Nur jeder vierte Ukrainer kann sich vorstellen, weiter von Petro Poroschenko regiert zu werden. So muss das Ergebnis der Stichwahl um die Präsidentschaft wohl interpretiert werden. Eindeutiger kann einem Amtsinhaber, der schließlich im Wahlkampf von einem Amtsbonus zehrt, nicht das Misstrauen ausgesprochen werden. Wofür Poroschenko und seine Führung bisher standen, wird durch eine überwältigende Mehrheit verworfen, zumindest als gegen ihre Bedürfnissen und Interessen gerichtet empfunden. Und das gilt nicht allein für die vom bisherigen Präsidenten verkörperte Kontinuität eines oligarchischen Systems, dem der Maidan nicht viel anhaben konnte, womöglich auch nicht sollte. Wie sonst ist es zu erklären, dass die mutmaßlichen
hen Ziele des nationalistischen Aufstands von 2013/14 durch die Politik dieses Staatschefs derart umgewidmet, um nicht so zu sagen – konterkarikiert – werden konnten?Poroschenko verantwortete gleichsam eine erstarrte Feindseligkeit gegenüber Russland, die ihm als Legitimation diente, um zuweilen mit dem Kriegszustand im Rücken zu regieren und sich in Armeeuniform als Warlord zu präsentieren. Zugleich wurden unter diesem Präsidenten ein militanter Nationalismus und damit ein Geschichtsbild hofiert, das den aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges berüchtigten Nazikollaborateur Stepan Bandera zum Nationalhelden verklärte. Was selbst der ansonsten unerschütterlich russophoben PiS-Führung in Warschau zu weit ging und deren energischen Protest auslöste.Geschirr der HandlungszwängeNicht zu vergessen, dass fünf Jahre Poroschenko das Land nicht im Geringsten einer ökonomischen Stagnation entreißen konnten, stattdessen der Ausverkauf an westliche Kreditgeber vorangetrieben wurde. Die inzwischen erreichte Staatsverschuldung lag Ende 2018 bei gut 79 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Das heißt, es müssten etwa vier Fünftel der Wirtschaftsleistung eines Jahres aufgebracht werden, um sämtliche Verbindlichkeiten zu bedienen. Noch 2013 hatte die Ukraine eine Schuldenquote von 40,5 Prozent des BIP, die dann ein Jahr später – offenbar dem regime change und dessen finanziellem Flankenschutz geschuldet – auf den Wert 70,3 rasant stieg.Die außenpolitischen Spielräume des künftigen Präsidenten werden dort enden, wo die Gläubiger des Landes ihre Interessen anmelden, und die dürften nicht nur finanzieller Natur sein. Mit anderen Worten, was Wolodymyr Selensky auch immer in Sachen Treue zum Minsker Abkommen vom Februar 2015 vorschwebt und eine Entspannung in der Ostukraine bewirken soll – es wird nicht zuerst von ihm abhängen, was passiert und was nicht.Allein die Auslandsschulden der Ukraine betragen derzeit 60 Prozent der gesamten Staatsschuld und liegen mit 49 Milliarden US-Dollar um das 2,6-Fache über den Devisenreserven des Landes. Das schafft Handlungszwänge genauso wie das Freihandels- und Assoziierungsabkommen mit der EU und die bereits eingegangen Bindungen an die NATO, Ausbilder und Ausrüstung der Armee betreffend.Ziemlich kühnWas bedeutete der Ausgang dieses Präsidentenvotums für die deutsche Ukraine-Politik? Kanzlerin Merkel hielt es für geboten, Poroschenko kurz vor der Stichwahl noch einmal in Berlin zu empfangen. Wer nachsichtig urteilt, mag dies als Wahlhilfe einstufen. Zutreffender wäre es, von einer ziemlich kühnen Einmischung in einen heftigen, teils schwer polarisierten Wahlkampf zu sprechen, solange Bewerber Selensky vergeblich auf einen Termin wartete.Freilich passte Merkels Parteilichkeit vorzüglich ins Bild, denn an Poroschenko wurde festgehalten, was der auch immer tat oder unterließ. Auf ihn wurde in Berlin gesetzt, weil er in eine gegen Russland gerichtete Schlachtordnung des Westens, besonders der EU, passte. Mit seiner Unversöhnlichkeit enthob er Merkel der Notwendigkeit, aus den mentalen Schützengräben zu steigen, in denen sich die deutsche Russland-Politik seit geraumer Zeit verschanzt hat. Im Prinzip verstanden es die deutsche Kanzlerin und der ukrainische Präsident blendend, einander zu ergänzen. Letzterem wurde in Berlin absolute Nachsicht zuteil, wenn er seinen Verpflichtungen aus dem Minsker Abkommen, etwa einer klar umrissenen und in der Verfassung verankerten Autonomie für die Ostukraine, nicht einmal ansatzweise nachkam und so den Krieg in der Region bewusst verlängerte, das Leid der Zivilbevölkerung nicht überwinden half und die Zahl der Opfer auf beiden Seiten wachsen ließ.Kräftig nachgeholfenFür Merkel wiederum war der andauernde Konflikt, vor allem im Donbass, die erwünschte Vorlage, um die Regierung in Moskau, besonderes Präsident Putin, mit obsessiver Gereiztheit zu bedenken und anzugreifen. Sie fiel damit – gemessen an den Traditionen westdeutscher Ostpolitik aus den 1970er Jahren – ostentativ aus der Rolle, um in der Rolle verharren zu können, die sie in der Ukraine-Krise von Anfang an bezogen hatte. Deren Axiom lautet, wir haben bei einem regime change nachgeholfen, der den Westen und seine Bündnissysteme auch in diesem Teil der ehemaligen Sowjetunion etabliert und die Grenzen der Russischen Föderation touchiert. Die Tatsache, dass davon russische Sicherheitsinteressen tangiert werden, gibt Russland nicht das Recht, diesen Interessen durch sein Handeln gerecht zu werden.Ob Wolodymyr Selensky an dieser konfrontativen Apologetik etwas ändert, die – nebenbei gesagt – Poroschenko letztlich mehr geschadet als genutzt hat, ist eine offene Frage. Sie überlagert als Kardinalfrage seine Präsidentschaft von Anfang an.