Resonanzen, die den Geist öffnen

Maerzmusik 2017 Der zweite Abend mit Catherine Christer Hennix, diesmal eine Uraufführung

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Der erste Catherine Christer Hennix gewidmete Abend hatte ein vierzig Jahre altes Stück von ihr ans Licht gezogen, das man „klassisch“ nennen könnte, wenn es damals sehr bekannt geworden wäre. Ich habe darüber berichtet. Jetzt am Mittwoch gab es eine Uraufführung von ihr, im selben Raum, der Kuppelhalle des silent green-Kulturquartiers in Berlin-Wedding, wo man auch wieder auf die Leinwand mit dem arabischen Buchstaben Nun schaute, der diesmal allerdings mit einem anderen Bild wechselte, wovon noch die Rede sein wird. Das Stück heißt Raag Surah Shruti für Tamburium und Ensemble (2017). Shruti, so lese ich in Wikipedia, „bezeichnet im Hinduismus die Schriften, die die zeitlose Offenbarung berichten und daher unbedingt verbindlich sind“; der Rag oder Raga „stellt die melodische Grundstruktur der klassischen indischen Musik dar“. Hennix hat über (die) Shruti auch mathematisch-technisch geschrieben, ein Ausschnitt ihrer Notes on the Hilbert Space Shruti Box steht in den Contents, einer Zusammenstellung von Din A 4-Blättern der MaerzMusik.

Inwiefern an dem, was zu hören war, etwas klassisch Indisches gewesen sein könnte, weiß ich nicht. Mein Höreindruck war dominiert von einer Art strahlendem Dur-Akkord, obwohl das nur ein Moment im etwa dreieinhalbstündigen Ablauf gewesen ist. Ich habe auch nicht dreieinhalb Stunden lang zugehört, sondern bin nach zwei Stunden gegangen. Für den Eindruck des Strahlens sind natürlich die Instrumente verantwortlich: neben dem von Hennix selbst getrommelten Tamburium die Trompete, das Flügelhorn, die mikrotonale Tuba (die erst 2009 von Robin Hayward, der sie am Mittwoch auch blies, zur vollen Reife entwickelt worden ist), die Posaune und das Waldhorn. Die Veranstaltung begann wie Hennix I, und übrigens auch wie der Abend mit La Monte Young vor ein paar Jahren, mit einem stetigen elektronischen Tonbündel, einem tiefen diesmal, das immer schon da war, wenn man den Saal betrat, und zunächst keine große Aufmerksamkeit hervorrief; die Leute unterhielten sich weiter, während sie sich auf Teppiche in der Saalmitte legten. Irgendwann verstummten sie dann von selbst, denn aus den Lautsprechern kamen Männerstimmen, die eine simple Litanei sangen, von der Tonika einen Ganzton rückwärts und wieder nach vorn, dann die Dominante und so in der Art. Danach traten die Bläser in Aktion.

Es hat sich natürlich ununterbrochen in der Musik – dem einen Klang dieser dreieinhalb Stunden, wie ich sagen würde: einem einzigen „Strukturklang“ in Lachenmanns Terminologie - etwas verschoben, wenn auch anders als im Stück von 1976. Im Electric Harpsichord hatte es von krass unterscheidbaren Mikroklängen gewimmelt, jetzt gibt es nur noch die großen sich überlagernden Linien. Ich sagte, sie sind mir überwiegend wie ein strahlender Dur-Akkord erschienen, aber es war auch mal eine große Sekunde zu hören, es gab Eintrübungen, die Lautstärke wechselte, einmal spielte die Trompete etwas, das nachgerade der Ansatz zu einer Melodie war, auch wechselten wieder Passagen, wo man beim Grundton geblieben zu sein glaubte, mit solchen, wo dieselben Linien für die Dominante zu sprechen schienen, und an einer Stelle schob sich das elektronische Tonbündel in der Vordergrund, kurz, es passierte viel. Und dabei hat sich mir die Mikrotonalität der Tuba nicht einmal erschlossen. Aber wie auch immer, diese Musik teilte DAS EINE mit und war die Aufforderung, sich dahinein meditativ zu versenken. Eine Musik, die dreieinhalb Stunden lang nur einen Ton in die Länge zöge, wäre ja auch kaum denkbar, nein sie musste schon variiert sein, sonst würde man sie als dieses Gehäuse, in dem man sich auf dem Fußboden wohnlich einrichtet, denn doch nicht hingenommen haben (wie man auch Cages 4:33 nicht stundenlang „anhören“ würde); so aber ließ man sich DAS EINE im doppelten Wortsinn gefallen.

Ich höre, dass Hennix ganz am Ende ein eindrückliches Klavierspiel begann, aber womöglich vom Publikum gestoppt wurde, das ihre Gesten missdeutend den Endapplaus zu klatschen begann - wollte sie am Ende noch eine Wende herbeiführen? Man wird es erst bei einer Wiederaufführung erfahren.

Ja, mir hat der Klang gefallen, auch wenn ich ihn mir nur bedingt gefallen lasse. Will sagen, für die Erwartungen derer, die die Programmvorschau geschrieben haben, bin ich verloren: „Indem die Ab- und Anwesenheit“, lese ich da, „von Frequenzen in einem bestimmten Raum kontrolliert werden, stimmen sich die Sinne auf spezifische Resonanzen ein, die den Geist für ein alternatives Bewusstsein seiner eigenen Präsenz öffnen, welches seiner Selbstwahrnehmung sonst nicht zugänglich ist.“ Hennix, geht es weiter, entwickle „einen Wellenraum, der [...] auch die kognitiven Verknüpfungen der Zuhörer integrieren“ will. Also nee, so leicht ist es nicht, mich zu „kontrollieren“ und zu „integrieren“ (wobei ich diese Sprache natürlich nicht Hennix vorwerfe, sie hat das nicht geschrieben). Doch fand ich den Klang als Farbkomposition interessant in dem Sinn, wie die musikalische Farbe in der Zweiten Wiener Schule diskutiert wurde. Das kleine Stück „Farben“ von Arnold Schönberg (das mittlere der Fünf Orchesterstücke op. 16) wurde hier schon erwähnt. Sein Charakter ist ganz anders, ihm mangelt, um es mit einem Wort zu sagen, gänzlich die Selbstsicherheit. Es ist leise und tastet im Ungewissen. Wenn man hingegen Hennix hört, kann man wirklich auf die Idee kommen, sie wolle halten, was das Wort Shruti verspricht, also uns vom „unbedingt Verbindlichen“ in Kenntnis setzen.

In der Programmvorschau heißt es dann noch, ihre „berauschenden Klänge[.] der reinen Stimmung“ seien „von jenen mystischen Traditionen des Islam inspiriert [...], die die Welt des Unsichtbaren und den ersten Moment vor der Schöpfung erkunden“. Das will ich gern glauben. Ich weiß wenig davon, so viel aber doch, dass „die Lehren des Sufismus [...] die Einheit alles Seins [betonten] und [...] ein Konzept des Menschen als perfektem Abbild Gottes [vertraten], das durch Versenkung in Mystik, durch ekstatische Tänze, Gesänge, Trommelmusik und Meditationen zu erreichen sei“ – in einem Handbuch zu lesen. Interessant war, was während der Aufführung der Raag Surah Shruti mit dem arabischen Buchstaben Nun auf jener den Kuppelsaal beherrschenden Leinwand geschah. Er verwandelte sich unablässig in das Symbolbild einer elektrischen Schaltung und von da wieder zurück. War dies das „alternative Bewusstsein“, in das ich „integriert“ werden sollte? Deus sive AI? Hoffentlich nicht.

Es war ein interessanter Abend, doch im Kontext des Sonntags davor, als ich Everything is Important von Jennifer Walshe erlebte, hat er mir ziemlich zu denken gegeben. Was ich jetzt schreibe, handelt weder von Walshe noch von Hennix, die man in anderen Kontexten ganz anders wahrnehmen würde. Walshe ist ja auch beim Ultraschall-Festival vor ein paar Wochen aufgetreten und das war ein ganz anderer Kontext (es gab dazu übrigens ein interessantes Gespräch, in dem sie erzählt, wie sie „auf der Bühne ein Mosaik aus verschiedenen Stimmtypen“ entwirft, „mit denen all die multiplen Informationsströme abgebildet werden, mit denen wir uns tagtäglich umgeben“, und überhaupt viel von ihrer Arbeitsweise mitteilt; um zum Gespräch zu gelangen, muss man auf der angegebenen Seite auf „J. W. im Gespräch mit Leonie Reineke“ klicken). Aber wenn es da schon, nicht anders als jetzt, um den „ganze[n] Irrsinn informationeller Überflutung“ ging, stand er nicht als Gegenpol zu DEM EINEN da, in das man sich stattdessen versenken könne. Entweder die Überflutung oder DAS EINE? Warum habe ich das Gefühl, dass es diese Alternative ist, die mir die MaerzMusik aufzudrängen versucht? Weil in ihrer Darbietung des musikalisch Aktuellen diejenigen Kompositionen fast völlig fehlen, die nicht davon ablassen, einen diskursiven und hörbar rationalen Ablauf zu haben. Die gibt es nämlich auch immer noch. Morgen Nachmittag in einer Veranstaltung für Streichquartettmusik wird etwas davon vorkommen, so die Uraufführung des 2. Streichquartetts (2017) von Jörg Mainka. Ich werde dabei sein.

Auch Hennix kann man noch einmal hören, in „The Long Now“, einer mehr als 30stündigen Veranstaltung, die am Samstag Abend um „18:29 Uhr“ beginnt und bis Sonntag 24 Uhr dauert. Hennix steht im Programm mit der Angabe „For Brass and Computer für Trompete, Horn, Posaune, mikrotonale Tuba und Computer“.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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