Was nennen Sie links?

Jubiläum II Günter Gaus im Gespräch mit Alexander Kluge (1993)

Alexander Kluge: Wann haben Sie sich entschlossen, einer der Herausgeber der Wochenzeitung "Freitag" zu werden?
Günter Gaus: Der Freitag ist noch immer die Zeitung, die - und das ist ein Grund, warum ich in dem bescheidenen Umfang, in dem ich die Zeit dafür habe, Mitherausgeber dort bin und es gern bin - größte Zurückhaltung gegenüber Infotainment übt. Das heißt, sie will informieren - und nicht unterhalten und dadurch Informationen transportieren. Der Freitag meint es redlich und ernst mit der Intellektualität, ohne dass dies langweilig sein müsste. Ich finde, dass der Freitag sehr oft nicht langweilig ist, ohne dabei modisch zu sein. Das ist er hoffentlich nicht.

Schließlich ist dieses Blatt nicht so nach rechts gerutscht wie fast alle Wochenzeitungen, die heute ein bisschen weiter rechts sind, als sie das vor der Wende waren. Der Freitag ist eine Wochenzeitung, die - ohne dass sie parteipolitisch gebunden wäre, wie sollte sie das auch sein - links ist.

Was nennen Sie links?
Ich nenne links, dass man gesellschaftliche Fragen für vorrangig hält. Dass man die gesellschaftlichen Antworten, die gegeben werden, jedes Mal sehr skeptisch überprüft, ob sie wirklich mehr als eine Tagesantwort sein können. Seit der Kommunismus aus der Welt geschafft worden ist - jedenfalls in Europa -, pflegen sich Tagesantworten zuweilen als letzte Antworten der Geschichte auszugeben. Der Freitag ist in dem Sinne links, dass er sagt: Wir wollen doch erst einmal sehen, ob das, was wir derzeit tun, wirklich das Richtige und das letzte Wort der Geschichte sein kann.

Und in dem Sinne links, dass man sagt, es muss eine Gesellschaft geben mit gleichen Chancen für die Menschen, die in ihr leben. Und diese Chancengleichheit muss hergestellt werden, ohne dass darunter die Herstellung von Gleichheit zu verstehen wäre. Aber Chancengleichheit für vordringlich im Sinne gesellschaftlicher Gerechtigkeit zu halten - auch das ist eine linke Position, die der Freitag vertritt.

Eine linke Position wäre also skeptisch empfindend?
Ja.

Geduldig?
Ja.

Langfristig angelegt, über die Generationen hinweg?
Ja, aber in einem Punkt sollten sich linke Positionen von denen unterscheiden, die es gegeben hat und wohl auch noch gibt, und von denen ich finde, dass sie zu Recht zurückgedrängt worden sind: Man sollte nicht denken, dass man gesellschaftliche Fragen für alle Zeiten beantworten kann.

Sie sagen, ein Konservativer könnte sehr wohl links sein, ein Reaktionär dagegen nicht.
Ich bin, glaube ich, von Geblüt konservativ. Ich bin aber links. Ich glaube, dass wir im Sprachgebrauch, weil wir ein bisschen konfliktscheu geworden sind - der Freitag ist das übrigens nicht, was ich auch an ihm lobe -, etwas konservativ nennen, was richtigerweise reaktionär genannt werden müsste. Ich bin nicht reaktionär, aber ich bin konservativ. Ich habe mich nicht sehr geändert, obwohl ich jetzt manchmal das Gefühl habe, ich stehe weit links außen. Das mag daran liegen, dass der Rest der Gesellschaft mit großer Geschwindigkeit nach rechts an mir vorbeigezogen ist.

Das Gespräch wurde 1993 für eine Dokumentation der dctp-Reihe Presselandschaft in den neuen Bundesländern geführt.


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