Herakles

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Darüber, wie sich Prometeo, die "Hör-Tragödie", in Luigi Nonos kompositorische und politische Biografie einfügt, habe ich informiert. Heute will ich ein paar Hinweise zum Text geben, der dem Werk zugrunde liegt. Man kann nicht sagen "den das Werk vertont", denn der Text enthält lange Passagen, die nur in der Partitur stehen, aber nicht fürs Ohr gedacht sind. Man soll nur wissen, dass sie den gedanklichen Hintergrund bilden. Das aber lässt sich als Nonos Hinweis verstehen, dass nicht nur die unhörbaren Partitur-Textstücke zugrunde liegen, sondern letztlich auch, wovon sie ihrerseits nur herausgegriffene und pars pro toto zitierte Bruchstücke sind. Deshalb soll hier vom offenbar wichtigsten Hintergrund der "Hör-Tragödie" in toto die Rede sein. Das ist das Drama Der gefesselte Prometheus des Aischylos. Auf andere Texte, die Nono daneben noch zitiert, gehe ich am Ende kurz ein.

Vom Prometheus ist allgemein bekannt, dass Zeus ihn an den Felsen schmieden ließ zur Strafe dafür, dass er den Menschen das Feuer brachte, weiter dass ein Adler seine Leber aß, immer von Neuem, denn sie wuchs nach, damit die Folter kein Ende nehme. Er war aber nicht nur angeschmiedet, sondern durch die Füße war Eisen getrieben, so steht es im originären Drama. Wer denkt da nicht an Jesus von Nazareth? Diese Vergleichbarkeit ist gar nicht so erstaunlich. Denn was Aischylos uns vor Augen stellt, ist ganz offenbar eine Kreuzigung. Wir wissen ja, Jesus war nicht der Einzige, der gekreuzigt wurde. Viele wurden so bestraft, derart dass die Todesqual verlängert wurde, die Bestraften in den Nächten langsam erfroren, in der Sonnenglut der Tage langsam verdursteten. Zur Zeit des Aischylos, der 525 bis 456 vor Christus lebte, wurde längst gekreuzigt, diese Bestrafungsart hatte schon um 1000 ihre ersten großen Exzesse gehabt.

Es war im alten Griechenland nicht unüblich, das Kreuz oder den einfachen Pfahl ohne Querbalken, die abwechselnd zum Einsatz kamen, auf einem Berg anzubringen, und so geschah es dem Prometheus. Das Annageln wird zwar erst seit dem Makedonischen Großreich, also nach Aischylos, zur üblichen Zutat, doch wird es schon zu seiner Zeit häufig genug praktiziert worden sein. In Athen wurden vorwiegend Eigentumsdelikte mit der Kreuzigung bestraft, das war ja die Schuld des Prometheus: Er hatte Zeus, dem Gott des Donners und Blitzes, das Feuer geraubt, um es den Menschen zu geben. Eigentlich hatte er nur einen Funken genommen, der dem Zeusfeuer gar keinen Abbruch tat, aber Diebstahl war Diebstahl.

Aischylos hat also eine Situation benutzt, die jedem seiner Zuschauer vertraut war. In seinem Kontext wurde sie aber zum Bild, zur Metapher. Denn sein Gekreuzigter ist nicht irgendein Verbrecher, sondern der Mensch selber. Prometheus, in mythischer Sprache ein Titan, also ein Gott, der dem Zeus, einem anderen Gott, erst zur Macht verholfen hat, um dann von ihm diese Strafe zu erleiden, dieser Prometheus versammelt alle Elemente menschlicher Kultur in sich und i s t sie, auch wenn er sagt "ich lehrte die Menschen". Der Mensch hat sich all das selbst gelehrt, was Aischylos den Prometheus aufzählen lässt: Das Handwerk, angefangen mit der Schmiedekunst, also mit dem Feuer, aber auch die Heilkunst, die Astrologie und den Opferkult. Wenn der Dichter dem allen noch voranstellt, Prometheus habe den Menschen die Todesangst genommen und ihnen als "Heilkraut" die "blinde Hoffnung" gegeben - so in Ernst Buschors Übertragung -, dann sehen wir, es ist tatsächlich auch der Gott mitgemeint, der abgetrennte Gott, der im Menschen ist, wenn überhaupt irgendwo. Denn das Wort Gott bezeichnet eben die Hoffnung, vor der selbst der Tod seinen Stachel verliert. Wehe dem, der nicht hoffen kann, weder für sich noch für die, die nach ihm kommen.

"Die zweite Gabe war des Feuers Glut. Und lehrt sie viele neue Handwerkskunst." So Aischylos. Die erste war die Hoffnung gewesen. Wer diese Reihenfolge umkehrt, hat nichts verstanden. Denn die menschliche Hoffnung reicht über das, was Technik und gar ein technisches Zeitalter beibringen können, weit hinaus. Aber wenn der Mensch das lernte und sich selbst lehrte, warum bestraft er sich dafür? Weil er sich der Tauschlogik unterwarf. Die Tauschlogik setzt voraus, dass die Dinge schon da sind, die gerecht vertauscht werden können. Wenn man sie verändert, gerät die statische Tauschrelation aus den Fugen. Auf die Waage, die im Gleichgewicht war, ist einseitig etwas draufgesetzt, jetzt schwankt sie; wer A sagt, muss auch B sagen, die andere Waagschale mitbelasten, kurz: bestrafen. Wer die Verhältnisse ändert, sei's auch zum Guten und Unvermeidlichen, handelt sich die Strafe ein. Das ist "tragisch", das ist der Tausch.

Der Tausch ist das Geschäft des Mannes gewesen, der auf die Agora ging, den Markt. Von seiner Frau hatte der griechische Mann die Vorstellung, dass sie von der Begierde gequält war wie er vom Schuldgefühl. Um daher das Bild des Menschen vollständig zu machen, führt Aischylos auch Io ein, die von einer Stechmücke oder Bremse verfolgt wird, so dass sie durch unzählige Ödnisse flüchtet und immer weiter flüchten muss. Sie glaubt, Zeus sei der, der sie eigentlich verfolge. Sie trifft den gefesselten Prometheus, beide treffen sich in der Öde. Das, beide zusammen, ist der Mensch.

Aber der Mensch wagt zu prophezeien, zu hoffen, und so sagt denn Prometheus voraus, sie würden beide erlöst werden. Io wird am Ende tatsächlich von Zeus "berührt" und setzt dann ein Geschlecht in die Welt, aus dem, nach vielen furchtbaren Verhängnissen, der Held Herakles hervorgeht. Der wird den Adler töten, der Prometheus' Leber frisst, und diesen befreien. Er kann sogar Zeus selbst besiegen, da er auf Umwegen dessen Sohn ist, also von gleicher Art wie er, das ist wieder Tauschlogik. Prometheus will aber gar nicht, dass Zeus besiegt wird, vielmehr sich mit ihm versöhnen, und so gelingt es im weiteren Verlauf der Tragödien-Tetralogie, von der uns nur dieses erste Stück Der gefesselte Prometheus erhalten ist. Und die Versöhnung steht selbst wieder unter dem Tauschdiktat: Zum Ausgleich dafür, dass Prometheus befreit wird, muss ein Unsterblicher freiwillig den Tod auf sich nehmen.

*

Dieser Unsterbliche ist der Kentaur Chiron. Von Herakles versehentlich verwundet, litt dieses Wesen, halb Pferd, halb Mensch, an einer unheilbaren Wunde. Es war froh, sterben zu können. Dem Prometheus und der Io freilich, die auch an unheilbaren Wunden litten, war Besseres zugeteilt als die Erlösung durch den Tod. Sie waren ja nicht halb Tier, halb Mensch, sondern halb Gott, halb Mensch. Wobei die Sache im Einzelnen komplizierter ist, denn, wie gesagt, Chiron war unsterblich und Io hatte den Gott außer sich.

Ich erwähne das, um zur Nachwirkung der Tragödie des Aischylos überzuleiten. Dem Chiron begegnen wir wieder im zweiten Akt von Goethes Faust II, der "klassischen Walpurgisnacht". Nicht nur ihm, sondern auch anderen Wesen: den Phorkiden, den Greifen, dem Arimaspenheer. Die Phorkiden sind drei grauenvoll hässliche uralte Frauen, die zusammen nur ein Auge und einen Zahn haben. Das finden wir alles bei Aischylos und Goethe verwendet es. Über die Greifen und Arimaspen ein paar Zeilen unter den Phorkiden teilt uns der griechische Dichter nichts weiter mit, erst Goethe erzählt uns von ihrem Tätigkeitsfeld, dem Gold nämlich, dem Eigentum. Was bei Aischylos auf eine Seite zusammengedrängt ist, verteilt Goethe auf viele Seiten. Faust versetzt sich in die Antike zurück, er und seine Begleiter treffen dort gleich auf diese Wesen. Dann trennen sie sich, und während Mephisto die Phorkiden aufsucht - die Hässlichen und damit nach griechischer Logik die Bösen -, stößt Faust auf der Suche nach seinem Frauenideal auf Chiron. Der bringt ihn im Galopp seinem Ziel näher.

Was bedeutet dieser intertextuelle Bezug? Bei Aischylos begegnen die Phorkiden, Greifen und Arimaspen der Io auf ihrer Flucht vor der Stechmücke, während Chiron sich, wie gesagt, für Prometheus aufopfert. Goethe ordnet die ersten Wesen dem Mephisto, das letzte dem Faust zu. Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust. Jedenfalls rückt Goethe durch dies Manöver den Faust in die Nähe von Herakles. Herakles hat, bei Aischylos, Chiron verwundet, ihm das Selbstopfer vorgeschlagen und dadurch den Prometheus gerettet.

Vieles finden wir dann bei Wagner wieder, im Ring des Nibelungen. Siegfried ist letztlich der Sohn Wotans und kann ihn deshalb besiegen. Wotan hatte mit Erda das Geschlecht der Wälsungen gezeugt, darunter Siegfrieds Mutter Sieglinde. Diese wird auf der Flucht wahnsinnig wie bei Aischylos Io. Io und die Erdmutter sind bei Aischylos praktisch eine Person. Wagners Siegfried ist also Herakles. Einer jedoch, der niemanden befreit, da er der Hinterlist des Gibichungengeschlechts, das sind die Kapitalisten und Junker, nicht gewachsen ist. Sein Kampf gegen Wotan war einer gegen das Tauschprinzip gewesen, denn "Was du bist, bist du nur durch Verträge" wird Wotan charakterisiert.

Wenn Nono sich in diese Tradition stellt, stellt er einen - vermittelten, fast gar nicht erkennbaren - Bezug zu Herakles, dem Retter, zur selben Zeit her wie Peter Weiss in seinem Roman Die Ästhetik des Widerstands. Dessen letzter Band erscheint 1981, Nonos Prometeo datiert von 1984. In dem Roman von Weiss ist Herakles das Hauptsymbol und dem Wagnerschen Siegfried nicht unähnlich. Er will das Gute tun, wird aber von den Herren übers Ohr gehauen. Im Glauben nämlich, eine auswärtige feindliche Armee zu besiegen, hält er in Wahrheit das einheimische Proletariat nieder (Fries des Pergamonaltars). Dieses Bild setzt Weiss ein, um die Rolle der Kommunisten zu bestimmen, die unter Stalins Herrschaft gegen Hitler kämpfen. Dass man dennoch weitermachen muss und auch kann, ist die Hoffnung, die Weiss noch bleibt. Eine größere kann es nicht geben, und sie ist auch groß genug. Herakles hat sich auf die falsche Seite gestellt. Das muss nicht so bleiben. Er hört ja nicht auf, Herakles zu sein. Er war auch Herakles, als er falsch handelte.

Nonos Prometeo nimmt hauptsächlich auf Aischylos Bezug, daneben aber auch auf die anderen griechischen Tragödiendichter; auf Hölderlin, dessen "von Klippe zu Klippe" Geworfenen er zitiert - der war uns schon bei Brahms begegnet -, und auf Walter Benjamin; Massimo Cacciari, der alles zusammenstellte, hat auch selbst einen Teil beigesteuert. Von Benjamin beziehen Cacciari und Nono die Hoffnung, dass "eine schwache messianische Kraft" wirke, die darin liegen soll, dass sie "das Gebrochene zusammenzusetzen" weiß. Diese Hoffnung wird die "Wüste" besiegen: "Du allein erträgst [...] Und bist in der Wüste des Meeres / Unbesiegbar". "Höre / In der Wüste / Lobe die Erde // Die schwache Kraft / Ist uns gegeben // Aber sie genügt / Um eine Epoche herauszusprengen / Aus dem Lauf der Geschichte".

Es ist, wie gesagt, eine "Tragödie des Hörens". Wir lesen auch: "Wisse: / Obgleich sehend / Sahen sie nicht / Obgleich hörend / Hörten sie nicht // Die vergänglichen / Menschen". Das lesen wir so schon bei Aischylos und übrigens auch bei Jesaja und dann im Neuen Testament. Weil die Menschen nicht hören, spricht Jesus in Gleichnissen. Wer Ohren hat zu hören, der höre! Die Musik, die zu hören sein wird, kann ich nicht beschreiben, denn ich habe sie selbst noch nicht im Konzertsaal gehört. Eine CD nützt in diesem Fall wenig, erstens weil die Musik meistens sehr leise ist und zweitens wegen der räumlichen Aufstellung der Musiker, deren Effekt von zwei Lautsprechern einer HiFi-Anlage nicht vermittelt werden kann. "Vier Orchestergruppen", so das Programmheft, "verteilen sich auf die äußeren Positionen des Saals, fünf Gesangs- und mehrere Instrumentalsolisten sowie Sprecher und Chor sitzen und stehen auf verschiedenen, einander gegenüberliegenden Koordinaten." Der Prometeo wird am morgigen Freitag und am Samstag gegeben, jeweils um 20 Uhr im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden