Imperialistische Inszenierungen

Wahrheitslücken Wir wissen nicht genau, wie ernst es mit unserer verschleuderten Identität ist - unbekannt ist auch die wirkliche Bedrohung des europäischen Friedens in der Ukraine

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Die Wahrheit liegt so manchem am Herzen und scheint dochkaum erreichbar.Im unübersichtlichen Dschungel des weit verzweigten Kulturlebens werden Schneisen geschlagen, Zeichen gedeutet. Ruheplätze entstehen, Umwege eröffnet. Warum, wohin? Diese abenteuerliche Geschichte setzt >Mut zur Lücke< voraus.Spieltheoretisch weiß keiner der beteiligten sicher, welches der nächste Zug im Netzwerk der verschwimmenden Freund-Feindverhältnisse ist. Und keine Macht der Welt kann garantieren, dass interessierte Leidenschaft, Täuschung und Selbsttäuschung außen vor bleiben. Alle nur denkbaren Faktoren sind dabei, wann und wo Konfliktebearbeitet werden.

Wer George Orwells Roman >1984< liest, findet sich in eine bürokratische Welt zweckfreier Arbeitversetzt.Moderne Überwachungsmethoden in der Hand geheimnisvoll legitimierter Clan-Chefszielen auf die Herstellung angepassten Verhaltens. Der Folterkeller mit seinen Ratten ist terroristisch inspiriert. Wahrheit, Liebe, Glück, Erinnerungs- und Empathiefähigkeit werden planmäßig in willkürliche, bodenlose Zweckmäßigkeit umgeschrieben. Die vormalige Welt ist in der Gegenwart des Romans mit Sehnsüchten besetzt, aber eigentlich kaum mehr als ein totes Museum.Totalitäre Regimeslieferten den Stoff für die Hypothese des englischen Schriftstellers Eric Arthur Blair (George Orwell), aus liberal-demokratischen Utopien und Denkschemata erwachse die nach - moderne Diktatur.

Heute sind wir drei Jahrzehnte über diekonstruierte Romanrealität hinaus.Wir dürfen, mit der Freiheit im Herzen und vielleicht auch im Kopf, von der Tatsache ausgehen, dass unser Tun und Lassen intensiv überwacht wird. Im Krieg der Datensammelwut und Verwertungsstrategien verwandeln sich unsere konkreten Fragen nach dem wahren oder wirklichen Gang der Dinge in Waren auf unübersichtlichen Märkten. In diesem Prozess, das scheint der heute erkennbare Kern der Sache, verlieren eine wachsende Zahl von Personen quer durch alle Gesellschaftsgliederungen mit der Kontrolle ihrer Daten zugleich ihre Identität und ihr Urteilsvermögen. Das Kräftespiel der international agierenden Mächte greift in diesen Prozess ein.Im allgemeinen ist die Notwendigkeit, die Vielfalt und die Gleichungendes Austauschverkehrs nicht ernsthaft angezweifelt.Unser Organismus funktioniere ja selbst auch als Informationsverarbeitungssystem.

Amerikanische und englischeAusspähung deutscher Politikerstimmt den Juraprofessor Michael Ronellenfitsch relativ kalt. Als Datenschutzbeauftragter in Hessen stellt er am Beispiel des viel zitierten Handys unsrer Kanzlerin fest: „Das ist eine normale Geheimdiensttätigkeit. Ich hoffe, dass unsere das auch machen“. Der durchorganisierten Sphäre politischer Macht soll also erlaubt, ja geboten sein, was Staat und Wirtschaft gegen den Bürgernur minimal bis zu dem Punkt tun dürfen, wo dieser nicht die Herrschaft über seinen Willen und sein Eigentum verliert. Wir leben somit heute in einer prekären, gesteuerten Welt.

Die Ausspähung der Bürger ist bedenklich: „Es fehlt an Respekt vor der deutschen Bevölkerung“- und vor Wirtschaftsgeheimnissen.Zusammenspiel mit deutschen Geheimdiensten hat abseits der >Bevölkerung< tief in dasParteileben eingegriffen. In der 'Edathy-Affäre'flogen den Großkoalitionären die Brocken um die Ohren. Kinderpornografie war >Saubermännern< nach zweijähriger Bedenkzeit als geeignete Begründung für die Ausschaltung eines bekannten SPD-Politikers eingefallen (Seine Rolle als Vorsitzender des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages ist öffentlich nicht in Frage gestellt). Wer warf hier den ersten Stein?Unplanmäßiger Kollateralschaden hat auch die CSU getroffen. Der von ihr gestellte frühere Innenminister (aktuelle Landwirtschaftsminister) musste gehen, möchte aber gern wieder kommen.

Die Lücke, in der die Wahrheit geschickt versteckt werden kann, spricht Ronellenfitsch als jemand an, der sich die Sorgen des Bürgers zu eigen macht. Dessen Lebenswelt, so suggeriert er, ist durch einen Abgrund von der des Politikers getrennt, wo dann andere Normen gelten. „Die Videoüberwachung erfasst mittlerweile alle Lebensbereiche“ der Bürger. „Big Brother“ aus Orwells Roman sei allgegenwärtig und „begegnet uns immer öfter in der eigenen Nachbarschaft“ Es handele sich schließlich um eine „pathologische Neigung, den Nachbarn zu bespitzeln“. „Fremdbestimmte Steuerung des Verhaltens“ sei der wahre Vorgang, weshalbder Bürger vor maßloser Überwachung geschützt werden müsse.

Diese Behauptung lenkt von der vorherrschenden Großmannssucht in der politischen Klasse ab. Umfang und Intensität der staatlich organisierten Spionage im internationalen Beziehungsgeflecht soll 'normal' sein. Die massenhafte Ausspähung der Bürger durch Aneignung ihrer Datenidentitätsei sogenannten pathologischen Neigungen entsprungen. Gemeint ist, dass Bürger krankhafte Neigungen gegen ihre Mitmenschen entwickeln, während die politischen Akteure ihre Konflikte rational, 'normal' verhandeln können.

Wie verhält es sich mit dem dröhnenden Freiheitsgeschrei der USA? Ihr Wahn - System aus Spionage, Einmischung, gewaltsamen Interventionenhat weltweit Autorität eingebüßt.Wir sprechen hier über den 'normalen Vollzug' des Konkurrenzsystems, das die politischen Mächte aus Eigeninteresse bestrebt sind friedlich zu regulieren. Aber nicht grenzenlos, sondern nurbis zu dem Punkt, wo die Akteure gleichen Rechts durch einseitiges Nachgeben oder durch Gewalt eine Entscheidung herbeizuführen suchen. Niemand kennt den Punkt, diese Lücke, wo unser zerbrechlicher europäischer Frieden plötzlich durch schwankende Oligarchen der Gesellschaft bedroht ist.

Die >Ukraine-Krise< verkörpert dieses gefährliche Gemisch von Ungewissheiten, in dem Mächte als Getriebene herumrühren, ohne zu wissen, wer wann welchen Preis in welcher Münze zu zahlen hat. Hastig werden lange totgeschwiegene Imperialismustheorien ausgegraben. Die Supermacht USA lässt verkünden, für die kalte Annexion der Krim habe die >Regionalmacht< Russland einen >Preis< zu zahlen. EU, IWF und besonders Deutschland legen Milliarden-Köder für das schwache Kiew aus, das am seidenen Faden korrupter Oligarchen hängt. Am liebsten reiten sie auf sogenannten Wirtschaftssanktionen gegen Russland herum.

Diese Taktik eröffnet Spielräume für Schiebereien hinter den Kulissen. Eskalationshetzer wie die bedächtigen Deeskalierer haben ihre Chance. Aber die Ukraine zu stabilisieren, die Friedenssehnsucht der Bevölkerung zu befriedigen, da sind die Illuminationen lückenhaft.Der Maidan war nur ein Teilchen im blutigen Machtspiel, in das einzugreifen versucht, wer vermeintlich eigene Kohlen im Feuer hat. Das >Europäische Haus< wäre durch blutigen Bürgerkrieg zwischen Brüdern ernsthaft bedroht. Der Energieexport Russlands stellt die Freiheit der Oligarchen gegen die der Arbeiter. Und die Ukraine muss nicht verwüstet werden, wie es gegenwärtig andernortsgeschieht.

Das aktuelle Genfer Abkommen (17.04.2014) zwischen Russland, USA und Ukraine,EU will Deeskalation. Die vereinbarten Regulierungen sind nur eine Chance, die einzige. Und doch wäre es naiv, an eine unmittelbare Umsetzung zu glauben. Werden engstirniger Nationalismus, liberalistischer Rigorismus und Religionsunterschiede eingedämmt, sodass den über 46 Mio Bürgern dieses großen, reichen Landes das jugoslawische Schicksal und das so schwer erfüllte Genfer Versprechen auf staatliche Identität Vietnams erspart werden können? Die Verwüstungen Afghanistans, Iraks, Syriens, Somalias etc. sind warnende Beispiele für rücksichtslose Unterwerfung unter die Bootmäßigkeit von Hegemonialmächten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Ernst H. Stiebeling

Diplomsoziologe.Als Lehrer gearbeitet.Freier Publizist.Kultur-,Wissenschafts-,Politikthemen

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