Außergewöhnlich!

Interview Die Autorin und Regisseurin von „Die Odyssee“, Florence Miailhe, spricht im Interview über die Entstehung ihres Films – von den ersten Skizzen, ihrer Zusammenarbeit mit der Autorin Marie Desplechin bis hin zur Finalisierung ihrer Erzählung
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Foto: 2020 Les films de l'arlequin, Balance Film, XBO film, MAUR film

„Die Odyssee“ wirkt sehr aktuell, und doch haben Sie schon vor einem Jahrzehnt mit der Arbeit an diesem Film begonnen. Was hat Sie ursprünglich dazu inspiriert, diese Reise anzutreten?

Ja, das ist wirklich schon mehr als zehn Jahre her... Ich habe 2006 während eines Aufenthalts in der Abtei von Fontevraud begonnen, die Geschichte zu entwickeln. Vier Jahre später erhielten Marie Desplechin und ich den Drehbuchpreis auf dem Festival Premier Plans in Angers. Es dauerte dann allerdings mehr als zehn Jahre, bis Dora Benousilio, die Produzentin, die Mittel für den Film aufbrachte.

In den frühen 2000ern erlebte Europa eine beispiellose Welle von „illegalen“ Migrant*innen, von denen die meisten aus Afrika und dem Nahen Osten kamen und an den Stränden von Malta oder Lampedusa landeten. Aufgrund ihres schieren Ausmaßes sind diese Migrationsbewegungen zu einem der schwerwiegendsten menschlichen, wirtschaftlichen und politischen Probleme des frühen 21. Jahrhunderts geworden. Viele betrachteten sie als völlig neues Phänomen, dabei erinnern sie doch an die großen Migrationen zu Beginn des 20. Jahrhunderts – und an die aller Jahrhunderte davor.

Die Flucht vor Verfolgung, die Suche nach einem weniger feindseligen Land; einer bedrohlichen Situation zu entfliehen oder weniger strengen Gesetzen unterworfen sein zu wollen; sich schließlich dazu verleiten zu lassen, Meere und Kontinente zu überqueren, das ist eine Geschichte, so alt wie die Menschheit. Von ihr erzählt die Literatur und in jüngerer Zeit auch das Kino. Denken wir nur an Charlie Chaplins „The Immigrant“ von 1917, an Aki Kaurismäkis 100 Jahre später veröffentlichtes „The Other Side of Hope“ oder an Elia Kazans „America“.

Meine Familiengeschichte ist selbst eine der Migration. Wie Tausende andere verließen meine Urgroßeltern zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ihre Heimat Odessa, auf der Flucht vor antisemitischen Pogromen. Das ist ein Grund, warum die gegenwärtige „Migrationskrise" in mir so sehr nachhallte. Mir schoss unwillkürlich in den Kopf, wie viele von uns doch von woanders herkommen und wie viel Mut, Einfallsreichtum und Hoffnung es braucht, diese immensen und gefahrvollen Reisen auf sich zu nehmen. Ich wusste auch, dass die individuellen Abenteuer außergewöhnlich und oft genug tragisch sind – und es auf jeden Fall wert sind, erzählt zu werden.

Der Tod des kleinen Aylan Kurdi, der 2015 ertrunken an einem türkischen Strand gefunden wurde, machte allzu deutlich, welche herzzerreißenden Schicksale sich hinter dem doch recht abstrakten Wort „Migration“ verbergen können. Seit ich mit der Arbeit an diesem Film begonnen habe, haben mich die Fakten immer wieder darin bestätigt, dass Kunst diese Realität darstellen sollte.

Welche Art von Recherche haben Sie für den Film betrieben?

Ich habe mich sehr stark von Fotografien inspirieren lassen. Ich habe in Archiven über einen langen historischen Zeitraum nach Fotos von Migrant*innen, Lagern und Plünderungen gesucht. Vor allem habe ich die Archive der Agentur Magnum genutzt, für die mein Mann Patrick Zachmann als Fotograf tätig ist. Er war 2011 auf Malta und Lampedusa, um über das Mittelmeer, die Zustände an den Abfahrtstellen und die Überfahrten zu berichten. Er brachte Fotos von Bootsfriedhöfen mit, von Booten mit Männern und Frauen, die auf dem Meer verschollen waren, von jungen Menschen, die nach einem Ausweg suchten. Es gab schon damals viele Tote auf See. Die Katastrophe dauert immer noch an und das Mittelmeer ist zu einem der größten Friedhöfe der Welt geworden.

Eine weitere Inspirationsquelle fand ich in den Skizzenbüchern meiner Mutter, Mireille Miailhe, die aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs stammen. Sie war damals kaum aus dem Teenageralter heraus. Wie Kyona, die Heldin des Films, zeichnete sie ständig ihre Familie, ihre Freunde, Szenen aus dem täglichen Leben. Ihre Zeichnungen dienten mir als Vorlage für einige der Charaktere und Szenen des Films. Diese Skizzen, die in einer kriegerischen Zeit entstanden sind, haben im Film einen fast dokumentarischen Wert.

Marie und ich haben unser Buch außerdem mit persönlichen Geschichten angereichert: Da wären meine Großeltern, die ihre Kinder im Gepäck versteckten, weil sie nicht genug Geld hatten, um die Zugfahrt für die ganze Familie zu bezahlen, meine Mutter und ihr Bruder, die 1939-40 alleine in die unbesetzte französische Zone fuhren. Wir haben Mythen, Geschichten aus dem letzten Jahrhundert und zeitgenössische Zeugnisse ineinander verwoben. Die gemeinsamen Linien all dieser Epen haben wir herausgearbeitet, um so eine universelle und zeitlose Geschichte erzählen zu können.

Der Film ist als Erzählung angelegt, warum dieses Genre?

Viele meiner früheren Kurzfilme sind Adaptionen von Märchen oder wurden wenigstens von ihnen inspiriert. In dieser Welt fühlen Marie Desplechin und ich uns gleichermaßen zuhause. Während wir uns in gewisser Weise von Geschichte und aktuellen Ereignissen nähren, erlaubt uns das Märchen, eine distanzierte Haltung einzunehmen, nur die groben Umrisse eines Sachverhalts zu behalten und Zugang zu einer menschlichen Wahrheit zu finden, die zu allen Zeiten und an allen Orten gültig ist.

Wir haben uns von Charakteren und archetypischen Märchenmotiven inspirieren lassen und haben sie auf aktuelle Situationen bezogen: die Kinder sind alle kleine Däumlinge, die auf ihrer Flucht von ihren Eltern getrennt werden, Oger schmuggeln Kinder, die Hexe Babayaga versteckt einen jungen Migranten, der sich im Wald verirrt hat. Ob nun böse oder wohlgesonnene Charaktere, sie alle finden ihre Entsprechung in Märchen. Was nun Adriel und Kyona betrifft, so besitzen sie Charakteristika von Hänsel und Gretel, von Gerda und Kay aus Hans Christian Andersens SCHNEEKÖNIGIN oder auch des kleine Rémi aus Hector Malots Roman „Sans Famille“.

Indem wir Gewesenes mit der Gegenwart auf so intime Weise verknüpfen, können wir alle Publikumsschichten ansprechen, wobei jede auf ihre je eigene Weise die Erzählung rezipieren wird.

Erzählen Sie uns von Ihrer Zusammenarbeit mit Marie Desplechin, warum haben Sie die Geschichte in Kapiteln erzählt?

Wir arbeiten schon sehr lange zusammen und sind ein eingespieltes Team. Vielleicht kam die Geschichte in Kapiteln zu uns, weil ich so gerne Kurzfilme drehe und Marie Romane schreibt. Wir haben es jedenfalls sehr genossen, von Geschichte zu Geschichte zu schreiten. Aus technischer Sicht ermöglichte diese Struktur aber auch eine Arbeitsteilung, die für eine internationale Koproduktion sehr nützlich ist. Jedes Kapitel führt uns an einen anderen Ort, mit seinen Figuren, seinen Farben, seiner Jahreszeit.

Gemalte Animation auf Glas ist so beeindruckend, aber auch zeitaufwändig. Können Sie erklären, warum Sie mit dieser Technik arbeiten und wie Sie sie für einen Spielfilm adaptiert haben?

Ich habe schon immer mit animierter Malerei direkt unter der Kamera gearbeitet. Das ist eine Technik, die ich besonders mag. Für mich war von vornherein klar, dass „Die Odyssee“ auf genau diese Weise erzählt werden musste. Wir lösen uns mit ihr ein wenig von der Realität, Erinnerungen werden geweckt. Wenn ich mir die Landschaft meiner Kindheit vorstelle, erinnere ich mich an einen sehr blauen Himmel, einen sehr schwarzen Berg. Das Reale erscheint verfremdet und sublimiert. In diesem Sinne haben wir Sets und schließlich die Form der Animation entwickelt, wobei wir die Zerbrechlichkeit des Materials und seine Vergänglichkeit berücksichtigt haben.

Diese Praxis erfordert präzises und intuitives Arbeiten. Ich habe sie im Laufe meiner filmischen Karriere immer weiter verfeinert. Die Animation wird Bild für Bild auf mehreren Glasschichten direkt unter der Kamera ausgeführt. Dieses System ist so aufgebaut, dass so weit wie möglich alles zur gleichen Zeit und von der gleichen Person gemacht wird: die Figuren, das Set, die Effekte, die Farbe. So kann das Bild jederzeit in seiner Gesamtheit konzipiert werden. Für Animator*innen fühlt es sich an, als würden sie ein Gemälde zum Leben erwecken. Es stimmt, dass animierte Malerei etwas länger dauert als andere Animationstechniken, aber vor allem, weil die Arbeit schwieriger zu teilen ist. Wir sind gezwungen, in einem kleinen Team zu arbeiten und die Produktion dauert deshalb viel länger.

Sowohl für die Produzent*innen als auch für mich war es sehr schwierig, einen verlässlichen Zeitplan für die Animation zu erstellen. Abhängig von Aufnahmen undAnimator*innen konnten pro Tag mal 6 Sekunden, dann wieder nur eine Sekunde Film entstehen.

Erzählen Sie uns von Ihrem Team und wie Sie über drei Länder hinweg zusammengearbeitet haben?

Um das „künstlerische“ Team des Films (Sets, Animation und Grafik) zusammenzustellen, haben wir ein Casting durchgeführt. Wir wählten Designer*innen, Animator*innen und Grafiker*innen aus, deren Zeichenstil und Art zu animieren meinem Stil schon sehr nahe waren. Seltsamerweise waren die meisten Leute, die zum Casting erschienen, Frauen. Ich brach also mit Geschlechterquoten und arbeitete mit einem fast ausschließlich weiblichen Team.

Teilweise mussten wir aus Produktionsgründen die Arbeit auf verschiedene europäische Länder aufteilen. Dora fand Produzent*innen in der Tschechischen Republik und in Deutschland, die von dem Projekt begeistert waren. Ich drehte zwischen Toulouse (wo der Koproduzent Luc Camilli ansässig ist), Prag, Leipzig und Halle. In Toulouse haben wir mit etwa fünfzehn Künstlerinnen und einem Zeichner 600 gemalte Kulissen auf Seidenpapier und Zelluloid angefertigt; die Animation wurde auf Prag, Leipzig und Toulouse aufgeteilt und in Halle fand schließlich das Sounddesign statt. Die Regieassistent*innen organisierten die Arbeit, und wir stellten zwei Chefanimatorinnen für die Zeiten ein, in denen ich nicht mit dem Team vor Ort sein konnte.

Und schließlich bin ich den Dolmetscher*innen dankbar, die alles dafür getan haben, dass sich alle so gut wie möglich verständigen konnten – was beileibe nicht immer einfach war!

Die Produktion des Films hat drei Jahre gedauert. Was waren Ihre größten Herausforderungen, als Sie nach so vielen erfolgreichen Kurzfilmen Ihren ersten Spielfilm drehten?

Bis dahin hatte ich immer allein oder höchstens mit zwei, drei Leuten gearbeitet. Es war das erste Mal, dass ich ein so großes Team leitete und anderen Regieanweisungen für Sets und Animation gab. Ich habe dabei versucht, keine allzu strengen Vorgaben zu machen, ich musste die Leichtigkeit der Farbe spüren und eine gewisse Zufälligkeit bei den Pinselstrichen zulassen und dabei doch die Einheit des Ganzen bewahren. Wir mussten uns die Figuren aneignen, ohne sie zu kopieren, aber auch ohne uns von ihnen zu distanzieren. Die Animator*innen und Dekorateur*innen hatten eine gewisse Freiheit bei der Wahl ihres Ausdrucks, ihrer Linie. Scherzhaft habe ich immer gesagt, dass mein Team auf Bewährung war.

Wir machten viele Skizzen für die Figuren, die Zeichnungen, die Animation. Wir versuchten, von jeder Einstellung das erste Bild zu machen, sodass die Animator*innen mit einer kohärenten Basis arbeiten konnten. Die Erfahrung war außerordentlich bereichernd. Es war großartig zu sehen, wie jede Einstellung nach und nach ihren Platz im Ganzen einnahm.

Sie haben einige sehr besondere (und manchmal unheimliche) Charaktere geschaffen: Iskander & Jon, das kinderlose bürgerliche Paar, der Zirkusbesitzer oder die Babayaga, um nur einige zu nennen. Woher kommen sie?

Die Figuren wurden sowohl von Märchen als auch von tatsächlichen Begebenheiten inspiriert. Jon stellt eine universelle Figur des Bösen dar, ist aber auch von den Menschenhändlern inspiriert, die seit jeher Profit aus menschlichem Elend schlagen. Die Babayaga finden wir so oder so ähnlich in vielen traditionellen Märchen, in denen ein junges Mädchen ein Jahr in Gesellschaft einer alten Frau in einem verlorenen Wald verbringt. Gleichzeitig haben wir auch Aspekte des Romans „The Story of A Life“ von Aharon Appenfeld einfließen lassen. Das bürgerliche Paar besteht gleichsam aus Oger und Schneekönigin, die Geschichte erinnert hier an Situationen, in denen Kinder entführt und in reiche Familien gebracht werden. Straßenkinder, die sich wie Krähen von den Müllhalden ernähren, gibt es wiederum tatsächlich noch in vielen Ländern. Es war Maries Kunststück, ihnen eine glaubwürdige Form zu geben.

Die musikalische Untermalung ist in Animationsfilmen sehr wichtig und Ihre ist sehr schön. Wie haben Sie mit dem Komponisten gearbeitet?

Wir haben schon in einem sehr frühen Stadium begonnen, mit dem Komponisten Philipp Kümpel zusammenzuarbeiten. Sobald die Animation fertig war, fing er an, die Musik festzulegen und ein Modell vorzubereiten. Ich wollte, dass die Musik die Art von Musik ist, die man mitnimmt, wie in seinem Gepäck, wenn man abreist. Sie sollte sich einprägen wie ein Kinderreim, so wie beim Thema der Elster. Basierend darauf schlug Philippe zahlreiche Stücke vor, die zum Beispiel Freundschaft, Flucht, Gefahr oder Reisen musikalisch begleiten sollten.

Die Herausforderung bestand nun darin, die Emotionen zu begleiten, ohne die einzelnen Szenen überzudramatisieren. Da Philipp Kümpel sich beim Komponieren von Akkordeonstücken „à la française“ nicht so wohl fühlte, war Marc Perrone so freundlich, mich aus seinem Repertoire schöpfen zu lassen. Manu Merlot und Lucien Larquère komponierten die Originalmusik zur Begleitung der Zirkusnummer. Mit Nassim, dem Cutter, platzierten wir die einzelnen Themen auf den Bildern, ohne dabei unbedingt auf die Sequenzen zu achten, für die Philippe Kümpel sie sich ausgedacht hatte. Nach vielem Hin und Her überarbeitete und arrangierte er die Stücke so, dass sie genau ihren Platz im Film einnahmen. Die Musik wurde vom Filmorchester in den Babelsberger Studios eingespielt. Es war zauberhaft!

26.04.2022, 13:18

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