anwesenheit

Wolfgang Hilbig Heute vor 71 Jahren wurde der Schriftsteller Wolfgang Hilbig geboren. Gestern lasen im Leipziger Literaturhaus vier Autoren für ihn - und ihn.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Sie seien einander in der „Turm-Bohème“ begegnet. Sagt Moderator Dieter Kalka, als er Thomas Böhme vorstellt, und sagt es auch über Jayne-Ann Igel. Sie sind mit Thomas Kunst und Clemens Meyer ins Leipziger Literaturhaus gekommen, um „Für Wolfgang Hilbig“ zu lesen. Am Vorabend seines Geburtstags. Gestern war das.

Heute wäre Hilbig 71 geworden. Am 2. Juni 2007 ist er in Berlin gestorben. Ist wieder abwesend seit dem und doch ja nicht. Soeben ist im S. Fischer Verlag Band 5 der Werkausgabe erschienen: der Roman „Ich“. Mit einem Nachwort von Clemens Meyer. Auf sieben Bände ist die Ausgabe angelegt, ein Werk geprägt von der Arbeitswelt, von Tagebauwunden, vom Schmerz des Verschwindens. "

Turm-Bohème. Das lässt an Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“denken, doch es muss anders gewesen sein - damals in der Rosa-Luxemburg-Straße 4 in Leipzig. Diese Begegnungen im Untergrund, nicht in der offiziellen DDR, haben geprägt, vielleicht sogar verändert.

Thomas Böhme, den Leipziger Lyriker, haben sie auch inspiriert. Er spiegelt Hilbigs Texte in eigenen. Im Gedicht „Wolfgang Hilbig ist tot“ schreibt er: „Die Finsternis hat ihre zärtlichste Stimme verloren“. Und: „Es sind die Abwesenden, die zurückbleiben.“

„Abwesenheit“ hieß Hilbigs erster Gedichtband, der 1979 bei S. Fischer herauskam. Da lebte der Dichter noch in der DDR, in der seine Worte nicht vorkamen, nicht öffentlich. Mit der Hand abgeschrieben wurden sie und weitergegeben.

abwesenheit

wie lang noch wird unsere abwesenheit geduldet
keiner bemerkt wie schwarz wir angefüllt sind
wie wir in uns selbst verkrochen sind
in unsere schwärze

nein wir werden nicht vermißt
wir haben stark zerbrochne hände steife nacken –
das ist der stolz der zerstörten und tote dinge
schaun auf uns zu tod gelangweilte dinge – es ist
eine zerstörung, wie sie nie gewesen ist
(…)

Die Abwesenheit von Texten Schreibender in einem Land, das die schreibenden Arbeiter wollte. Innenleben und Außenwelt kamen nicht zusammen. Auch für den Dichter nicht. Nicht in Meuselwitz, wo er geboren wurde, Leipzig und Berlin nicht und nicht in Hanau, Edenkoben oder Nürnberg. Im Leben nicht.

In der Sprache aber ist er zu Hause. Hilbigs poetische Intensität hat Lyrikerin Jayne-Ann Igel beeindruckt, als sie „die ersten Gedichte lesen durfte“. Sofort habe sie die Empfindung gehabt: „Hier ist Welt“. Sie erzählt vom „proletarisch verbrämten Kulturbegriff der alten Kader“ und jenen Treffpunkten, die „Klub der Intelligenz“ hießen.
(In Dresden beheimatet im Lingnerschloss, in Leipzig zwischen Waldstraßenviertel und Innenstadt. - Auch so ein Unterschied.)

Von „Donnerschlag“, „einem unglaublichen Buch“ und „Paukenschlag“ spricht der Schriftsteller Thomas Kunst, Hilbigs Veröffentlichungen „Stimme, Stimme“, „Die Weiber“ und „Das Provisorium“ meinend. „Auf Bahnhöfen hat er das Meer gerochen“, schreibt er selbst über ihn in einem Widmungsgedicht.

So suchen sie einen Vertrauten, einen Seelenverwandten, die an diesem Abend auf Einladung der Wolfgang-Hilbig-Gesellschaft e.V. lesen, im überfüllten Literaturcafé. Immer mehr Stühle müssen geholt werden.

„Sie fehlt mir, diese Begegnung, die Worte, die wir gewechselt hätten“, schreibt Clemens Meyer in seinem Nachwort, „oder auch das Schweigen, und so suche ich ich (um das Wort, diesen Titel, das gewaltige ICH nicht zu vermeiden) die Begegnungen, seine Splitter, seine Gruben, Höhlen und Steine, Findlinge in den Spuren.“

Als Hilbig 2002 den Büchner-Preis entgegennahm, dankte er mit den Worten:„Der Platz der Literatur ist der Monolog“. Dann entwickelt sich im Kopf des Lesers ebenfalls ein Monolog. „Auf diese Art funktioniert Literatur, und sie kann nur auf diese Art funktionieren.“
Doch braucht man dabei und damit ja nicht allein zu sein.

Quelle: Das Gedicht "abwesenheit" ist erschienen in:Wolfgang Hilbig: Gedichte. Werkausgabe Bd. I. . S. Fischer Verlag 2008; 537 Seiten, 22,90 Euro

Thomas Böhmes Gedicht "Wolfgang Hilbig ist tot": veröffentlicht 2007 in Nummer 47 der Literaturzeitschrift Ostragehege

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden