Bedeutsamer Perspektivwechsel

Kommentar Die Regisseurin Maria Speth kannte den Lehrer Dieter Bachmann mehrere Jahrzehnte, bis sie sich entschied, einen Film zu drehen – über ihn, seine Zugewandtheit und die Schüler*innen, die sich an einem Ort des Vertrauens frei entfalten können
Stadtallendorf in Nordhessen, Deutschland.
Stadtallendorf in Nordhessen, Deutschland.

Foto: GRANDFILM

Dieter Bachmann und ich kennen uns schon seit Jahrzehnten. Nachdem er in Stadtallendorf an der Gesamtschule angefangen hatte, als Lehrer zu arbeiten, erzählte er über Jahre hinweg immer wieder von dieser Stadt und den Schüler*innen der Georg-Büchner-Schule. Ich müsse mir das unbedingt mal ansehen.

Nähert man sich dieser Stadt mitten in der deutschen Provinz von einem der umliegenden Hügel aus, zeigt sich eine Silhouette rauchender Industrieschornsteine im Dunst über der Ebene. Aus der Ferne erscheint die Stadt als riesiges Fabrikareal, umgeben von Wohnblocks auf der einen Seite und einem alten Fachwerkdorf auf der anderen.

Fährt man durch die Stadt, stehen Schilder am Straßenrand. Sie verweisen auf eine DAG oder eine WASAG, auf ein „Dokumentations- und Informationszentrum“, auf ein „Zwischenlager für TNT-kontaminierten Boden“. Und immer wieder ältere Gebäude, auf deren flachen Dächern Grün wuchert. Verkrüppelte Kiefern. Junge Birken. Gestrüpp. Fragt man nach der Geschichte dieser Spuren, erfährt man, dass Allendorf bis 1938 ein kleines Bauerndorf war. Dann errichtete das NS-Regime dort die größte Sprengstoffproduktionsanlage Europas. Bei Kriegsende waren hier fast 17.000 Menschen eingesetzt. Zwangsarbeiter*innen, Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge.

Da die Produktionsanlagen im Krieg nicht zerstört wurden, kamen in der Zeit des Wirtschaftswunders neue Industrien nach Stadtallendorf. Die Eisengießerei Fritz Winter und die Schokoladenfabrik Ferrero wurden zum Zentrum der Stadt. Steigt man auf der Einkaufsstraße aus dem Auto, riecht es nach einer Mischung aus Metall und Haselnusscreme.

Besucht man Dieter Bachmann während einer Pause in seiner Klasse, hört man neben deutsch auch türkisch, russisch, bulgarisch, italienisch. Die Zusammensetzung der Klasse zeigt die Bevölkerungsstruktur der Stadt. Alle Zuwanderungswellen der deutschen Nachkriegsgeschichte hinterließen hier ihre Spuren. Heute haben 70% der Einwohner*innen einen sogenannten „Migrationshintergrund“.

Und dann beginnt Herr Bachmann mit dem Unterricht. Man erlebt einen Lehrer, der eine persönliche, emotionale Beziehung zu seinen Schüler*innen herstellt. Der sich nicht nur als Wissensvermittler sieht, sondern der seine eigene Person mit allen Stärken und Schwächen einbringt. Nichts tabuisiert und den Schüler*innen vorurteilsfrei begegnet. Nicht nur als Anspruch der politischen Korrektheit sondern als gelebte, emotionale Offenheit ohne unterschwellige Ressentiments. Er schafft dadurch eine offene, angstfreie Atmosphäre, in der sich die Schüler*innen sicher fühlen, sich zeigen und entfalten können. Die Schule wird zum Wohnzimmer. Zu einem Ort des Vertrauens, in dem alles verhandelt werden kann, was den Schüler*innen auf der Seele brennt. Mit einem Lehrer, der sie im Gespräch herausfordert, provoziert, ermutigt, kritisiert und bestärkt. Der für Solidarität und Empathie wirbt. Und weiß, dass die Stärkung des Selbstwertgefühls wichtiger sein kann, als der Satz des Pythagoras. Der all seine Fähigkeiten in die Waagschale wirft, damit sich auch nicht-schulische Fähigkeiten entwickeln können. Jonglieren. Steine formen. Tische bauen. Tanzen. Musik machen. Wichtige Aktivitäten, die die Kommunikation unter den Kindern fördern und helfen, soziale, kulturelle und sprachliche Barrieren zu überbrücken.

Der Ausgangspunkt des Projekts waren nicht Thesen über die bundesrepublikanische Realität als Einwanderungsland oder die Präsentation eines neuen Unterrichtsmodells, sondern die ergebnis-offene Beobachtung und die vorurteilsfreie Begegnung mit diesen Menschen.

Die Liebe zu diesen Kindern keimte schon während der Dreharbeiten, entfaltete sich für mich aber erst so recht bei der Montage. Eine Liebe, die befördert wurde von deren direkter, emotionaler Offenheit und ihren aufscheinenden Potentialen. Kinder, die auf Grund ihres Alters noch keine Techniken der Verstellung entwickelt hatten und auf Grund ihrer Herkunft keine Techniken der Selbstdarstellung. In gewissem Sinne war diese Liebe auch ein wichtiges Leitmotiv der Montage.

Die Kinder in Bachmanns Klasse kommen sozial gesehen überwiegend aus der Industriearbeiterschaft. Ungeachtet ihrer türkischen, russischen, bulgarischen oder deutschen Wurzeln. Mit Recht kann man ihre Lebensverhältnisse als prekär bezeichnen, ihre Bildungs-, Entwicklungs- und Aufstiegschancen als begrenzt. Aber so wie Lehrer Bachmann diesen jungen Menschen im Klassenraum die Möglichkeit zur Entfaltung von Fähigkeiten, Schönheit und Würde gibt, wollte ich ihnen das in der Montage geben: Stars zu sein für 217 Minuten ...

– Maria Speth, Regisseurin von „Herr Bachmann und seine Klasse“

14.09.2021, 11:47

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