Zur Musik in „Vier Minuten“ und „15 Jahre“

Musik Schon in „Vier Minuten“ spielte die Musik im Film die eigentliche Hauptrolle. Auch in der Fortsetzung „15 Jahre“ stellt der Regisseur und Autor Chris Kraus die Musik wieder in den Fokus – in Form von etwas musikalisch ganz Neuem
Hannah Herzsprung spielt die geniale und psychisch hochkomplexe Klavierspielerin Jenny von Loeben
Hannah Herzsprung spielt die geniale und psychisch hochkomplexe Klavierspielerin Jenny von Loeben

Foto: Dor Film-West/Four Minutes Filmproduktion/Wild Bunch Germany

An klassischer Musik fasziniert mich vieles, aber auch ihre Humorlosigkeit. Jede Form von Humor ist in der deutschen Klassik, vom obszönen Mozart einmal abgesehen, äußerst selten: Von Beethoven bis Gustav Mahler reicht eine repräsentative Reihe teutonischer Komponisten, die niemals gelacht haben sollen. Drückender elitärer Ernst verband sogar Arnold Schönberg mit Richard Wagner, wobei das Nichtlachen vermutlich ihre einzige Gemeinsamkeit war.

In unserem Film Vier Minuten wurde diese grimmige Seriosität auf die Hauptfigur der preußisch strengen Klavierlehrerin Frau Krüger übertragen. Ihre lebensfrohe Darstellerin Monica Bleibtreu starrte mich schon bei unserem allerersten Treffen im Frühjahr 2005 erstaunt an, als ich - selbst recht humorlos - darum bat, dass sie ihre Rolle ohne auch nur den allerkleinsten Funken an Selbstironie oder Schabernack anlegen sollte.

Denn nichts weniger als eine Kirche sollte die Musik für die Pianistin Frau Krüger sein, eine Kirche, die mit dem Willen zur Erhabenheit betreten wird. Nicht jeder tut das freiwillig. Manche werden in einem wehrlosen Alter dort gegen ihren Willen hineingesteckt wie in einen Sack.

Die aufsässige Kontrahentin von Frau Krüger, Jenny von Loeben, war so jemand. In Vier Minuten wurde sie von Hannah Herzsprung mit rebellischem Aufbegehren gegen die sakralen Exerzitien ausgestattet, gerade auch musikalisch. Die Komponistin Annette Focks hatte für Jennys Sound das Atonale, Dissonante, Jazzig-Expressive entwickelt, das zwar nichts Heiteres, aber eine schiefe Wucht, etwas Quietsch-Unvergnügtes verströmte, das Jennys ungebändigten und unbändigen Charakter kongenial zum Ausdruck brachte. Im Aufbegehren steckt oft auch Sarkasmus, Bitternis, Hohn, und so konnte Jenny mit ihrem wilden Klavierpunk immerhin Frau Krügers Liebe zu Schubert auslachen. Und dieser anarchische Spott war es, der in VIER MINUTEN den musikalischen Konterpart zur deutschen Romantik gab.

Als Annette Focks und ich uns im Frühjahr 2019 zum ersten Mal trafen, um gemeinsam über das musikalische Konzept von 15 JAHRE nachzugrübeln, war uns sehr schnell klar, dass die einst von ihr komponierte irre Jenny-Musik für diese Figur nicht mehr haltbar war. Tempi passati. Die lebenslänglich Verurteilte hatte nach anderthalb Jahrzehnten Haft Jugend und Momentum verloren. Für Spott fehlte ihr das knallige Gegenüber, für Auflehnung der zu bekämpfende morsche Knochen, zu dem sie selbst geworden schien. Und inzwischen spielte sie selbst Schubert, wenn es sein musste. Sie war innerlich ermattet und fast abgestorben, und somit auch ihre Musik.

Wie aber kann musikalisch die Persönlichkeit einer versteinerten Pianistin erzählt werden, die allmählich wieder zum Leben erwacht? Wie konnte man sie erweichen? Und durch was oder durch wen? Welcher Einfluss war notwendig, damit die Geschichte der Jenny weitererzählt werden konnte in etwas auch musikalisch Neues hinein?

Per Zufall stieß ich Ende 2019 auf den syrischen Musiker Aeham Ahmad, der als Flüchtling in Deutschland lebte. Zufälle mögen wir in Filmen nicht, aber für Filme und ihre Entstehung sind sie manchmal unabdingbar. Aeham ist Komponist von eigensinnig schönen, fast amphibisch erscheinenden Liedern, die er bis heute selbst vorträgt. Er ist am klassischen Konservatorium Damaskus als Pianist ausgebildet worden und verbindet in seinen Stücken die europäische Homo- oder Polyphonie mit dem arabischen Ton- und Intervallsystem. So etwas hatte ich noch nie zuvor gehört.

Aber das war es nicht. Sondern es war ein Bild, das Annette und mich elektrisierte. Von Aeham Ahmad existieren Video-Aufnahmen, die ihn in den zerbombten Straßen eines von Rebellen gehaltenen Stadtteils von Damaskus zeigen. Den hatte 2013 Präsident Assad monatelang mit Raketen beschossen. Auf YouTube ist Aeham zu entdecken, der damals inmitten der Ruinen auf einem transportablen Klavier für die Kinder des bombardierten Viertels unter freiem Himmel musizierte. Und er lachte und sang, sang und spielte lachend. Damit die Kinder singen und lachen und für Sekunden des gemeinsamen Musizierens die tödliche Bedrohung vergessen konnten.

Dieses Bild voller Tragik und Schmerz, Lebensgefahr und Lebensbejahung, hat uns in die Filmmusik von 15 Jahre getragen. In dem Lachen steckte zum einen Trotz – denn Trotz ist, wenn man trotzdem lacht. Ein anderer, ein fatalistischerer und vor allem friedlicherer Trotz als der, den Jenny in VIER MINUTEN in ihr Instrument geprügelt hatte (eher der hoffnungsvolle Trotz des Apfelbäumchens, das wir nach dem Diktum Martin Luthers zu pflanzen haben, selbst wenn die Welt morgen zusammenbricht). Und zum anderen barg dieser ergreifend paradoxe Umgang mit dem Unerträglichen das, was Peter Handke als „herzbeflügelnde Fröhlichkeit“ bezeichnet – die nur überhaupt nicht zu Ort und Zeit und Raketen zu passen schien.

Der entsetzliche reale Hintergrund von Aeham Ahmads Schicksal hatte uns einen Zugang zu Jenny geöffnet. Und einen Zugang zum Drehbuch, das es ja zum damaligen Zeitpunkt noch gar nicht gab. Es wurde uns mehr und mehr bewusst, dass nur Musik auf diese hochtraumatisierte Figur einwirken, ihren Charakter aufstemmen und ihre Geschichte und Entwicklung vorantreiben könnte – kein Mensch. Denn Menschen glaubt Jenny nicht. Wie ein wildes Tier musste sie mit einer sie begeisternden Musik gefüttert werden, bevor sie der Hand vertraute, die ihr das Futter gab.

Annette schlug vor, das Drehbuch ganz aus den Pianostücken heraus zu entwickeln, die sie zu komponieren gedachte. Sie sollten der Urknall zur Figur des Omar sein, jener Hand, die Jenny die musikalische Nahrung verabreichte. Und da dieser Omar auch singen würde, ähnlich wie sein reales Vorbild Aeham Ahmad, würde sich auch Jenny, sofern sie zu Omar eine Bindung eingeht, zu einer Sängerin hin entwickeln können.

Der Zirkelschlag des Filmes sollte um Jennys Stimme gezogen werden – und wie sie zu ihr findet. Im wahrsten Sinne des Wortes. Denn mehr eigene Stimme als die eigene Stimme geht nicht. So entstand unsere Idee, dass Jennys Musik in 15 JAHRE einfach ein Lied sein könnte, und der Film mit ihrem Lied enden würde, das ihr von einem Mann, dessen Musik sie viel stärker liebt als ihn selbst, geschenkt wird.

Leider ist es schwer, außergewöhnliche Musik zu komponieren, zumal dann, wenn sie einen ganzen Film und ihre Figuren determiniert. Denn die Musik des Omar sollte nicht nur den Charakter des arabischen Protagonisten treffen, sondern auch glaubhaft die europäische Protagonistin betören und in leidenschaftliche Euphorie für Omars fremd klingende Melodien ausbrechen lassen – davon ganz abgesehen, dass auch ein Kinopublikum diese Musik für nichts weniger als großartig halten musste.

Annette Focks ist eine durch und durch unerschrockene Person. Bei Vier Minuten hatte im Drehbuch gestanden, das Jenny in der letzten Szene des Films in einem riesigen Konzertsaal eine eigene Komposition darbietet, „die Robert Schumann erblassen lassen würde“. Es ist keine Kleinigkeit, diese Regieanweisung, mit der es der Autor sich selbst leicht, dafür der Komponistin schwer gemacht hatte, adäquat umzusetzen. Annette Focks ist dies damals gelungen, sonst wäre der Film gescheitert.

An ihrer selbstgewählten Aufgabe in 15 JAHRE biss sie sich ein Jahr lang die Zähne aus. Sie mischte Reminiszenzen an ihre alte Jenny-Musik mit verschiedensten Einflüssen arabischer Harmonik, lud sich diverse syrische Sängerinnen und Sänger in ihr Studio und komponierte in zwölf Monaten fast 30 Stücke, um den einzig richtigen Ton zu treffen.

Am Ende entschieden wir uns für eine Mischung aus atonalen Klangmustern, rhythmisch treibender Grundstruktur, zarten Harmonien und unbändiger Kraft, aus denen Annette zwei, wie ich finde, einzigartige Lieder destillierte. Sie sind das Fundament der Geschichte.

Für Jennys deutsche Lieder wiederum, deren Kompositionen in 15 Jahre vorgeblich von Omar stammen und nicht wie Fieberträume, sondern wie eine heiter-melancholische Aussicht auf unberührte Landschaften wirken sollten, schlug Annette vor, dafür nicht sie als Filmkomponistin zu beauftragen, sondern eine authentische Liedermacherin oder einen Songwriter, die „Jenny gut finden kann“. Ich hörte mich um.

Wiederum war es Zufall, dass ich bei der Recherche nach TV-Talent-Shows auf einen Song in dem SAT.1-Spektakel „Voice of Germany“ stieß, der „Flügel“ hieß. Der Interpret war ein Jugendlicher namens Egon Werler mit einer unfassbaren Röhre. Unter anderem sang er die Zeile „Tief im Gefängnis der Welt rebellier ́ ich und weiß nicht wozu/Vertraute Gesichter im Licht, ich lieb sie alle, doch ändert das nichts.“ Das war tatsächlich eine Poesie, die auch Jenny in einem guten Moment hätte schreiben können – auch wenn sie kaum gute Momente kannte und vertraute Gesichter nicht besonders lieb hatte.

So kam der Berliner Liedermacher und Komponist von „Flügel“, Max Prosa, mit in das Projekt und steuerte zwei Songs bei, die in ihrer Sehnsucht und Zerrissenheit die Figur Jenny auf den Punkt bringen.
Die Kompositionen von Annette Focks und Max Prosa wurden in einer Mischung aus Optimismus und Hybris arrangiert, aufgenommen, fertig produziert, bevor auch nur eine einzige Millisekunde Film belichtet werden konnte. Sie entstanden samt singender Beteiligung von Hannah Herzsprung, Hassan Akkouch, Albrecht Schuch, ohne dass die Finanzierung gesichert war, ebenso wie der zentrale Popsong des Films, „Stay“ von Nicholas Bradley. Es hätte alles umsonst sein können. Asche und Staub. Aber das ist beim Film natürlich immer so. Ein kompletter Wahnsinn.

Die sonstigen Source-Musiken von 15 JAHRE, die humorlosen klassischen Stücke wie Schuberts Impromptus (ein kleiner Gruß an Moni Bleibtreus drillichgraue Frau Krüger) oder Beethovens Waldsteinsonate (ebenfalls in Vier Minuten zu hören), das Kirchenlied „Ins Wasser fällt ein Stein“, das französische Chanson „Oh la vie“ oder Weihnachts- und Volkslieder, Brassbands und Ragtimes, umstellen Omars und Jennys Lieder wie Scheinwerfer. Sie geben melodiöses Licht, man hört sie und man hört sie nicht.

– Chris Kraus, Autor und Regisseur

07.01.2024, 19:14

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