Kapitals.«[15] Das die Eigentumslosen überhaupt eigentumslos sind, ist auch Gegenstand einer »historischen Skizze« der sogenannten ursprünglichen Akkumulation gegen Ende des ersten Bandes des »Kapital«.[16]

Aber auch hier ergänzt Marx:

»Es ist nicht genug, dass die Arbeitsbedingungen auf den einen Pol als Kapital treten und auf den andren Pol Menschen, welche nichts zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft. Es genügt auch nicht, sie zu zwingen, sich freiwillig zu verkaufen. Im Fortgang der kapitalistischen Produktion entwickelt sich eine Arbeiterklasse, die aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt.«[17]

Arbeitskräfte arrangieren sich demnach nicht freiwillig mit ihrem Dasein als Lohnarbeiter, sie müssen von staatlicher Seite gezwungen werden, sie werden »durch grotesk-terroristische Gesetze in eine dem System der Lohnarbeit notwendige Disziplin hineingepeitscht, gebrandmarkt, gefoltert«.[18] Das zeichnet Marx anhand der englischen »Blutgesetzgebung« des 15. und 16. Jahrhunderts im 24. Kapitel nach, aber auch im achten Kapitel entlang der Zwangsgesetze zur Verlängerung des Arbeitstags.[19] Diese waren unter anderem deshalb notwendig, weil noch Formen der Hausarbeit für das Kapital zentral waren (Verlagssystem), ein Übergangsstadium vom Handwerk zur Manufaktur. Die Verleger, die ihr Kapital verwerten wollten, konnten die unmittelbar Produzierenden nur über den bezahlten Stücklohn unter Druck setzen, länger zu arbeiten.

»Die Verleger hatten jedoch keine Möglichkeit, die konkrete Zeiteinteilung im Arbeitsprozess der Heimarbeiter zu beeinflussen. Verleger konnten keine festen Arbeitszeiten erzwingen oder die Einhaltung von Arbeitszeiten direkt kontrollieren. Heimarbeiter waren, bei aller Abhängigkeit, noch wesentlich eigene Regenten ihrer Zeitaufteilung.«[20]

Die außerökonomische Zwangsgewalt trat auf den Plan: der Staat. Die Disziplinierung war damit keineswegs beendet und durchzog als soziale Praxis und in Form der Normalisierung die Fabrik, den außerbetrieblichen Alltag bis hin zu Festen sowie religiösen und nicht-religiösen Feiertagen, ganze Dörfer und zunehmend die gesamte Gesellschaft.

Der Historiker Edward P. Thompson fasst es anschaulich zusammen:

»Der ersten Generation der Fabrikarbeiter wurde die Bedeutung der Zeit von ihren Vorgesetzten eingebläut, die zweite Generation kämpfte in den Komitees der Zehn-Stunden-Bewegung für kürzere Arbeitszeit, die dritte schließlich für einen Überstundenzuschlag. Sie hatten die Kategorien ihrer Arbeitgeber akzeptiert und gelernt, innerhalb dieser Kategorien zurückzuschlagen. Sie hatten ihre Lektion – Zeit ist Geld – nur zu gut begriffen.«[21]

Auch wenn die Realisierung des Gebrauchswerts der Arbeitskraft, nämlich zu arbeiten, weiterhin umkämpft und ein Dauerkonflikt bleibt. In der Arbeitssoziologie wird das als »Transformationsproblem« bezeichnet: Wie gelingt es dem Kapital, dass die Arbeitskräfte unter den von ihm gesetzten Bedingungen auch arbeiten?

Staatlicher Zwang, die Arbeitszeit zu begrenzen

Die Dynamik des Kapitals führt zur Ausdehnung der Arbeitszeit. Gern wird behauptet, der Grund liege auf der Hand, da die Ausdehnung der Arbeitszeit zusätzlichen Mehrwert ermöglicht. Für das Kapital ist aber die Profitrate relevant. Zu berücksichtigen ist also, was für Produktionsmittel ausgegeben wird, wie der Mehrwert im Verhältnis zu Arbeitskraft und Produktionsmittel aussieht. Gehören die Produktionsmittel nicht mehr den unmittelbar Produzierenden, soll das verausgabte Geld sich als Kapital verwerten, existieren sie als »produktive Daseinsweise« des Kapitals, dann hat das tief greifende Auswirkungen auf die Anwendung der Produktionsmittel. Dem Technikhistoriker Akoš Paulinyi zufolge stellt der

»Übergang zum Fabriksystem [...] sowohl die Unternehmer als auch die Arbeiter vor eine neue Situation. [...] Im Schnitt lag der Kapitalaufwand beispielsweise höher als im Verlagssystem. Er sollte Gewinn abwerfen. Deshalb mussten die Betriebsanlagen ausgelastet sein; jeder Stillstand, jede Unterbrechung der Produktion brachten wegen der hohen Fixkosten Verluste. Die Grundvoraussetzung der Auslastung waren eine regelmäßige Arbeitszeit und, dies meinten viele Unternehmer der Textilindustrie, ein möglichst langer Arbeitstag oder gar ein Betrieb rund um die Uhr. – Für die Arbeiter bedeutete der Eintritt in die Fabrik – im Vergleich mit dem Verlagssystem oder mit dem Handwerk – eine Trennung von ihrer Wohnstätte. Außerdem brachte die Fabrikarbeit, ähnlich wie in einer zentralisierten Manufaktur, den Verlust der Selbstbestimmung des Arbeitsrhythmus, der Arbeitsintensität und der Gestaltung der Länge sowie Ablauf eines Arbeitstages und einer Arbeitswoche mit sich.«[22]

Trennung von Wohnstätte und Fabrik bedeutete jedoch viel mehr, denn mit dieser räumlichen Trennung ging auch die soziale Trennung von nicht bezahlter Reproduktionsarbeit im Haushalt und Lohnarbeit einher – die neue Form geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, die sogleich von einer geschlechtsspezifischen Fabrikgesetzgebung begleitet wurde. Paulinyi führt weiter aus:

»Mit 6 Arbeitstagen in der Woche und einer effektiven Tagesarbeitszeit von 12 bis 14 Stunden entstand durch das Fabriksystem vorerst eine Verlängerung der Arbeitszeit. [...] Der im Normalfall ununterbrochene und regelmäßige Gang der Maschinen verlangte eine ebenso ununterbrochene und regelmäßige Konzentration und eine vom Rhythmus der Maschinen bestimmte Wiederholung ein und derselben Handgriffe. Dennoch ist die häufig anzutreffende Behauptung, die Arbeitsintensität sowie die Arbeitszeit seien von der Technik bestimmt gewesen, irreführend. Sie wurden von den ökonomischen Erwartungen der Unternehmen bestimmt. Zwar gab es eine minimale Drehzahlgeschwindigkeit der Spindeln, die nicht unterschritten werden durfte, wenn Garn und nicht ein Knäul produziert werden sollte, doch alles, was darüber hinaus gesteigert wurde, war kein technischer Zwang, sondern der Einsatz technischer Mittel zur Optimierung der Kosten-Nutzen-Relation, das heißt schließlich zur Gewinnmaximierung.«[23]

Nicht die Ausbeutung der Arbeit treibt das Kapital an, die Arbeitszeit zu verlängern. Vielmehr ist es die Notwendigkeit, das vorgeschossene Kapital zu verwerten. Der Phase der unendlichen Ausdehnung der Fabrikzeiten bereiteten Zwangsgesetze ein Ende.[24] Die destruktive Dynamik des Kapitals unterminierte nämlich zunehmend eine seiner Grundlagen: gesunde, auszubeutende Arbeitskräfte. Auch die Staatsadministration musste registrieren, dass es dank der Orgien des Kapitals[25] kaum mehr auf tapfere und starke Soldaten zurückgreifen konnte. Da kam der Ruf von Fabrikanten zur rechten Zeit, die nach einem allgemeinen Gesetz verlangten, denn kein Fabrikant sollte einen Konkurrenznachteil dadurch haben, weil er zu »menschlicheren« Arbeitszeiten schuften ließ. Diese Forderung konnte auch im Einklang mit gewerkschaftlichen Forderungen vorgebracht werden – ein Gesetz folgte, schließlich ist »gleiche Exploitation der Arbeitskraft [...] das erste Menschenrecht des Kapitals«.[26] Der Staat setzte als »ideeller Gesamtkapitalist« (Engels) und aus »Eigeninteresse« neue Regeln auf und durch, die mit einem neuen Phänomen einhergingen: der Entstehung von Statistiken und eines »offiziellen Wissens«, die »gutes Regieren« sowie das Verwalten des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters ermöglichen und begründen sollten und derart das Gesamtinteresse des Kapitals garantieren.[27]

Aber diese beiden »historischen Skizzen« begründen noch nicht, warum es diese Ausführungen zur Länge des Arbeitstags an dieser spezifischen Stelle der Darstellung im »Kapital« bedarf. Der Grund liegt in der marxschen Argumentation, in seiner Darstellungsweise, die an eine Grenze stößt.[28] Warum?

Antinomie gleicher Rechte

Der Anspruch des Kapitals, ja der Zwang, den Gebrauchswert der Arbeitskraft möglichst maximal zu konsumieren, steht der Anspruch der Lohnarbeitenden gegenüber, die eigene Arbeitskraft längerfristig zu erhalten. Beide Rechte berufen sich auf den gleichen gesellschaftlichen Referenzrahmen, die Gesetze der Warenproduktion – und Marx ist an dieser Stelle alles andere als moralisch:

»Der Geldbesitzer hat den Tageswert der Arbeitskraft bezahlt; ihm gehört daher ihr Gebrauch während des Tages, die tagelange Arbeit. Der Umstand, dass die tägliche Erhaltung der Arbeitskraft nur einen halben Arbeitstag kostet, obgleich die Arbeitskraft einen ganzen Tag wirken, arbeiten kann, dass daher der Wert, den ihr Gebrauch während eines Tages schafft, doppelt so groß ist als ihr eigner Tageswert, ist ein besondres Glück für den Käufer, aber durchaus kein Unrecht gegen den Verkäufer.«[29]

Marx löst diese Konstellation anders auf:

»Es findet hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt. Und so stellt sich in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstags als Kampf um die Schranken des Arbeitstags dar – ein Kampf zwischen dem Gesamtkapitalisten, d.h. der Klasse der Kapitalisten, und dem Gesamtarbeiter, oder der Arbeiterklasse.«[30]

Mit dieser Rechtsantinomie – Widerstreit von gleichen Rechtsansprüchen – ist eine Grenze der Darstellung erreicht. Die Länge des Arbeitstags kann nicht begrifflich entwickelt werden (eine Form von Begründung, wie sie Marx etwa bei der Analyse der Wertform praktiziert). Es kann nur eine Minimalschranke skizziert werden, das Kapital muss sich verwerten können, und eine Maximalschranke, die die physische Existenz der Arbeitenden gewährleistet. Die konkrete Länge des Arbeitstags resultiert aus dem Kampf zwischen Arbeit und Kapital. Die historische Darlegung zum Arbeitstag ist demnach keine Illustration, die einfach weggelassen werden könnte, sie hat einen systematischen Charakter. Dieser systematische Charakter ist nicht nur methodisch relevant, sondern auch politisch:

»Der Klassenkampf ist die Form, in der die Antagonismen der kapitalistischen Produktionsweise ihre historisch-spezifischen ›Lösungen‹ erfahren, ohne dass sie damit jedoch zum Verschwinden gebracht wären. Die prinzipielle Instabilität der ›Lösungen‹ als den Effekten einer bestimmten aktuellen Kräftekonstellation macht sie jederzeit durch eine geänderte Konjunktur des Klassenkampfs revidierbar – unbeschadet dessen, dass alle diese Konstellationen durch Strukturgesetze der kapitalistischen Produktionsweise determiniert sind.«[31]

Damit ist nicht nur klargeworden, warum das Kapitel zum Arbeitstag zu lesen ist, wo Marx es vorsah, sondern auch, welchen Lernprozess Marx und Engels mit dem »Kapital« bei der politischen Bewertung des Kampfs um den Normalarbeitstag vollzogen haben. Es kann nun bestimmt werden, welche Formen sich reproduzieren müssen, damit sich die kapitalistische Produktionsweise als Produktionsweise reproduzieren und fortexistieren kann. Marx und Engels wurden deshalb noch lange keine Gegner von Reformen oder Verbesserungen proletarischer Lebensbedingungen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Erst mit der marxschen Theorie ist es möglich zu zeigen, wie und wo der Kapitalismus Spielräume für solche Reformen aufweist, ohne als Kapitalismus aufzuhören. Etwa beim Kampf um den Normalarbeitstag. Bei allen Spielräumen geht es immer auch darum, die Grenzen benennen zu können und sich ihnen in politischen Auseinandersetzungen bewusst zu sein. Das klingt etwas schematisch. Es ist aber etwas anderes, höhere Löhne zu fordern als das Ende einer Gesellschaft, die auf Lohnarbeit und Kapitalverwertung basiert. Alexander Gallas unterscheidet vor diesem Hintergrund analytisch zwischen Kämpfen innerhalb von Formen und Kämpfen um die Formen selbst.[32] Der Kampf um oder gegen die Formen hat ein Verständnis von deren gesellschaftlicher Beschaffenheit zur Voraussetzung. Edward P. Thompson bringt es für die Arbeitszeit wie folgt auf den Punkt: »Sobald sich die neue Zeitdisziplin durchgesetzt hat, beginnen die Arbeiter zu kämpfen, und zwar nicht gegen, sondern um die Zeit.«[33]

Sobald die Zeitdisziplin etabliert ist, die Konkurrenz selbst gelebt wird und gelebt werden muss, bekommt auch der Normalarbeitstag eine politisch andere Bedeutung. So erklärt Marx kurz nach Erscheinen des ersten Bandes des »Kapital« Ludwig Kugelmann: »Was das Fabrikgesetz betrifft – als erste Bedingung, damit die Arbeiterklasse ellbowroom [Ellenbogenfreiheit] zur Entwicklung und Bewegung erhält – so fordere ich es von Staats wegen, als Zwangsgesetz, nicht nur gegen Fabrikanten, sondern auch gegen die Arbeiter selbst.«[34] Marx geht demnach davon aus, dass ein allgemeines Gesetz zur Arbeitszeitbeschränkung auch die Arbeiterinnen und Arbeiter vor sich selbst schützt, die nicht nur aufgrund der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt gezwungen werden, sich dem Kapital anzudienen. Aufgrund der »Religion des Alltagslebens«[35] glauben sie tendenziell selbst daran, dass ihre Arbeit und nicht ihre Arbeitskraft bezahlt wird, Leistung sich lohnt, jeder seines Glückes Schmied und Zeit Geld ist.

Auf Grundlage der Erkenntnisse des »Kapital« liegt demnach eine andere Einschätzung über den revolutionären Charakter des Proletariats nahe als die, die Marx und Engels noch um 1850 pflegten, nämlich dass das Proletariat aufgrund seiner Bestimmung und dem Lauf der Geschichte zur Revolution drängt, was durch Arbeitszeitregelungen nur verzögert wird. Vielmehr können, so Engels, Fabrikgesetze dazu beitragen, die Kräfteverhältnisse zugunsten der Arbeiter zu verschieben:

»Die Fragen, in denen sozialdemokratische Abgeordnete aus der reinen Negation heraustreten können, sind sehr eng begrenzt. Es sind alles Fragen, in denen das Verhältnis der Arbeiter zum Kapitalisten direkt ins Spiel kommt: Fabrikgesetzgebung, Normalarbeitstag, Haftpflicht [...] In allen andern ökonomischen Fragen wie Schutzzölle, Verstaatlichung der Eisenbahnen, der Assekuranzen usw. werden sozialdemokratische Abgeordnete immer den entscheidenden Gesichtspunkt behaupten müssen, nichts zu bewilligen, was die Macht der Regierung gegenüber dem Volk verstärkt. Und es ist dies umso leichter, als hier ja regelmäßig die Stimmung in der Partei selbst gespalten sein wird und damit Enthaltung, Negation von selbst geboten ist.«[36]

Die Analyse des Kampfs um den Normalarbeitstag eröffnet ein weites Feld, das Marx nicht ansatzweise vermessen hat. Zwar zeichnet Marx nach, wie der Normalarbeitstag durchgesetzt wurde, benennt dabei jedoch nicht die Fragen, denen eine kritische Sozialwissenschaft nachgehen müsste. Er setzt vieles, was hinterfragt werden müsste, einfach als gegeben voraus. Einigen Fragen werden die Beiträge im vorliegenden Sammelband nachgehen. So ist das Kapitel zum Arbeitstag im »Kapital« nicht ohne Grund auch Ansatzpunkt von staatstheoretischen Überlegungen, denn zwei gleiche Rechte beschwören eine dritte »neutrale« Instanz herauf, einen ideellen Gesamtkapitalisten, ja ein ganzes institutionelles Ensemble, das den Konflikt moderiert, kanalisiert, formatiert – zugunsten der Reproduktionsbedingungen des Kapitals.[37] Das umfasst die Arbeitsgerichtsbarkeit ebenso wie den institutionellen Rahmen, der der Antinomie zwischen Arbeit und Kapital eine rechtliche Form gibt, etwa den Tarifvertrag.[38] Diese Grenze der marxschen Darstellung ist auch der Einsatzpunkt für gewerkschaftstheoretische und -kritische Überlegungen.[39] Marx stellte heraus, dass erst im Konflikt mit der Arbeiterklasse um den Normalarbeitstag sich das industrielle Kapital als kollektive Klassenfraktion organisierte.[40] Ähnliches gilt für die Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich in Gewerkschaften zusammenschlossen. Deshalb bezeichnete Johannes Agnoli Gewerkschaften auch als ideellen Gesamtarbeiter[41] – in kritischer Absicht.

Die methodische und politische Dimension des achten Kapitels des »Kapital« leitet jedoch auch zum vierten Abschnitt, zur Produktion des relativen Mehrwerts, über. Ist der Normalarbeitstag einmal fixiert, kann der Mehrwert nur noch vergrößert werden, wenn die notwendige Arbeitszeit abnimmt. Das bezeichnet Marx als Produktion des relativen Mehrwerts. Voraussetzung hierfür ist, dass sich durch Steigerung der Produktivkraft der Arbeit Lebensmittel verbilligen und so der Wert der Arbeitskraft sinkt. Das ist nur möglich, wenn gesamtgesellschaftlich die Produktivkraft steigt, zumindest in den Bereichen, die Lebensmittel im weiteren Sinne herstellen. Wie aber vollzieht sich das? Marx argumentiert hier ambivalent. Das Kapital erhofft sich durch den Einsatz neuer Produktivkräfte einen Extramehrwert. Der entsteht dadurch, dass es über einen gewissen Zeitraum einen Konkurrenzvorteil gegenüber den anderen Unternehmen hat, weil es produktiver produzieren, aber zu gleichen Preisen verkaufen kann. Ziehen andere Unternehmen nach, da sie in der Konkurrenz auch mithalten müssen, verallgemeinert sich Produktivitätssteigerung gesamtgesellschaftlich und schlägt so auch auf die Produktion der Lebensmittel durch. Dadurch sinkt der Wert der Arbeitskraft, der Teil der notwendigen Arbeit am Gesamtarbeitstag wird somit kleiner zugunsten der Mehrarbeit und des Mehrwerts. Diese Dynamik kann Marx erst theoretisch angehen, auf den Begriff bringen, nachdem er den Normalarbeitstag, also die Fixierung des Arbeitstags, begründet hat. Marx argumentiert jedoch auch vonseiten der Klassenkämpfe. So führt er aus, dass bestimmte Maschinen nicht eingesetzt wurden, um einen Konkurrenzvorteil zu erheischen. Neue Maschinen und Technologien waren vielmehr eine Antwort auf Arbeiterunruhen und Streiks, ein Mittel, um gegen renitente Arbeiter vorzugehen.[42]

Mit dem Einsatz neuer Maschinen verändert sich auch die Ausbeutung im Kapitalismus: Es wird nicht einfach nur länger gearbeitet, sondern produktiver. Somit kann Marx mit dem Begriff der relativen Mehrwertproduktion zeigen, wie unterschiedlich sich Größen entwickeln können und immer Ausbeutung vorliegt. Ausbeutung kann nicht nur durch Verlängerung des Arbeitstags gesteigert werden, sondern auch durch eine Reduzierung der notwendigen Arbeit. Kommt Letztere nicht allein dem Kapital zugute, kann sogar bei kürzeren Arbeitszeiten die Ausbeutung steigen, wenn die Erträge der Produktivkraftentwicklungen zwischen Kapital und Arbeit geteilt werden. Da Unternehmen kaum freiwillig die Arbeitszeiten verkürzen oder den Arbeitsprozess weniger verdichten, liegt es nahe, dass auf erfolgreiche Arbeitskämpfe tendenziell der Einsatz arbeitssparender Maschinen oder eine Neuorganisation der Produktion folgt.

Zu den Beiträgen

Der vorliegende Band kann nicht annährend alle Facetten erschließen, die Marx mit dem achten Kapitel angelegt hat. Er soll jedoch als Impuls dienen, die vielen Diskussionen, die in den letzten Jahren und aktuell zum Thema geführt werden, mit einer spezifischen Perspektive fortzusetzen.

Wenn der Arbeitstag eine »historische Skizze« ist, so stellt sich die Frage nach dem Charakter dieser Skizze und wie die Geschichte weiterging. Hanna Meißner nimmt Marx’ Analyse des Kapitals zum Ausgangspunkt, um die Frage zu stellen, welchen spezifischen Charakter die Ware Arbeitskraft hat und was es mit dem historischen und moralischen Element auf sich hat, das Marx für die Bestimmung der Wertgröße heranzieht. Schließlich ist der Lohn nicht einfach eine ökonomische Größe, sondern soll menschenwürdiges Leben garantieren. Was jedoch als solches gilt, ist in vielerlei Hinsicht umkämpft – wie der Arbeitstag, der entgolten werden soll. Es ist wenig verwunderlich, wurde aber bislang auch selten ausbuchstabiert, dass dieses Element, das Marx berücksichtigen will, spezifische gesellschaftliche Grundlagen hat, das Patriarchat.

Christoph Deutschmanns Beitrag ordnet den Normalarbeitstag gesellschaftstheoretisch ein. Seine zentrale These ist, dass mit seiner Durchsetzung überhaupt erst der Arbeitsmarkt als normaler Markt etabliert werden konnte. Die damit einhergehenden sozialen und institutionellen Voraussetzungen normierten erst, dass die Arbeitskraft dauerhaft als Ware angeboten werden konnte bzw. musste. Das Lohnarbeitsverhältnis wurde gesellschaftlich normalisiert. Der Normalarbeitstag ging mit einem tief greifenden »Wandel der gesellschaftlichen Zeitstruktur und der lebensgeschichtlichen Sinnorientierungen der Arbeiterschaft« einher, die sich von vorkapitalistischen Verhältnissen unterscheiden – eine Veränderung, die sich materialisierte in der Organisation der kapitalistischen Produktion und dem Leben außerhalb des Betriebs.

Gisela Notz zeichnet die Geschichte um Arbeitszeitverkürzung nach, der Utopie, über mehr Lebenszeit zu verfügen und weniger Zeit für Arbeit aufbringen zu müssen. Eine Utopie, die weitaus älter ist als der Kampf um einen Normalarbeitstag unter kapitalistischen Verhältnissen. Aber mit sozialistischen Gewerkschaften und Parteien wurde aus der Idee eine gesellschaftliche Macht.

Bis heute ist der Kampf um Arbeitszeit zentral, als Kampf gegen Zumutungen, aber auch als Anspruch auf ein würdiges Leben, denn die Arbeitszeit ist nicht allein die Zeit, in der gegen Lohn gearbeitet wird, sondern auch die, in der unentgeltlich Aufgaben im Haushalt nachgegangen wird – vor allem von Frauen. Es waren vor allem sie, die deshalb nicht nur die Lohnarbeit im Blick hatten, sondern immer auch die Neuorganisation von Arbeit überhaupt, die die Trennung und Verteilung von Lohn- und Reproduktionsarbeit infrage stellten. Regina Wecker geht einer Leerstelle bei Marx nach, die wenig verwunderlich ist. Marx kommt nämlich trotz seines auffälligen Desinteresses für Geschlechterverhältnisse nicht umhin, sich an einigen Stellen zu Geschlechterverhältnissen zu äußern, einfach weil er mit einer historischen Situation konfrontiert war, in der Frauen über zwei Drittel der Beschäftigten in den englischen Fabriken ausmachten.[43] Über mehrere Seiten hinweg, wenn es im »Kapital« um die Regulierung des Arbeitstags und um Arbeitsschutz geht, fällt zwar nicht Marx, aber bei aufmerksamer Lektüre auf, dass es oft um Frauen oder Kinder geht. Was das alles bedeutet, darüber schweigt Marx sich aus, weil ihm gar nicht bewusst war, dass da etwas sehr Relevantes passierte – nämlich eine Form der Konstruktion und Reproduktion von Geschlechterverhältnissen, von Weiblichkeit (und Männlichkeit), vor allem indem die Schutzgesetze dazu beitrugen, die Sonderstellung von Frauen als »minderwertige Arbeitskraft« festzuschreiben.

Der Schutz der Arbeitskraft vor den Zumutungen des Kapitals, darin liegt der Clou der marxschen »historischen Skizze«, unterliegt jedoch selbst Konjunkturen von Klassenkämpfen und gesellschaftlichen Konstellationen. Das verdeutlicht das Zitat von Engels, der herausstellt, dass nicht allein schon die Begrenzung des Arbeitstags emanzipatorisch sein muss. Die jeweils konkrete Regulierung der Arbeit ist auch Ausdruck der jeweiligen Kräfteverhältnisse. Einmal durchgesetzte Regeln werden vom Kapital, wenn nicht missachtet, so doch umgangen. So kann die Arbeitszeit nicht nur verlängert, sondern auch verdichtet werden. Sie ist also in ihren vielen Dimensionen umkämpft.

Kalle Kunkel greift vor diesem Hintergrund den genuin politischen Charakter betrieblicher Kämpfe auf. Arbeitszeit wird, ja sollte von Gewerkschaften und im Betrieb stärker strategisch verhandelt werden – und zwar nicht allein die Arbeitszeit, sondern die Leistungspolitik. Kunkel macht deutlich, dass es sich hierbei auch um einen Kampf darum handelt, wie organisatorisch und ideologische Leistung abverlangt wird, weil die veränderte Organisation und die Steuerung der betrieblichen Produktion das Terrain der Kämpfe um Arbeitszeit in den letzten Jahrzehnten neu gestaltet haben. Weil nach der Durchsetzung einer verkürzten Arbeitszeit die Arbeitsorganisation es erlaubt, die Arbeit zu verdichten, muss der Kampf um Arbeitszeit in einem umfassenderen Sinn geführt werden. Das zeigen die Erfahrungen an der Universitätsklinik Charité in Berlin, wo im Jahr 2015 für die Forderung nach Personalvorgaben gestreikt wurde. Das von Kunkel herangezogene Fallbeispiel könnte aktueller nicht sein. Im Januar 2020 hat selbst die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) verbindliche Personalvorgaben im Rahmen einer neuen Regelung zugestimmt, nachdem die Klinikbetreiber das jahrelang als Beschränkung der unternehmerischen Freiheit verteufelt hatten. Vorangegangen waren viele Proteste und Streiks in verschiedenen Städten – unter anderem die an der Charité –, die inzwischen in 16 Krankenhäusern die Einigung auf Tarifverträge bzw. andere Vereinbarungen zur Folge hatten. Das Beispiel zeigt auch, dass nicht allein der Normalarbeitstag eine allgemeine Normierung – und damit auch Begrenzung – der Ausbeutungsbedingungen darstellt, sondern auch andere Regeln des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit.

Dass überhaupt um einen Normalarbeitstag oder andere Formen der Normierung ständig gekämpft werden muss, liegt wesentlich darin begründet, dass die Arbeitskraft Ware wurde, ihr Warencharakter gesellschaftlich durchgesetzt werden musste, und zwar gegen das Selbstverständnis der unmittelbaren Produzentinnen und Produzenten, die sich zu ihrer Arbeitskraft nicht als Ware verhalten wollten. Für viele sozialkritische Geister gilt der Sozialstaat als Gegenprinzip zum Kapitalismus, weil er die Zwänge und Risiken der Lohnarbeit abfedert, die mit ihrer Verallgemeinerung und der Maßlosigkeit der kapitalistischen Produktion einhergehen. Schließlich komme es zu einer »Dekommodifizierung« der Ware Arbeitskraft, ihr Warencharakter werde ihr teilweise genommen, etwa durch die Sozialversicherungen. Dass das jedoch nur die halbe Wahrheit ist, zeigt Christian Brütt in seinem Beitrag. Der Sozialstaat hat nämlich nicht nur marktkorrigierende, sondern auch marktermöglichende, ja erzwingende Funktionen. Er stellt mit sozialstaatlich moderiertem Zwang das, was Marx im »Kapital« über die sogenannte ursprüngliche Akkumulation nur historisch nachzeichnet, nämlich die Entstehung und Durchsetzung der Arbeitskraft als Ware auf Dauer. So wie der Normalarbeitstag es ermöglicht, dass der Kapitalismus auf Normaltemperatur funktionieren kann, so garantiert der Sozialstaat, dass die Arbeitskraft kontinuierlich auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht – mit weitreichenden Auswirkungen auf die Auseinandersetzung um das »historisch und moralische Element«[44] der Ware Arbeitskraft und den Arbeitstag. Denn wenn über Regelsätze der Mindestsicherung und Zumutbarkeit von Arbeit diskutiert wird, geht es um das Lohnniveau und um die Arbeitsbedingungen insgesamt.

Ausgerechnet Marx, der für sich in Anspruch nahm, das »Geheimnis der Plusmacherei«[45] gelüftet zu haben, behauptet im Kapitel über den Arbeitstag, dass es so unergründlich gar nicht sei: Die »›kleinen Diebstähle‹ des Kapitals an den Mahlzeiten und Erholungszeiten der Arbeiter«[46] erzeugten eine »Atmosphäre«, in der »die Bildung des Mehrwerts durch Mehrarbeit kein Geheimnis« mehr sei.[47] Ein Streit um die Raucherpause so erhellend wie Marx’ Analyse im »Kapital«? Erst im Dezember 2019 berichtete unter anderem der britische Guardian von neuen Toilettenschüsseln, die längeres Sitzen etwa mit dem Smartphone in der Hand und den Ellenbogen auf den Oberschenkeln schnell unbequem machen. Der Zweck: die Produktivität von Beschäftigten erhöhen, indem unproduktive Toilettengänge möglichst kurzgehalten werden.[48] In seiner Werbung behauptet der Hersteller StandardToilet, dass jährlich vier Milliarden Pfund durch zu lange Toilettenpausen verlorengehen. Mitarbeiter verbrächten durchschnittlich zehn Minuten pro Tag auf der Toilette. Das Unternehmen schätzt, dass ihr neues Produkt zu einer 25-prozentigen Reduzierung der Toilettenzeit führen wird.

Es ist also kein Wunder, dass neben Arbeitsbeginn und -ende die Pause von der Lohnarbeit, die Auszeit, historisch ein zentrales Terrain war, auf dem die überkommene Lebensweise der Arbeiterinnen und Arbeiter mit der Logik des Betriebs aufeinanderprallte. Dabei ging es den Fabrikherren nicht allein darum, dass Pausen die Arbeit unterbrachen, sondern ihnen war auch ein Dorn im Auge, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Pausen ihre Köpfe zusammensteckten, sich austauschten – mitunter auch über die Arbeitszumutungen. Während zu Beginn noch versucht wurde, die Pausen zu unterbinden, wurden schon bald, offizielle, reglementierte Pausen eingeführt, die zudem gegenüber den »illegalen«, eigensinnigen Pausen an Attraktivität gewinnen sollten, indem etwa auf Betriebskosten, etwa bei Krupp, Bier zur Verfügung gestellt wurde. Schon bald wurden Pausen Gegenstand der Arbeitswissenschaft, deren Erkenntnisse als Mittel zum Einsatz kamen, um die Arbeitskraft möglichst effektiv zu nutzen. Wie so vieles, was die Arbeitszeit betrifft, haben auch die Pause und der Kampf um Pausenzeiten demnach zwei Seiten. Das zeigt Gabriela Muri in ihrem Beitrag. Die Pause ist eben nicht nur Auszeit von der Arbeit, sondern immer auch unerlässlich für die Reproduktion der Arbeitskraft sowie eingeplante Größe, um den ungestörten Lauf der betrieblichen Maschinerie gewährleisten zu können. Habitualisierte, eingeübte Pausenmuster werden so zum Ausdruck einer verinnerlichten Zeitdisziplin. Ein Phänomen, das sich bis in die Freizeit fortsetzt und Zeitdisziplin einfordert, wenn das soziale Leben, Freizeit und Beruf unter einen Hut gebracht werden sollen. Was bleibt, ist der Schlaf, so der Kunstkritiker und Essayist Jonathan Crary:

»Der Schlaf in seiner tiefen Nutzlosigkeit und Passivität, mit den von ihm verursachten, unkalkulierbaren Verlusten in der Zeit der Produktion, Zirkulation und Konsumtion, wird mit den Ansprüchen einer 24/7-Welt stets kollidieren. [...] Schlaf ist die kompromisslose Unterbrechung der uns vom Kapitalismus geraubten Zeit.«[49]

Während die einen schlafen, müssen andere arbeiten. Schichtarbeit ist nur eine von mehreren Formen, sich mit den Anforderungen, die zum Beispiel das Familienleben mit sich bringt, zu arrangieren. Teilzeit ist eine andere. Beide Formen zeigen, dass der Normalarbeitstag nicht unbedingt acht Stunden umfasst und sich nicht allein zwischen 9 und 17 Uhr abspielt. Der rasante Anstieg der Teilzeitbeschäftigung in den letzten Jahrzehnten in Deutschland und Österreich, das erörtert Claudia Sorger in ihrem Beitrag, bedeutet de facto, dass oftmals individuell die Arbeitszeit verkürzt wird, ohne jeglichen Lohnausgleich. Ein Phänomen, das fast ausschließlich zulasten von Frauen geht. Sorgers Beitrag erläutert, was es bedeutet, von der Normalarbeitszeit abzuweichen und warum es für die gewerkschaftliche Arbeitszeitpolitik dringend eines neuen Leitbilds bedarf, das sich bei der kollektiven Interessenvertretung nicht länger an der Vollzeitarbeit orientiert und einer Hierarchisierung von Lohnarbeit und unbezahlter Reproduktionsarbeit entgegenwirkt.

Sorgearbeit, ob bezahlt oder unbezahlt, umfasst die Pflege von Kranken und Alten, Menschen, die nicht arbeiten können, die dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen. Mit der Verallgemeinerung der Lohnarbeit, dem Zwang, die Arbeitskraft zu verkaufen, um sein Dasein fristen zu können, geht ein neues Problem einher: das Überleben im Alter, wenn man nicht bis zum Tod arbeiten will oder kann. Arbeitszeit bedeutet eben nicht nur Arbeitstag und Wochenarbeitszeit, sondern Lebensarbeitszeit. Ist die Sicherung der eigenen Existenz vom erfolgreichen Verkauf der Arbeitskraft abhängig, stellt sich die Frage nach der Alterssicherung bzw. danach, wer sie wie finanziert. Lässt sich – vergleichbar mit dem Kampf um den Normalarbeitstag – nun auch ein Kampf um die Normallebensarbeitszeit beobachten? Christian Christen geht in seinem Beitrag diesen Fragen nach und zeichnet vor den Entwicklungen der letzten Jahre ein eher düsteres Bild, trotz – oder wegen – der vielen Rentenreformen. Eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse zuungunsten der Lohnabhängigen, zunehmende Einkommens- und Vermögensungleichheit, verschlechterte Bedingungen, die Arbeitskraft zu verkaufen, und die partielle Aufgabe des Systems der Umlage zugunsten kapitalgedeckter Elemente, was nicht nur das Kapital entlastet, sondern dem Finanzkapital neue Anlageoptionen bietet, haben die kollektive Alterssicherung brüchig gemacht.

Die gesetzliche Rentenversicherung nahm vor bald 130 Jahren ihren Anfang. Als sie 1891 in Kraft trat, umfasste sie keine 600.000 Rentner, die eine durchschnittliche Jahresleistung von 150 Mark bekamen – eine Rente, von der man weder leben noch sterben konnte, wie es damals hieß. Etwa drei Jahrzehnte später, vor 100 Jahren, wurde in Deutschland der Achtstundentag durchgesetzt. Der Zehnstundentag trat in England mit dem Factory Act zum 1. Mai 1848 in Kraft. Und im Jahr 2019 holte Österreich mit dem Zwölfstundentag wieder das 19. Jahrhundert zurück in die Zukunft. Lukas Egger und Leo Kühberger zeigen in ihrem Beitrag, dass der Achtstundentag alles andere als gesellschaftlich anerkannt ist, vielmehr selbst sofort wieder zur Disposition steht, sobald der Normalarbeitstag »nicht entschieden genug verteidigt wird«. Kein Geringerer als Sebastian Kurz nahm die bereits seit Jahren vorgebrachte Forderung der Unternehmen nach längeren und flexibleren Arbeitszeiten nicht nur in das neue Programm der »neuen Volkspartei« auf, sondern reichte es quasi als Gesetz durch. Während die FPÖ für ihren Klientelismus und ihre Selbstbedienungsmentalität öffentlich vorgeführt wurde, hat die Strategie von Kurz, sich zum unmittelbaren Fürsprecher von Kapitalinteressen zu machen, schon erste Folgen gezeitigt:

»Mittlerweile ist der 12-Stunden-Tag vom Freiheitsversprechen zur bitteren Realität in einem Drittel aller Unternehmen geworden. Ohne Bezahlung der Überstunden bedeutet das einen Reallohnverlust für diese Arbeitnehmer_innen. Freiheit ist für die Macher_innen des 12-Stunden-Tags also immer nur die eigene Freiheit und nicht die der Anderen.«[50]

Die Forderungen der deutschen Arbeitgeberverbände nach längeren und flexibleren Arbeitszeiten sollten also durchaus als Gefahr ernst genommen werden.

Die eigene Freiheit hingegen ist unmittelbar mit einer Verkürzung des Arbeitstags verbunden. In Marx’ »Grundrissen« heißt es, gemeinschaftliche Produktion vorausgesetzt,

»bleibt die Zeitbestimmung natürlich wesentlich. Je weniger Zeit die Gesellschaft bedarf, um Weizen, Vieh etc. zu produzieren, desto mehr Zeit gewinnt sie zu andrer Produktion, materieller oder geistiger. Wie bei einem einzelnen Individuum hängt die Allseitigkeit ihrer Entwicklung, ihres Genusses und ihrer Tätigkeit von Zeitersparung ab. Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf.«[51]

Norman Jakob geht in seinem Beitrag der Frage nach, inwiefern Marx’ Werttheorie die spezifisch kapitalistische Form der Ökonomie der Zeit erfasst. Diesen Anspruch formuliert zumindest Marx. Diese Form figuriert nicht nur den Arbeitsprozess, sondern die menschliche Entwicklung insgesamt, denn Arbeitszeit ist keine freie Zeit für die Menschen, verhindert die Entwicklung deren Potenziale:

»Die Zeit ist in fact [tatsächlich] das aktive Dasein des Menschen. Es ist nicht nur das Maß seines Lebens. Es ist der Raum seiner Entwicklung. Und mit dem encroachment of capital over time of labour [Übergriff des Kapitals auf die Arbeitszeit] ist Aneignung des Lebens, geistigen und physischen, des Arbeiters.«[52]

Aber umgekehrt, das zeigt Jakobs Beitrag, eröffnet eine Analyse der Ökonomie der Zeit auch eine Perspektive auf Bedingungen einer nachkapitalistischen Gesellschaft. Diese hat der kapitalistischen Herrschaft, der kapitalistischen Zeitlichkeit, die Organisationmacht über die Lebens- und Arbeitszeit abgerungen. Die gesellschaftliche Arbeit wird bewusst organisiert. Die Logik »Zeit ist Geld« wird abgelöst sein vom Prinzip »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen«![53] Die Formel »Zeit ist Geld« wird ein Relikt vergangener Zeiten sein.

[1] BDA, Presseerklärung vom 14.5.2019, anlässlich der EuGH-Entscheidung zur Arbeitszeiterfassung, unter: www.arbeitgeber.de/www/arbeitgeber.nsf/id/de_eugh-entscheidung-zur-arbeitszeiterfassung.

[2] DGB, Pressemitteilung 034 vom 14.5.2019, unter: www.dgb.de/presse/++co++5bb4337a-7622-11e9-9e41-52540088cada.

[3] Bericht der Fabrikinspektoren, zit. nach: Karl Marx: Das Kapital. Erster Band, in: MEW, Bd. 23, S. 257.

[4] Oskar Negt: Der Kampf um die Arbeitszeit ist ein Kampf um die Lebenszeit, in: Rainer Zoll (Hrsg.): Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit, Frankfurt a. M. 1988, S. 531−543, hier S. 532.

[5] Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen, in: MEW, Bd. 2, S. 225–506.

[6] Engels an Hermann Schlüter, 21. März 1891, in: MEW, Bd. 38, S. 62.

[7] Friedrich Engels: Die Zehnstundenfrage, in: MEW, Bd. 7, S. 226–232, hier S. 228 f.

[8] Friedrich Engels: Die englische Zehnstundenbill, in: MEW, Bd. 7, S. 233–243, hier S. 235 u. 240.

[9] Vgl. den Brief von Marx an Friedrich Bolte, 23. November 1871, in: MEW, Bd. 31, S. 332 f. Vgl. Frieder Otto Wolf: Was tut die ausgebeutete Klasse, wenn sie kämpft? Einige Überlegungen zur Neulektüre der Darstellung des »Kampfs um den Normalarbeitstag« im »Kapital«, in: Hilde Wagner (Hrsg.): Interventionen wider den Zeitgeist. Für eine emanzipatorische Gewerkschaftspolitik im 21. Jahrhundert, Hamburg 2001, S. 140–151.

[10] Marx: Das Kapital I, S. 315.

[11] Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 42, S. 254. Es liegt nahe, dass er hier das achte Kapitel in Smiths »Wohlstand der Nationen« vor Augen hatte, in dem dieser den Lohn der Arbeit erörtert.

[12] Marx: Das Kapital I, S. 189.

[13] Karl Marx: Das Kapital. Zweiter Band, in: MEW, Bd. 24, S. 42.

[14] Hans-Willy Hohn: Die Zerstörung der Zeit. Wie aus einem göttlichen Gut eine Handelsware wurde, Frankfurt a. M. 1984, S. 9.

[15] Marx: Grundrisse, S. 631.

[16] Marx: Das Kapital I, S. 741–791.

[17] Ebd., S. 765

[18] Ebd.

[19] Ebd., S. 279–293.

[20] Axel Schlote: Widersprüche sozialer Zeit. Zeitorganisation im Alltag zwischen Herrschaft und Freiheit, Opladen 1996, S. 39 f.

[21] Edward P. Thompson: Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus, in: Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. u.a. 1980, S. 35−66, hier S. 55.

[22] Akoš Paulinyi/Ulrich Troitzsch: Propyläen Technikgeschichte, Bd. 3: Mechanisierung und Maschinisierung. 1600 bis 1840, Berlin 1997, S. 484.

[23] Ebd., S. 484 f.

[24] Vgl. Marx: Das Kapital I, S. 285–315.

[25] Vgl. ebd., S. 294.

[26] Ebd., S. 309.

[27] Vgl. Jungwoon Choi: The English Ten-Hours Act: Official Knowledge and the Collective Interest of the Ruling Class, in: Politics & Society 4/1984, S. 455−478. Allgemein hierzu: Ingo Stützle: Die Ordnung des Wissens. Der Staat als Wissensapparat, in: Lars Bretthauer u.a. (Hrsg.): Poulantzas lesen. Zur Aktualität marxistischer Staatstheorie, Hamburg 2006, S. 188–205.

[28] Vgl. hierzu Hans-Georg Bensch: 8. Kapitel, Der Arbeitstag – Systematisches zu einem historisch verstandenen Kapitel, in: Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie 1–2/2017, S. 114–134.

[29] Marx: Das Kapital I, S. 208.

[30] Ebd., S. 249.

[31] Hermann Kocyba: Widerspruch und Theoriestruktur. Zur Darstellungsmethode im Marxschen »Kapital«, Frankfurt a. M. 1979, S. 101 f.

[32] Alexander Gallas: »Das Kapital« mit Poulantzas lesen. Form und Kampf in der Kritik der politischen Ökonomie, in: Bretthauer u.a. (Hrsg.): Poulantzas lesen, S. 101–119.

[33] Thompson: Zeit, S. 54.

[34] Marx an Ludwig Kugelmann , 17. März 1868, in: MEW, Bd. 32, S. 541.

[35] Karl Marx: Das Kapital. Dritter Band, in: MEW, Bd. 25, S. 838.

[36] Engels an August Bebel, 25. November 1879, in: MEW, Bd. 34, S. 423 f.

[37] Wolfgang Müller/Christel Neusüss: Die Sozialstaatsillusion und der Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital, in: Probleme des Klassenkampfs, Sonderheft 1, 1971, S. 7–70; Johannes Agnoli: Der Staat des Kapitals, in: ders.: Der Staat des Kapitals und weitere Schriften zur Kritik der Politik, Freiburg 1995, S. 21–89, hier S. 30 f.

[38] Willibald Steinmetz: Begegnungen vor Gericht. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des englischen Arbeitsrechts (1850–1925), München 2002; Sabine Rudischhauser: Geregelte Verhältnisse. Eine Geschichte des Tarifvertragsrechts in Deutschland und Frankreich (1890–1918/19), Köln u.a. 2017.

[39] Joachim Hirsch: Bemerkungen zum theoretischen Ansatz einer Analyse des bürgerlichen Staates, in: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie, Nr. 8/9, Frankfurt a. M. 1976, S. 99–149, hier S. 120–127.

[40] Marx: Das Kapital I, S. 300.

[41] Johannes Agnoli: Klasse und Staat in der BRD. Die Rolle des modernen Staates in der Planung von sozialen und Arbeitskämpfen, in: ders.: Der Staat des Kapitals, S. 123−141, hier S. 141.

[42] Marx: Das Kapital I, S. 459; ders.: Ökonomisches Manuskript 1861–1863, Teil II, in: MEW, Bd. 44, S. 95.

[43] Vgl. die zeitgenössischen Zahlen in der von Marx hoch geschätzten Schrift »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« von Engels (MEW, Bd. 2, S. 367 f. u. 465).

[44] Marx: Das Kapital I, S. 185

[45] Ebd., S. 189.

[46] Ebd., S. 257.

[47] Ebd.

[48] Poppy Noor: Flushing away time: tilted toilet aims to increase employee productivity, in: The Guardian, 18.12.2019, unter: www.theguardian.com/money/2019/dec/18/standardtoilet-tilted-employees-productivity.

[49] Jonathan Crary: 24/7. Schlaflos im Spätkapitalismus, Berlin 2014, S. 16.

[50] Natascha Strobl: Meine Freiheit, deine Unfreiheit: Die neoliberal-autoritäre Rhetorik zum 12-Stunden-Tag, 20.9.2019, unter: www.arbeit-wirtschaft.at.

[51] Marx: Grundrisse, S. 105.

[52] Marx: Ökonomisches Manuskript 1861–1863, S. 141.

[53] Marx an Wilhelm Bracke, 5. Mai 1875, in: MEW, Bd. 19, S. 21.

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Claudia Sorger

Was heißt denn hier normal?

Die Erosion der Normalarbeitszeit und die Normalisierung der Teilzeitarbeit

»Auf dem Weg in die Teilzeitrepublik« – unter dieser Überschrift war in Spiegel Online im September 2017 zu lesen: »Der Normal-Arbeitstag von acht Stunden ist in Deutschland nicht mehr normal.«[1] Analog in Österreich titelte die Tageszeitung Die Presse: »Das Land der Halbtagsjobs.«[2] Da wie dort erscheinen immer wieder Berichte zum stetigen Anstieg der Teilzeitbeschäftigung und den damit verbundenen Konsequenzen.[3] In Übereinstimmung damit ist sowohl im deutschen als auch im österreichischen öffentlichen Diskurs oft von der »Teilzeitfalle« die Rede, in der Frauen stecken würden.[4] Teilzeitarbeit bringt nämlich eine Reihe von Nachteilen mit sich, die sich in schlechteren Arbeitsbedingungen und deren Rechtfertigung niederschlagen. Frauen sind häufig jedoch froh, wenn sie Erwerbsarbeit und Kinderbetreuung überhaupt »vereinbaren« können. Teilzeitbeschäftigung mit hoher Qualität und Bezahlung scheint die Ausnahme zu sein.

Der rasante Anstieg der Teilzeitbeschäftigung in den letzten Jahrzehnten bedeutet de facto eine Arbeitszeitverkürzung auf individueller Ebene ohne Lohnausgleich, die fast ausschließlich zulasten der Frauen ging. In der gleichen Zeit stagnierten Bestrebungen in Richtung einer generellen Arbeitszeitverkürzung. In hoch qualifizierten und höher bezahlten Berufen wird die Vollzeitarbeit etwa durch Überstundenpauschalen und »All-in-Verträge«[5] zusätzlich aufgestockt.

Aufgrund der großen Verbreitung sollte sich eine Auseinandersetzung um Arbeitszeit und Arbeitszeitpolitik daher notwendigerweise dem Phänomen Teilzeitbeschäftigung widmen. Teilzeitarbeit ist immer noch mit einer Abwertung verbunden, die aus dem Vergleich mit der als Normalarbeitszeit definierten Vollzeit hervorgeht. So stehen in manchen vor allem männerdominierten Branchen keine Teilzeitarbeitsplätze zur Verfügung und bessere Positionen sowie Karriereoptionen sind den Vollzeitbeschäftigten vorbehalten. Die von Reproduktionsarbeit wie Haus- und Versorgungsarbeit entlasteten Berufsbiografien von Männern definieren noch immer die Arbeitsplatzerwartungen und erfolgreiche Karrieremuster.Damit wird den Teilzeitbeschäftigten eine untergeordnete Stellung in der Hierarchie der Arbeitswelt zugeordnet.

Ausgehend von dem Befund, dass die sogenannte Normalarbeitszeit schon immer ein Konstrukt und kein Abbild der realen Beschäftigungsverhältnisse war, wird im folgenden Beitrag ein Überblick zur Entwicklung und Verteilung von Teilzeitarbeit in Deutschland und Österreich gegeben. Daran anschließend wird gefragt, welche gesellschaftlichen Folgen die dominante Orientierung auf das Vollzeitarbeitsverhältnis mit sich bringt und wie gewerkschaftliche Arbeitszeitpolitik mit dieser Herausforderung umgeht. Zum Abschluss wird ein neues mögliches Leitbild für die Arbeitszeitentwicklung skizziert und zur Diskussion gestellt.

Die Normalarbeitszeit: kein Normalfall

Die sogenannte Normalarbeitszeit, ob als Arbeitstag von zwölf, zehn oder acht Stunden definiert, stimmte zu keiner Zeit mit der normalerweise geleisteten Arbeitszeit der Mehrheit der Beschäftigten überein. Marx beschreibt den »Kapitalistenheißhunger nach Mehrarbeit«, der von den Fabrikinspektoren dokumentiert wurde, die »›kleinen Diebstähle‹ des Kapitals an der Mahlzeit und Erholungszeit der Arbeiter«, die sich aufsummieren zu stattlichen Zugewinnen – oder, um einen Fabrikherrn zu zitieren: »Zeitatome sind die Elemente des Gewinns.«[6]

Jederzeit wurde und wird die Normalarbeitszeit von einem großen Teil der Beschäftigten überschritten, durch meist bezahlte, aber auch unbezahlte Überstunden. Die durchschnittlich geleistete Arbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten ist in Österreich und Deutschland im europäischen Vergleich überdurchschnittlich hoch.

Die Unternehmen haben mit diversen Flexibilisierungsbestrebungen die Normalarbeitszeit nach und nach ausgeweitet. Überstundenpauschalen und »All-in-Verträge« sind gängige Instrumente, um zeitliche Beschränkungen zu umgehen. Auch durch den Anstieg der Teilzeitbeschäftigung bleibt der »klassische« Achtstundentag einer Minderheit vorbehalten. Obwohl die tatsächliche Arbeitszeit von immer mehr Beschäftigten und insbesondere von Frauen kaum der Normalarbeitszeit entspricht, bleibt sie trotzdem der Bezugspunkt für die Lohnpolitik und die sozialen Sicherungssysteme.

In Österreich hat im Zuge des im September 2018 in Kraft getretenen neuen Arbeitsgesetzes, das in Unternehmen die Durchsetzung eines Zwölfstundentags erleichtert, eine Intensivierung der Debatte zur Arbeitszeit und Arbeitszeitverteilung zwischen Frauen und Männern stattgefunden. Dabei zählte Österreich im europaweiten Vergleich schon zuvor zu den Spitzenreitern bei langen Arbeitszeiten. Zwar ist die durchschnittliche Arbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten (normalerweise geleistete Wochenstunden) seit 2008 um etwa eine Stunde pro Woche gesunken, aber Männer arbeiten wöchentlich immer noch durchschnittlich 43,1 Stunden und Frauen 41,3 Stunden. In Deutschland liegt die durchschnittliche Wochenstundenanzahl der Vollzeitarbeitenden mit 41,6 bei den Männern und 39,9 bei den Frauen nur etwas darunter.[7] Also auch diese offiziellen Zahlen belegen, dass es den Normalarbeitstag mit acht Stunden für einen großen Teil der Beschäftigten gar nicht gibt, da die meisten Vollzeitbeschäftigten regelmäßig Überstunden leisten.

Teilzeitbeschäftigung wird zur Normalität

Historisch gesehen stellt Teilzeitbeschäftigung in der aktuellen Form und Verbreitung ein junges Phänomen dar. In anderer Form war Teilzeitarbeit im Fabriksystem in der Mitte des 19. Jahrhunderts sehr wohl verbreitet. Im Zuge des Kinderschutzes wurde die zulässige Höchstarbeitszeit für Kinder (und auch für Frauen) beschränkt.[8] Die Vollzeitarbeitenden wurden als »full times« und die Kinder, die ab 1850 in England nur mehr sechs Stunden arbeiten durften, als »half times« bezeichnet. Wie Marx ausführt: »Der Arbeiter ist hier nichts mehr als personifizierte Arbeitszeit. Alle individuellen Unterschiede lösen sich auf in die von ›Vollzeitler‹ und ›Halbzeitler‹.«[9] Hier zeigen sich erstaunliche Parallelen in der Rhetorik, da auch für die heutige Teilzeitarbeit die Begriffe Halbtagsarbeit oder halbe Stelle nach wie vor gebräuchlich sind.

Mit dem Ende der 1960er-Jahre gab es in der BRD und in Österreich zwei Voraussetzungen für den Anstieg der Teilzeitbeschäftigung: Das war zum einen der gesteigerte Arbeitskräftebedarf der Wirtschaft und zum anderen das sich verändernde Erwerbsverhalten von Frauen. Teilzeitbeschäftigung wurde zur »idealen Arbeitszeitform« erklärt, weil sie erstens die Vereinbarkeit von Beruf und Familie (für die nach wie vor die Frauen zuständig waren) und zweitens die Möglichkeit des flexiblen Personaleinsatzes vonseiten der Betriebe versprach.[10]

In der kapitalistischen Profitmaximierungslogik schafft die Kombination aus Vollzeitarbeitenden, die der Erwerbsarbeit ohne Einschränkungen durch familiäre oder andere Verpflichtungen zur Verfügung stehen, und der Bereitstellung von kostengünstigen Teilzeitarbeitsplätzen für Frauen, die sich zusätzlich gratis um die Sorgearbeit kümmern, ideale Bedingungen für die Produktion und Reproduktion. Die Eliten haben außerdem ein finanzielles Interesse daran, die Kosten und Verantwortung für die Übernahme von Sorgearbeit an die Privathaushalte zu delegieren. Da die Löhne von Teilzeitarbeitenden in der Regel als Zusatzeinkommen in Paarhaushalten betrachtet werden, verringert dies zudem den Druck auf die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, Vollzeitlöhne in einer Höhe zu zahlen, die den Bedürfnissen eines Alleinverdienerhaushalts entsprechen würden.

Da gleichzeitig der Anspruch auf einen hochgradig flexiblen Einsatz von Arbeitskräften besteht, die etwa wie im Einzelhandel möglichst rund um die Uhr zur Verfügung stehen sollen, wird eine stärkere Regulierung der Teilzeitarbeit durch Mehrstundenzuschläge (die es seit 2008 in Österreich gibt), ein Anrecht auf Teilzeit (wie im Fall der Elternteilzeit) oder ein Rückkehrrecht von Teilzeitbeschäftigten auf Vollzeit von den meisten Unternehmerinnen und Unternehmern meist vehement abgelehnt. Den – möglichst flexiblen – Einsatz von kostengünstigen Teilzeitbeschäftigten wissen viele Unternehmen in Branchen wie etwa dem Einzelhandel jedenfalls zu schätzen.

Die Analyse der Zahlen im Zeitverlauf belegt einen stetigen Anstieg bei den vorwiegend weiblichen Teilzeitbeschäftigten sowohl in absoluten Zahlen als auch in Relation zur Gesamtbeschäftigung und weist im deutsch-österreichischen Vergleich erstaunliche Parallelen auf. Die Teilzeitquote der unselbstständig erwerbstätigen Frauen hat sich im Zeitraum 1998 bis 2018 in Österreich von 30 auf 47 Prozent erhöht und in Deutschland von 36 auf 46,3 Prozent. In den letzten Jahrzehnten geht die Beschäftigungszunahme bei den Frauen ausschließlich auf Wachstumsraten bei der Teilzeitbeschäftigung zurück, während sich die Zahl der Vollzeitarbeitsplätze seit 1995 reduziert hat. Ohne diese auf individueller Ebene vollziehende Arbeitszeitverkürzung wäre der Anstieg der weiblichen Erwerbsarbeit bei gleichzeitiger Beibehaltung der männlichen Vollzeitarbeit in diesem Ausmaß gar nicht möglich gewesen. Denn selbst der geringe Anstieg der Zahl der teilzeitbeschäftigten Männer (mit einer Teilzeitquote von 10 Prozent im Jahr 2018) verweist nur zu einem minimalen Anteil auf eine stärkere Beteiligung an der Care-Arbeit: Männer, die sich in einer Teilzeitbeschäftigung befinden, sind in der Tendenz jung, kinderlos und gehen einer Ausbildung nach. Werden nur die Zahlen der Erwerbstätigen mit Kindern unter 15 Jahren im Haushalt herangezogen, dann beträgt die Teilzeitquote der Männer 4 Prozent, während von den Frauen 62 Prozent teilzeitbeschäftigt sind. Frauen arbeiten hauptsächlich aus familiären Gründen Teilzeit (38 Prozent geben diesen Grund in Österreich an und 30 Prozent in Deutschland), nur 5,8 Prozent der männlichen Teilzeitarbeitenden in Österreich und nur 5,5 Prozent in Deutschland nennen dies als Grund.

Die erhebliche Verbreitung von Teilzeitbeschäftigung unter Frauen bei gleichzeitig hoher Wochenstundenzahl der Vollzeitbeschäftigten (zum Großteil Männer) weist auf eine ausgeprägte geschlechtsspezifische Strukturierung der Arbeitsmärkte in Deutschland und Österreich hin.

Die Trennung von Produktion und Reproduktion als zentrales Merkmal des Kapitalismus

Der Anstieg der Teilzeitbeschäftigung ist sehr stark mit der Trennung von Produktion und Reproduktion verbunden, die historisch mit dem Kapitalismus entstanden ist. Nancy Fraser beschreibt die damit verbundene Verschiebung, bei der reproduktive Tätigkeiten dem Bereich des Privaten zugeordnet und damit tendenziell unsichtbar werden. »Mit dem Kapitalismus aber wird die reproduktive Arbeit abgetrennt und in eine separate ›private‹ heimische Sphäre verwiesen, wo ihre gesellschaftliche Bedeutung verdunkelt wird. Und in einer Welt, wo Geld das primäre Machtmedium ist, wird dieser Prozess durch die Tatsache besiegelt, dass reproduktive Arbeit unbezahlte Arbeit ist: Diejenigen, die sie verrichten, sind den Lohnempfängern strukturell untergeordnet, obwohl ihre Leistung erst die notwendigen Voraussetzungen für Lohnarbeit schafft.«[11]

Wie sich diese Trennung gestaltet, stellt kein starres System dar, sondern unterliegt länderspezifischen kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Transformationsprozessen.[12] Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden vielerorts Teile der Reproduktionsaufgaben von öffentlichen Einrichtungen oder Wohlfahrtsorganisationen übernommen. In jüngster Vergangenheit lässt sich erneut ein Wandel bei der Aufteilung von Zuständigkeiten erkennen: Einige Dienstleistungen hat man reprivatisiert, indem man sie wieder in die Familien zurückverlagert hat oder private Unternehmen damit beauftragt (beispielsweise in der Pflege).

Die kapitalistische Gesellschaften prägende geschlechtsspezifische Trennung von Produktion und Reproduktion bleibt auch bestehen, wenn sich Arbeitszeitarrangements oder Erwerbsquoten geringfügig oder auch in stärkerem Ausmaß ändern. Trotz einiger Modernisierungen zählen Österreich und Deutschland aufgrund ihrer typischen geschlechtsspezifischen Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit nach wie vor zu den Prototypen eines konservativen Wohlfahrtsstaates.[13] Lewis und Ostner haben als eine der Ersten eine Weiterentwicklung der Wohlfahrtsstaatentypologie von Esping-Andersen auf der Grundlage feministischer Theorien vorgenommen und die Merkmale der sozialpolitischen Institutionen mit sozialstrukturellen Indikatoren verknüpft.[14] Dieser Klassifikation folgend sind in Ländern wie Deutschland und Österreich, die sich weiterhin stark an einem »männlichen Ernährermodell« orientieren, bei Frauen lange Phasen der Erwerbsunterbrechung nach der Geburt eines Kindes durchaus üblich. Wenn Frauen oftmals nach Jahren wieder eine Berufstätigkeit aufnehmen, erfolgt dies meist in der reduzierten Form einer Teilzeitbeschäftigung. Der Einkommensverlust wird in der Regel durch den männlichen Partner ausgeglichen. Die negativen Nebenwirkungen von Teilzeitarbeit, einschließlich geringerer Aufstiegschancen, niedrigerer Bezahlung und weniger Auswahl an qualifizierten Arbeitsplätzen, sind auch auf das vorherrschende Arbeitszeitregime zurückzuführen, in dem Vollzeit als Norm und Teilzeitarbeit als Abweichung gilt, die weniger angesehen ist. Es zeigt sich zudem ein deutlicher Zusammenhang zwischen Vollzeitbeschäftigung von Männern und Teilzeitbeschäftigung von Frauen mit geringer Beteiligung von Männern an der Betreuungsarbeit.[15]

Ein weiteres Kennzeichen des konservativen Wohlfahrtsstaates ist die vergleichsweise schlechte Versorgung mit außerfamiliären Betreuungsplätzen für Kleinkinder, verbunden mit der hohen Bedeutung informeller Betreuungsarrangements. Hinzu kommt die weitverbreitete ideologische Haltung, wonach junge Kinder in erster Linie von ihren Müttern betreut werden sollten.[16] Insbesondere in vielen ländlichen Regionen sind Angebote institutioneller Kinderbetreuung weiterhin nur auf die Vormittage beschränkt und dienen der Vorbereitung der Kinder auf das Leben außerhalb der Familie und weniger der Ermöglichung der Berufstätigkeit von Frauen. Über viele Jahrzehnte gab es für Eltern, die für ihre Kinder im Alter bis drei Jahren eine außerhäusliche Betreuung suchten, nur wenig institutionelle Angebote. Die Verfügbarkeit von Einrichtungen war gering, meist gab es erhebliche Defizite bei den Öffnungszeiten. Laut österreichischer nationaler Statistik ist der Anteil der institutionell betreuten Kinder im Alter bis zu zwei Jahren in den letzten Jahren gestiegen und belief sich 2017 auf 26,1 Prozent (gegenüber 11,8 Prozent im Jahr 2007). Bei Kindern im Alter von drei bis fünf Jahren lag die Betreuungsquote 2017 bei 93,4 Prozent, wobei die Unterschiede zwischen den Bundesländern geringer waren.[17] In Deutschland zeigt sich eine ähnliche Entwicklung mit einer etwas höheren Betreuungsquote: Im März 2017 waren hier 33 Prozent aller Kinder unter drei Jahren in Kindertagesstätten eingeschrieben, mit erheblichen regionalen Unterschieden und enormen Abweichungen bei Öffnungszeiten und Preisen je nach Anbieter und Region. 93,6 Prozent aller Kinder zwischen drei und fünf Jahren gingen regelmäßig in den Kindergarten.[18]

Diese modernisierten Formen des konservativen Wohlfahrtsstaates, in der Erwerbsarbeit von Frauen bis zu einem gewissen Ausmaß ermöglicht wird, bieten optimale Bedingungen für die Stabilisierung der Symbiose zwischen Produktion und Reproduktion.

Vollzeit für alle – die Lösung der geschlechtsspezifischen Widersprüche? Oder doch etwas weniger?

Wie bereits eingangs angesprochen, werden Frauen immer wieder vor der Teilzeitfalle gewarnt, so wie beispielsweise in Kampagnen wie »Achtung Teilzeit: Halber Lohn. Weniger Pension«.[19] Diese, so heißt es, wollen Frauen auf die negativen Folgen verkürzter Arbeitszeiten aufmerksam machen. Auch wenn das Argument, wonach geringe Einkommen zu niedrigen Renten führen, durchaus richtig ist, wird damit die Problematik auf die individuelle Ebene verlagert. Es wird suggeriert, dass, wenn Frauen dem Risiko der Altersarmut entkommen wollen, sie keine andere Option hätten, als ihre Erwerbsarbeitszeit zu erhöhen. Oft wird unterstellt, dass sie sich der Folgen ihrer Teilzeitbeschäftigung nicht bewusst sind. Vollzeit auf Basis einer 40-Stunden-Woche für möglichst alle wäre demnach die Lösung der geschlechtsspezifischen Schieflagen.

Abgesehen davon, dass der Arbeitsmarkt die notwendige Anzahl der Vollzeitarbeitsplätze gar nicht hergibt, bleiben in diesem Modell die Reproduktion und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung meist völlig ausgeklammert. Dass lange Arbeitszeiten besonders für Menschen mit Kindern ein Problem darstellen, konnte auch in zwei Forschungsprojekten anschaulich gezeigt werden. Im EU-Projekt »Männer und Vereinbarkeit von Beruf und Familie in Österreich: Wege zur gerechten Verteilung von Karenz-, Betreuungs- und Erwerbsarbeitszeiten« wurden Männer in sogenannten männerdominierten Branchen zu ihren Möglichkeiten befragt, Einfluss auf die Gestaltung von Karenzzeiten und die Arbeitszeit im Betrieb zu nehmen. Es wurde deutlich, dass es dort, wo ohnehin schon lange Arbeitszeiten vorherrschen – also vorwiegend in männerdominierten Branchen –, sehr schwierig ist, die Arbeitszeit zu verkürzen.[20] Für Beschäftigte mit Kindern verlangt die »Doppelbelastung« durch Beruf und Familie meist, dass sie die eigenen Arbeitszeiten genauestens mit der Arbeitszeit des anderen Elternteils abstimmen müssen. Häufig sind sie zusätzlich auf die Unterstützung durch andere Familienmitglieder (z.B. Großeltern) angewiesen.

Was es für Frauen bedeutet, in Branchen zu arbeiten, in denen in erster Linie Vollzeitarbeit angeboten wird, ist auch Thema einer kürzlich durchgeführten Studie zu Industriearbeiterinnen in Wien.[21] Hier führt die Vollzeitarbeit zu einer besonderen Belastung der Frauen, die trotz Vollzeitarbeit den Großteil der Versorgungsarbeit übernehmen. In vielen Industriebetrieben kommt erschwerend für Eltern Schichtarbeit hinzu, wie die Berichte der Industriearbeiterinnen belegen: »Dann musste ich gezwungenermaßen wieder 40 Stunden arbeiten und stand vor der Herausforderung, wie ich das mit dem Kind mache. Dann habe ich drei Jahre lang Nachtschicht gearbeitet: um 7.30 Uhr in der Früh nach Hause und zu Mittag auf und Essen machen, Kind von der Schule holen, Hausaufgaben. Am Nachmittag, wenn der Mann nach Hause gekommen ist, habe ich noch mal schnell zwei Stunden geschlafen, und dann wieder arbeiten (I_10).«[22]

Auch heute noch beginnt für viele Arbeiterinnen eine zweite Arbeitsschicht, wenn sie nach Hause kommen.[23] So gaben weit über 70 Prozent der Befragten an, überwiegend zuständig für die Hausarbeit zu sein, bei 21 Prozent ist es der Partner/die Partnerin und bei sechs Prozent andere Personen wie etwa die Kinder. Sehr oft werden die negativen gesundheitlichen Folgen dieses enormen Arbeitszeitpensums in Kauf genommen: »Man gewöhnt sich daran. Das Wochenende nutzt man zum Ausschlafen. Was man sich gesundheitlich antut, das merkt man ja nicht gleich (I_10).«[24]

Aufschluss über die ungleiche Verteilung der Versorgungsarbeit zwischen den Geschlechtern gibt eine weitere Studie zur Situation in Deutschland, die aufzeigt, dass sich bei Elternpaaren mit kleinen Kindern sich auch nichts an dem Ungleichgewicht ändert, wenn beide Vollzeit arbeiten. Väter in Vollzeitstellen haben die längste Gesamtarbeitszeit von etwas mehr als neun Stunden pro Tag. Davon verwenden sie nur ein Drittel für Kinderbetreuung, Hausarbeit oder Pflegetätigkeiten. Vollzeitbeschäftigte Mütter wenden hingegen mehr als die Hälfte ihrer Gesamtarbeitszeit für unbezahlte Arbeit auf, bei teilzeitbeschäftigten Müttern sind es sogar fast 70 Prozent ihrer Gesamtarbeitszeit.[25]

Was mit diesen Beispielen illustriert werden soll: Es reicht nicht, bei der Erwerbsarbeit Vollzeit für alle zu propagieren, um tatsächlich eine Umverteilung der bezahlten und unbezahlten Arbeit zwischen Männern und Frauen zu erreichen. Die Forderung greift zumindest solange zu kurz, wie Vollzeitarbeit auf dem Male-Breadwinner-Familienmodell aufbaut, bei dem die unbezahlte Versorgungsarbeit der einen die notwendige Voraussetzung für die Rund-um-die-Uhr-Erwerbstätigkeit des anderen ist.[26] Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung bei Care- und anderen Reproduktionsaufgaben ist die Bedingung dafür, dass berufliche Vollzeitarbeit mit all ihren Anforderungen – wie Flexibilität und Bereitschaft zu Überstunden – überhaupt stattfinden kann.[27]

Das Erleben dieser Widersprüche und damit einhergehender Konflikte und Belastungen führt auch dazu, dass immer mehr Menschen – vor allem jene mit Betreuungspflichten – den Wunsch nach einer anderen Arbeitszeit äußern. Damit in Zusammenhang steht auch ein verändertes Rollenverständnis von Männern, von denen sich immer mehr in stärkerem Ausmaß an der Familienarbeit beteiligen möchten.[28]

Wunsch nach einer anderen Verteilung der Arbeitszeit

Mehrere Studien haben sich in den letzten Jahren mit der Arbeitszeitverteilung in Paarhaushalten und den Auswirkungen von Kindern auf das Erwerbsverhalten von Frauen und Männern beschäftigt.[29] Schwendinger zufolge formulieren Paare mit Kindern unter 15 Jahren immer häufiger das Bedürfnis nach einer egalitäreren Arbeits- und Aufgabenverteilung.[30] Der Großteil der befragten Mütter befindet sich in einer Teilzeitbeschäftigung und möchte gern mehr Stunden pro Woche erwerbstätig sein. Die Väter wünschen sich in den meisten Fällen eine Verringerung ihrer Vollzeitarbeit, also eine Vermeidung oder Verringerung von Überstunden, und in der Minderheit eine Teilzeitbeschäftigung. Das bedeutet allerdings, dass selbst eine Realisierung dieser Arbeitszeitwünsche am Vollzeit-Teilzeit-Regime in Paarhaushalten mit Kindern wenig verändern würde.

Auch eine Befragung zur Arbeitszeit von Beschäftigten in Deutschland aus dem Jahr 2018 legt nahe, dass Arbeitszeitwünsche und -realitäten derzeit auseinanderklaffen und sich viele Beschäftigte kürzere Erwerbsarbeitszeiten wünschen.[31] Besonders bemerkenswert ist, in welchen Branchen besonders viele Beschäftigte mit Wunsch nach Verkürzung ihrer tatsächlichen Arbeitszeit zu finden sind: in der Industrie, im Handwerk und insbesondere in männerdominierten Branchen.[32] Außerdem wird in dieser Studie gezeigt, dass flexible Arbeitsmodelle (Home-Office, selbstbestimmte Arbeitszeiten) von Eltern letztlich kaum für mehr Freizeit genutzt werden, wenn auch geschlechtsspezifisch unterschiedlich. Väter wenden dennoch viel Zeit für die Erwerbsarbeit auf, Mütter verwenden mehr Zeit für die Kinderbetreuung. Geschlechtsspezifische Arbeitsteilungen können sich somit durch flexible Arbeitsmodelle auch verfestigen.[33]

Die hier dokumentierten Studienergebnisse zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie aus Sicht der Väter belegen, dass das Thema Vereinbarkeit für Männer aktuell sehr stark unter einem Fokus diskutiert wird: Wie flexibel müssen die Arbeitszeiten sein, um eine Kombination aus Vollzeiterwerbs- und Betreuungsarbeit zu ermöglichen?[34]

Wahrnehmung geschlechterpolitischer Interessen in der gewerkschaftlichen Arbeitszeitpolitik[35]

In der von Gewerkschaften geführten Debatte und in deren Initiativen zur Arbeitszeitverkürzung spielten Argumente der Geschlechtergerechtigkeit lange Zeit keine Rolle. Schon die historische Formel zur Einforderung des Normalarbeitstags – acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf, acht Stunden Freizeit – sieht keinen Zeitanteil für die Versorgungsarbeit vor. Damit zielte sie auf die männlichen Arbeiter ab und ignorierte die weitgehend von Frauen geleistete Reproduktionsarbeit. Man ging vom Prototyp des männlichen Arbeiters aus, der nach acht Stunden Erwerbsarbeit nach Hause kommt und sich dann seiner Erholung widmen kann. Für Frauen war die Zeit, die sie nicht mit der Erwerbsarbeit verbrachten, nur selten selbstbestimmte Freizeit, sondern geprägt durch familiäre Verpflichtungen. Daher entsprach die Forderung »Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf, acht Stunden Freizeit« zu keiner Zeit der Lebensrealität und den Bedürfnissen von lohnabhängigen Frauen.

Die vorherrschende Gewerkschaftskultur ist nach wie vor eng verknüpft mit einem Arbeitsethos, das auf langen Arbeitszeiten und einer allgemeinen Verfügbarkeit beruht und damit jene Frauen und Männer ausschließt, die diese Arbeitskultur nicht leben können (oder wollen).[36] Bis heute orientiert sich gewerkschaftliche Vertretungsarbeit am »Normalarbeitsverhältnis« des Familienernährers, was unter anderem in der defensiven Arbeitszeitpolitik der letzten Jahrzehnte zum Ausdruck kommt. Das Vollzeitarbeitsverhältnis stellt nach wie vor die Referenz für gewerkschaftliche Vertretungsarbeit dar und auch Gewerkschaften warnen Frauen in regelmäßigen Abständen vor den negativen Auswirkungen von Teilzeitbeschäftigung auf die spätere Rente.[37]

Wie Kurz-Scherf ausführt, ist der gewerkschaftliche Arbeitsbegriff doppelt geschlechtsspezifisch strukturiert, da er sich zum einen auf die Erwerbsarbeit beschränkt und damit die von Frauen geleistete unbezahlte Arbeit ignoriert und zum anderen »an das sogenannte Normalarbeitsverhältnis als der männertypischen Form der Erwerbsarbeit« gebunden ist. Kurz-Scherf schlussfolgert, dass die Gewerkschaften ein neues Leitbild der Erwerbsarbeit benötigen, da das Festhalten am patriarchalen Modell der Erwerbsarbeit weitreichende Konsequenzen hat: »Gewerkschaftliche Frauenpolitik wird verstanden als die Vertretung der Sonderinteressen einer kontrafaktisch zur Minderheit stigmatisierten Personengruppe und mit entsprechenden Organisationsstrukturen und Handlungsmacht ausgestattet. Eingebunden in die strategische Priorität männlicher Interessen läuft die von den Gewerkschaftsfrauen selbst getragene ›gewerkschaftliche Frauenarbeit‹ damit aber nicht nur Gefahr frustrierender Vergeblichkeit, sondern sie steht darüber hinaus auch unter einem erheblichen Risiko der aktiven Mitwirkung an der Reproduktion just jener patriarchalen Verhältnisse, zu deren Überwindung sie eigentlich beitragen will.«[38]

Die Debatte um unbezahlte Arbeit ist in den Gewerkschaften noch nicht angekommen bzw. sie wird zwar von einzelnen Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern geführt, aber hat bislang kaum Eingang in den vorherrschenden Arbeitsbegriff, in die Programmatik und Politikgestaltung und in die Organisationskultur gefunden.[39] Eine Neudefinition der Rolle der Gewerkschaften müsste auch einen neuen Blick auf Geschlechterverhältnisse in der Versorgungs- und Erwerbsarbeit umfassen. Jansen entwirft in diesem Kontext die Vision von Gewerkschaften, in denen der Faktor Arbeit einen grundsätzlichen Bedeutungswandel erfährt.[40]

In der Analyse gewerkschaftlicher Arbeitszeitpolitik wird deutlich, dass die Lohnarbeit, bei der das Vollzeitarbeitsverhältnis als Standard und Orientierungspunkt behandelt wird, nach wie vor im Zentrum gewerkschaftlicher Verteilungspolitik steht und unbezahlte Versorgungsarbeit bestenfalls als Randthema in Erscheinung tritt. Zwar wurde Teilzeitbeschäftigung aufgrund ihres quantitativen Anstiegs und der damit gewachsenen Bedeutung für die Strukturierung des Arbeitsmarktes mittlerweile ins gewerkschaftliche Arbeitsprogramm aufgenommen, wobei hier mit der Durchsetzung der Forderung nach einem Mehrarbeitszuschlag für Teilzeitbeschäftigte auch ein Erfolg erzielt werden konnte.[41] Aber die Frage der ungleichen Verteilung der bezahlten und unbezahlten Arbeit zwischen Frauen und Männern wird nach wie vor in Programm und Agieren der österreichischen Gewerkschaften keine entscheidende Bedeutung beigemessen.

Die Trennung in Teilzeit- und Vollzeitarbeit stellt auch aus gleichstellungspolitischer Sicht ein Hindernis für kollektive Interessenvertretung dar. So wäre es zielführender, etwa eine 30-Stunden-Woche als »Normalarbeitszeit« zu definieren, um Benachteiligungen bei den Aufstiegschancen oder bei der Anrechnung von Vordienstzeiten, die in erster Linie Frauen treffen, zu vermeiden. Hier besteht nach wie vor gewerkschaftlicher Handlungsbedarf.

Neues Leitbild für die Arbeitszeit

Im Work-Life-Balance-Diskurs wird der (vermeintliche) Versuch unternommen, die Anforderungen der Erwerbsarbeit mit denen der Versorgungsarbeit unter einen Hut zu bekommen. Arbeitszeit und Arbeitszeitpolitik sind allerdings keine reinen Lifestyle-Fragen, sondern Machtfragen, in der aus Sicht der Unternehmen die möglichst flexible Verfügung über das Arbeitskräftepotenzial im Zentrum steht. Das erklärt auch die angesichts gesundheits-, familien-, gleichstellungs- und arbeitsmarktpolitischer Anforderungen geradezu anachronistisch anmutenden Vorstöße des Kapitals und seiner Repräsentanten, die Arbeitszeit noch immer weiter auszudehnen und zu flexibilisieren, wie die Einführung der Möglichkeit des Zwölfstundentages in Österreich vor Augen geführt hat. Wie Mendel[42] anhand einer sehr anschaulichen »autoethnographischen Skizze zur Sorgekrise« ausführt, kann ein an den Bedürfnissen der Menschen orientiertes Zusammenleben im Rahmen eines Work-Life-Balance-Diskurses nicht gelöst werden, »ohne kapitalistische und patriarchale Gesellschaftsverhältnisse zu kritisieren«.[43]

Zentrale Arbeitszeitnormen wie der Achtstundentag und die 40-Stundenwoche haben sich in den letzten 45 Jahren nicht verändert. Was wir daher brauchen, ist ein neues (obgleich schon lang diskutiertes) Leitbild für die Arbeitszeit und Arbeitszeitpolitik, das die Sorgearbeit mit einbezieht. Dabei ist das Konzept des Normalarbeitstages insgesamt infrage zu stellen, da es auf immer weniger Beschäftigte zutrifft. Ein neues Arbeitszeitregime, das einen Ausgleich zwischen kurzen und überlangen Arbeitszeiten herstellt, würde einen wesentlichen Beitrag zu einer egalitäreren Verteilung der Arbeitszeit leisten.

Die Anerkennung der Versorgungsarbeit als gesellschaftliche Aufgabe ist dabei zentral, denn dadurch, dass Produktion und Reproduktion einander bedingen, ist Versorgungsarbeit als gesellschaftliche Aufgabe zu sehen.[44] Dabei geht es allerdings nicht (nur) um eine Aufwertung dieser Arbeit (etwa in Form von Bezahlung), sondern um eine Anerkennung als gesellschaftliche Aufgabe und nicht als individuelle oder etwas, das durch den freien Markt abgedeckt werden kann. Dazu gehört einerseits die Gestaltung der Erwerbsarbeit in einer Form, in der ausreichend Zeit und Energie für Sorgearbeit bleibt, und andererseits die Bereitstellung von professionellen Betreuungseinrichtungen für Kinder und Pflegebedürftige, um lange Erwerbsunterbrechungen oder stark reduzierte Arbeitszeiten zu vermeiden. Mit einer Aufwertung der Bedeutung von Versorgungsarbeit und ihrem Nutzen für gesellschaftliche Weiterentwicklung wäre auch eine Aufwertung der Berufsgruppen in diesen Bereichen verbunden.

Gerade in diesen frauendominierten Bereichen, zu denen etwa die Sozial- und Gesundheitsberufe zählen, sollte eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit bei vollem Lohn- und Personalausgleich auf der Tagesordnung stehen. Ausgehend von diesen oft sehr arbeitsintensiven Beschäftigungsfeldern könnten neue Standards für die Qualität von Arbeit und Leben geschaffen werden, die vorbildhaft für andere Branchen sein könnten. Angesichts der demografischen, arbeitsorganisatorischen, ökologischen und nicht zuletzt geschlechterpolitischen Entwicklung der Gesellschaft ist es höchste Zeit für einen neuen Typus von »Vollbeschäftigung«.

[1] Katja Braun/Florian Diekmann: Auf dem Weg in die Teilzeitrepublik, in: Spiegel Online, 3.9.2017.

[2] Österreich, das Land der Halbtagsjobs, in: Die Presse, 19.3.2019.

[3] Vgl. für Wien etwa https://wien.orf.at/v2/news/stories/2976025/.

[4] Bundesregierung beschließt Ende der Teilzeit-Falle, in: Süddeutsche Zeitung, 13.7.2018; Pensionsverwaltung warnt Frauen vor »Falle Teilzeitarbeit«, in: Die Presse, 25.6.2019.

[5] Bei All-in-Verträgen werden prinzipiell alle Mehrleistungen, die Arbeitnehmer zusätzlich zu ihrer Normalarbeitszeit erbringen, pauschal abgegolten.

[6] Karl Marx: Das Kapital. Erster Band, in: MEW, Bd. 23, S. 257 f.

[7] Eurostat 2018: Durchschnittliche normalerweise geleistete Wochenarbeitsstunden in Haupttätigkeit, nach Geschlecht, Stellung im Beruf, Vollzeit-/Teilzeittätigkeit und Beruf (Stunden) [lfsa_ewhuis].

[8] Vgl. hierzu den Beitrag von Regina Wecker in diesem Band.

[9] Marx: Das Kapital I, S. 257 f.

[10] Ute Gerhard: Leitbilder der Sozialpolitik in der alten BRD, in: Hans-Böckler-Stiftung (Hrsg.): Manuskripte 36, Düsseldorf 1990, S. 5–7.

[11] Nancy Fraser: Krise, Kritik und Kapitalismus. Eine Orientierungshilfe für das 21. Jahrhundert, in: Alexandra Scheele/Stefanie Wöhl (Hrsg.): Feminismus und Marxismus, Weinheim 2018, S. 40–58, hier S. 47.

[12] Ebd.

[13] Vgl. zur Unterscheidung zwischen konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Typen von Wohlfahrtsstaaten Gøsta Esping-Andersen: Three worlds of welfare capitalism, Cambridge 1990; Erna Appelt/Eva Fleischer: Familiale Sorgearbeit in Österreich. Modernisierung eines konservativen Care-Regimes?, in: Brigitte Aulenbacher/Birgit Riegraf/Hildegard Theobald (Hrsg.): Sorge: Arbeit, Verhältnisse, Regime (Sonderheft Soziale Welt), Baden-Baden 2014, S. 401–422.

[14] Jane Lewis/Ilona Ostner: Gender and the Evolution of European Social Policies (Arbeitspapiere des Zentrums für Sozialpolitik, Bd. 4), Bremen 1994.

[15] Elli Scambor/Katarzyna Wojnicka/Nadja Bergmann (Hrsg.): The role of men in gender equality – European strategies & insights, Luxemburg 2013.

[16] Sigrid Leitner: Varianten von Familialismus. Eine historisch vergleichende Analyse der Kinderbetreuungs- und Altenpflegepolitiken in kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaaten, Berlin 2013.

[17] Statistik Austria: Kindertagesheimstatistik 2017/18, Wien 2018, unter: www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/bildung_und_kultur/formales_bildungswesen/kindertagesheime_kinderbetreuung/index.html.

[18] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ): Kindertagesbetreuung Kompakt. Ausbaustand und Bedarf 2017. Ausgabe 03, Berlin 2018.

[19] So der Titel einer Kampagne in Österreich aus dem Jahr 2012, die von der damaligen Frauenministerin mit Unterstützung aus den Gewerkschaften lanciert wurde; vgl. Gabriele Heinisch-Hose: Frauenministerin: »Teilzeit als Notlösung«, in: Der Standard, 9.7.2012.

[20] Nadja Bergmann/Claudia Sorger/Barbara Willsberger: Männer und Vereinbarkeit von Beruf und Familie in Österreich: Wege zur gerechten Verteilung von Karenz-, Betreuungs- und Erwerbsarbeitszeiten. Betriebliche Fallbeispiele. Bericht im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz im Rahmen eines PROGRESS-Projektes, Wien 2017.

[21] Diese Studie wurde in Anlehnung an eine Studie von Käthe Leichter im Jahr 1932 durchgeführt; vgl. https://wien.arbeiterkammer.at/service/studien/Frauen/So_leben_wir_heute.pdf.

[22] Claudia Sorger/Nadja Bergmann: So leben wir heute ... Wiener Industriearbeiterinnen berichten über ihr Leben. Auf den Spuren Käthe Leichters, Wien 2018, S. 116.

[23] Arlie Hochschild/Anne Machung: Der 48-Stunden-Tag. Wege aus dem Dilemma berufstätiger Eltern, Wien 1990.

[24] Sorger/Bergmann: So leben wir heute, S. 117.

[25] Dietmar Hobler/Christina Klenner/Svenja Pfahl/Peter Sopp/Alexandra Wagner: Wer leistet unbezahlte Arbeit? Hausarbeit, Kindererziehung und Pflege im Geschlechtervergleich. Aktuelle Auswertungen aus dem WSI GenderDatenPortal, WSI Report Nr. 35, April 2017, Düsseldorf 2017.

[26] Jerry A. Jacobs/Kathleen Gerson: The Time Divide. Work, Family and Gender Inequality, Cambridge 2004.

[27] Elisabeth Beck-Gernsheim: Das halbierte Leben: Männerwelt Beruf, Frauenwelt Familie, Frankfurt a. M. 1992.

[28] 28 Scambor u.a.: The role of men.

[29] Bettina Stadler/Ingrid Mairhuber: Arbeitszeiten von Paaren. Aktuelle Verteilungen und Arbeitszeitwünsche. FORBA-Forschungsbericht 3/2017; Annika Schönauer/Hubert Eichmann/Bernhard Saupe: Arbeitszeitlandschaften in Österreich. Praxis und Regulierung in heterogenen Erwerbsfeldern, Baden-Baden 2018.

[30] Michael Schwendinger: Arbeitszeiten in Österreich: Zwischen Wünschen und Realität. Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft Nr. 148, Kammer für Arbeiter und Angestellte, Wien 2015.

[31] Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA): BAuA-Arbeitszeitbefragung: Arbeitszeitwünsche von Beschäftigten in Deutschland, Dortmund 2018, S. 23.

[32] Ebd., S. 26.

[33] Ebd., S. 17.

[34] Bergmann u.a.: Männer und Vereinbarkeit.

[35] Dieser Abschnitt basiert auf folgendem Artikel: Claudia Sorger: Gleichstellungspolitische Strategien österreichischer Gewerkschaften: Auf dem Weg zur Geschlechtergerechtigkeit?, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 2/2017, S. 167−182.

[36] Audrey-Catherine Podann: Im Dienste des Arbeitsethos – Hegemoniale Männlichkeit in Gewerkschaften, Stuttgart 2012.

[37] Vgl. z.B. den Österreichischen Gewerkschaftsbund und dessen Positionierung unter: www.oegb.at/cms/S06/S06_30.a/1342555759378/home/teilzeit-ist-bremsklotz-fuer-karriere.

[38] Ingrid Kurz-Scherf: Brauchen die Gewerkschaften ein neues Leitbild der Erwerbsarbeit? Oder: Brauchen die Frauen eine neue Gewerkschaft?, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 7/1995, S. 436–449, hier S. 448; vgl. auch dies.: Ein anderes Europa: konkrete Utopien und gesellschaftliche Praxen. »Wem gehört die Zeit?« Feministische Perspektiven auf die Zukunft der Arbeit in Europa, in: Nadja Bergmann/Claudia Sorger (Hrsg.): 40 Jahre 40-Stunden-Woche in Österreich. Und jetzt? Impulse für eine geschlechtergerechte Arbeitszeitpolitik (Sozialpolitik in Diskussion, Bd. 18), Wien 2016, S. 25–37.

[39] Podann: Im Dienste des Arbeitsethos.

[40] Mechthild Jansen: Feminisierung der Gewerkschaften und die Wirkung auf Frauen und Männer, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 7/1995, S. 414–424.

[41] Claudia Sorger: Wer dreht an der Uhr? Geschlechtergerechtigkeit und gewerkschaftliche Arbeitszeitpolitik, Münster 2014.

[42] Iris Mendel: Wi(e)der-Vereinbarkeiten. Eine autoethnographische Skizze zur Sorgekrise, in: Annette von Alemann/Sandra Beaufays/Beate Kortendiek (Hrsg.): Alte neue Ungleichheiten? Auflösungen und Neukonfigurationen von Erwerbs- und Familiensphäre, Opladen: 2017, S. 24–41.

[43] Ebd., S. 38.

[44] Nancy Folbre: Who pays for the kids? Gender and the Structures of Constraint, New York/London 1994.

23.04.2020, 15:28

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