Finden Sie den subjektiven Kern

BLICK AUF DIE NAHTSTELLE Eine kompetente Sammlung deutsch sprachiger Lyrik aus den neunziger Jahren: "Das verlorene Alphabet"

Anthologien "machen" Gedichte. Wie viele Gedichte. Wie viele Gedichte haben in unserem Gedächtnis nur Platz gefunden, weil sie sich in die "Blumenlesen" zu retten wussten! Das Lesebuch, dem eine unschätzbar wichtige Vermittlungsaufgabe auch fürs Gedicht zukam, stirbt ja einen langsamen Tod. Die Anthologie von Michael Braun (Kritiker) und Hans Thill (Dichter) fügt sich brauchbar und ergänzend hinzu: Sie beschränkt sich auf deutschsprachige Lyrik und zeigt sich darin als Meister. Auf gut 200 Seiten werden über 130 Autoren präsentiert, gestandene und Erstpublizierende. Natürlich sind nicht alle gleich überzeugend, aber man bekommt doch einen hochkompetenten Einblick in die gegenwärtige Lyrikszene.

Den Herausgebern schwebte eine "Konfrontationsstrategie" vor: Die Einteilung in elf Gruppen soll ein konfrontatives Nebeneinander von Texten ermöglichen, die sonst nicht miteinander/gegeneinander gesprochen hätten. Das funktioniert - wie anders? - nur gelegentlich, erlaubt aber eine geistreiche, das Mitdenkenden anstoßende Vielfalt, die über ein Sammelsurium hinausreicht.

Die Sammlung wird von großen Themenansätzen eingerahmt (wenn man vom Nachspiel "Playback" absieht): Mein Land und Grabung, beide bezogen auf Deutschland-Deutschland. Grünbein, Czechowski, Sarah Kirsch, Braun, Hilbig und andere stehen für die sehr unterschiedliche Frage danach, was "mein Land" heißen könnte. Das ist ja auf beiden Seiten noch nicht recht ausgemacht, und Delius fasst das in die Genauigkeit des Paradoxes: "Ich entferne mich / Und bin da." So kann Hilbig sein Grundtheorem der "Versprengung" wieder aufnehmen: längst war mein schritt behutsam nicht mehr frei/ein fuß dem steilen rückgrat stets voraus ich ging/als sei ich endlich aufgewacht... womöglich war ichs auch/ähnlich dem herbst: er ist der frühling der toten .../. Und im Westen findet sich Dirk von Petersdorff, lockerer im Ton, vergleichbar jambisch gebunden: ich sitze dezentriert in Delmenhorst.

Der Titel Grabung stammt von Karl Mickel, in seinem Gedicht heißt es mit leicht russischem Tonfall: Der Ostblock zer broeckelt / Unter meinem Arsch. Kito Lorenc, Kunert und Kühn, Czechowski, Erb, Koneffke: Viele Stimmen bezeugen eine gewisse Ratlosigkeit mit den Zeiten, mit Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Der Gestus Grabung zitiert den Versuch, aus dem GeSchichte der Geschichte etwas mitnehmen zu können. Etwa dies: Die Mongolen gewinnen immer / alle Schlachten und bleiben die Verlierer / der Geschichte (Harald Gerlach). Die Texte zeigen so gut wie durchweg, dass daraus keine Geschichtsphilosophie entspringen kann, dass es gilt, den Blick auf die Nahtstellen zu richten (Elke Erb).

Das "abtropfende Fett der Revolution" hat manche Lyrik ernährt, die hier unterm Enzensberger-Stichwort "Minimalprogramm" gesammelt ist. Das Theorem vom Tod des Subjekts ("Das Ich - eine Hohlform") privilegiert vor allem experimentelle Lyrik (Pastior, Mon, Schmatz, Stolterfoht, Franzobel und viele andere). Doch deren Vielfalt und je eigene Handschrift/Lautart zeigen wiederum, dass man's mit diesem Tod nicht wörtlich nehmen darf: richtig glitschig alles (Thomas Kling). Und der Mitherausgeber Hans Thill formuliert die Maxime: "Finden Sie den subjektiven Kern im Auflösungsprozess des Subjekts".

Listig haben die Herausgeber die Gruppen so geordnet, dass Ost-West-Differenzen nur wenig greifen können. Immerhin sind auch die Schweizer und Österreicher dabei und ist ein Niveau gehalten, das sich nicht wieder auf Themen festpinnen lässt. Elisabeth Borchers (Eines Tages) bekräftigt: Das ist keine Erzählung. / Das ist der Augenblick.

Michael Braun/Hans Thill (Hrsg.): Das verlorene Alphabet. Deutschsprachige Lyrik der neunziger Jahre. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 1998, 256 S., 49,80 DM

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden