Katharine Aigner: Spanien - Mandat für die Indignados

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Vor den Wahlen am 20. November kursierten in Spanien verschiedene Vorschläge für die beste Art der Stimmabgabe: Die einen schrieben „Wahlurne“ auf Gullydeckel, öffentliche Mülleimer und Toiletten, andere regten an, die Mittelsmänner zu umgehen und die Stimmzettel direkt in Geldautomaten zu stecken. Die Kampagne zum Boykott der Wahlen war kein subversiver Streich irgendwelcher Anarchisten, sondern spiegelte eine in der Bevölkerung weit verbreitete Frustration wider. Die Slogans der Indignados (die Empörten) – „Sie vertreten uns nicht“ und „Sie sind alle gleich“ – sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Die spanischen Vorläufer der Occupy-Bewegung bringen den Unterschied zwischen sich und den politischen Parteien auf die Formel: „Sie wollen Eure Stimme, wir wollen Eure Meinung.“ Die Bewegung, die im ganzen Land Hunderttausende mobilisieren kann, stellt die Legitimität der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie infrage, da sie die Meinung und die Interessen der Bürger nicht repräsentiere – ein Umstand, der sich durch die Euro-Krise verschärft und einen kritischen Punkt erreicht habe. In ihren Worten standen die Wahlen unter „der sicheren Aufsicht der Europäischen Zentralbank“.

Am Wahltag verbreiteten die Indignados via Twitter drei Möglichkeiten zum Wahlboykott: Man könne sich entweder gänzlich enthalten, ungültig wählen oder die Zweiparteienlogik überwinden, indem man für eine der kleinen Parteien stimmt. Anstatt einfach zuhause zu bleiben, drückten viele Menschen ihre Abneigung gegen die zur Wahl stehenden Alternativen lieber aktiv an den Wahlurnen aus, sodass die Anzahl der ungültig abgegebenen Stimmzettel sich gegenüber den vorangegangenen Wahlen im Jahr 2008 verdoppelte und sich die Zahl der Empörten, Nichtwähler und leer abgegebene Stimmzettel mit eingerechnet, schließlich auf 11 Millionen belief: Das sind mehr als die rechtskonservative Volkspartei Partido Popular gewählt haben, die unter den abgegebenen Stimmen die absolute Mehrheit erringen konnte.

Merkels Gedanken lesen

Die Wahlmüdigkeit spiegelt das raue ökonomische Klima im Land wider: Die Arbeitslosenquote liegt bei den unter 30-Jährigen bei 46 Prozent. Seit Beginn der Krise haben die Wähler erlebt, wie die sozialistische PSOE-Regierung ihre sozialpolitischen Pläne ad acta legte und sich dem strengen Sparkurs der Rechten anschloss. Wie im Falle anderer sozialdemokratischer Parteien wendeten sich viele Stammwähler verärgert ab. Die Wähler haben nicht so sehr der PP ein Mandat erteilt, vielmehr haben 4,5 Millionen von ihnen der PSOE ihr Vertrauen entzogen.

Unterdessen wurde die Behauptung der Indignados – dass die Demokratie von den Märkten ausgehöhlt wird – von den Märkten aufs Neue bestätigt, indem diese kurz vor den Wahlen die Zinsen für spanische Staatsanleihen auf ein 14-jähriges Rekordhoch trieben. Mit den Worten von Carlos Delclós, einem Indignado aus Barcelona: „Der künftige Premier Mariano Rajoy kann im Augenblick nur raten, was Merkel und der IWF wollen, bevor sie es ihm sagen, so dass die Entscheidung ein wenig mehr wie die seine aussieht und nicht nach dem aufgezwungenen Willen supranationaler Institutionen. Die Bewegung ist sich dessen bewusst und weiß, dass die Wahlen nichts ändern werden, außer vielleicht das Ausmaß an Repression, zu der die Regierung bereit ist.“

Leónidas Martín, Künstler und Professor an der Universität von Barcelona, teilt diese Einschätzung: „Die Ergebnisse zeugen davon, wie unzufrieden die Menschen mit der Demokratie sind.“ Er sieht hierin eine ernste Gefahr und ist über „das Modell technokratischer Regierungen besorgt, die in Italien und Griechenland eingesetzt wurden, denn die Märkte vereinnahmen die öffentliche Unzufriedenheit und machen sie ihren eigenen Interessen dienstbar. Sie sagen: Ihr habt etwas gegen Politiker. Ihr habt etwas gegen Demokratie. Sehr gut, wir verstehen euch und wollen euch helfen. Überlasst nur alles uns. Wir sind Experten.“

Eine neue Welle des Protests

Kurzfristig dürfte die Regierungsübernahme durch die Rechtskonservativen die Stimmung unter den Indignados wohl eher dämpfen. Gleichzeitig aber schafft sie die Voraussetzungen für eine neue Welle des Protests, die die Bewegung letztlich stärken wird. Im kommenden März wird für diejenigen, die durch die Krise ihren Arbeitsplatz verloren haben, die Arbeitslosenunterstützung auslaufen. Zusammen mit den strikten neuen Sparmaßnahmen und wütenden Gewerkschaften, denen bis vor kurzen durch ihre engen Verbindungen zur POSE noch die Hände gebunden waren, die jetzt aber wieder handlungsfähig geworden sind und kämpfen können, wird dies zu einer gewaltigen Welle direkter Aktionen führen.

Die Indignados denken langfristig. Von Galizien bis Andalusien, in Madrid und Barcelona besetzen sie Gebäude, die sich im Besitz von Bankkonsortien befinden. Hier halten sie nun ihre Vollversammlungen ab und finden Menschen Unterkunft, die zwangsgeräumt wurden, weil sie ihre Hypotheken nicht mehr bedienen konnten. „Apathie oder Zynismus sind keine Antworten auf die Krise“, sagt der Historiker und Aktivist Kike Tudela. „Uns stehen vier Jahre des Widerstands bevor, und die Frage ist: Wollen wir danach die Sozialisten zurück, damit sie ihre neoliberale Politik noch forcieren, oder wollen wir etwas Neues?“

Die Indignados diskutieren über Dinge, die weit über die Grenzen der Parteipolitik hinausgehen und auch keine bloßen Wahlrechtsreformen wie die Ergänzung des Wahlrechts durch Bürgerhaushalte, Referenden, die Möglichkeit der Wiederabberufung gewählter Repräsentanten und anderer Formen von den Bürger initiierter Politik darstellen.

„Wir müssen diese Debatte innerhalb der Bewegung führen, und vielleicht gelingt es uns, von unten eine neue politische Form zu entwickeln. Wir interessieren uns für Modelle, die in Lateinamerika praktiziert werden“, sagt Tudela und bezieht sich damit auf Regierungen, denen es gelang, den neoliberalen Angriff mit der Unterstützung und dem Druck sozialer Bewegungen abzuwehren.

Dass diese neue Form der Politik äußerst ambitioniert ist, spiegelt sich in einem weiteren Slogan der Indignados wider: „Wir gehen langsam, denn wir wollen weit kommen.“

Link zum Originalbeitrag im Guardian:

www.guardian.co.uk/commentisfree/2011/nov/21/spanish-election-mandate-indignados

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Holger Hutt

Redaktioneller Übersetzer

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden