Bor und Meerwasser über "aufgegebenen" Reaktoren

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Was bedeutet es, wenn Reaktoren „aufgegeben“ werden? (Stand, 13.03.2011, 12:00)

Borwasser und das Meer

Mittlerweile weitet sich die Krise in den Kernreaktoren der Tsunami-Region aus. Nicht nur Fukushima 1, Block 1 hat keine normale Kühlung mehr, sondern auch ein weiterer Block (Nr.3) in dieser Anlage, der zudem mit Uran und Plutonium als Spaltmaterial betrieben wird. - Hier wäre eine Explosion mit Austrag von Plutonium besonders gefährlich.

Bei weiteren Reaktorblöcken funktioniert nur noch die Notkühlung (batterie- oder generatorgetrieben) und es droht auch dort, erstens, die Entstehung von radioaktiv angereichertem Wasserdampf im Überdruck und die Bildung von hochexplosiblem, radioaktiv kontaminiertem, Wasserstoffgas (Knallgas). - Letzteres ist besonders gefährlich, weil eine Knallgasreaktion zumindest zu einer Zerstörung der äußeren Reaktorhülle, wie bei dem ersten Block in Fukushima 1 führen würde. -, zweitens, eine Kernschmelze, weil nur bei erhaltenen Kühlleitungsdurchführungen aus und in den Reaktorkern von der umgebenden Reaktorhalle die Steuerung der Kettenreaktion funktioniert und diese bei einer Explosion abgerissen oder beschädigt werden können. - Die Kühlleitungen müssen übrigens in beide Richtungen funktionieren! Es reicht nicht, einfach nur Meerwasser in den Reaktor zu pumpen!

Offenbar hat, direkt im Anschluss an das Beben, zumindest die mechanische Einführung der Moderatorstäbe, also die Abschaltung der zusätzlichen, gesteuerten nuklearen Kettenreaktion zur Energiegewinnung, noch funktioniert. Das ist ein Glück, denn so kam es nicht zum Maximalunfall, zur Explosion eines Reaktorkerns. Allerdings konnte die Kühlung der Restwärme produzierenden radioaktiven Brennstäbe nicht sichergestellt werden!

Im ersten Block des Kraftwerks Fukushima 1 hat man sich, nach einer Wasserstoffexplosion außerhalb des eigentlichen Reaktorbehälters, nun zu einer letzten Notmaßnahme entschieden, nämlich Meereswasser mit „Borwasser“ (Borsäure/Borsalz) vermischt einzuleiten um den Reaktor abzukühlen und die Wärmeproduktion der ungesteuert im im Kerngehäuse verbliebenen Spaltmaterialmasse zu senken.

Bor kommt im wesentlichen in zwei stabilen Isotopen vor. Bor-11, 80% und Bor-10, 20%. Als Moderator und Schutzsubstanz in kerntechnischen Anlagen verwendet man Bor-10, das vorher in einem längerfristigen Anreicherungsprozess gewonnen wurde.

Nur dieses Bor-10 ist als effektiver Neutronenfänger geeignet und muss an den Reaktoren gelagert werden, um es im Ernstfall einsetzen zu können. Die Menge des zur Verfügung stehenden Materials ist also auch ein limitierender Faktor, denn das notwendige reine Bor-10 ist schwer herzustellen, zumal auch Bor-Gemische in der Natur selten sind und das Material nicht konzentriert irgendwo abgebaut werden kann. - Wahrscheinlich waren die Lieferungen der USA in den letzten Tagen eine Vorsorge, die Menge an verfügbarem Bor-10 zu erhöhen.

Warum?

Der Reaktor Fukushima 1, Block 1 selbst, ist als energietechnische Anlage, als funktionierendes Kraftwerk, zerstört. Nichts dort läuft noch nach Plan oder gewollt geregelt! Ist es in dem eigentlichen Reaktorcontainment schon zur Kern(teil)schmelze gekommen, weil die nicht ausreichend gekühlten und (teilweise) freistehenden Brennstäbe sich weiter aufheizen, dann kann das Material auch nicht mehr einfach in Transportbehälter zu einer Zwischenlagerung oder späteren Endlagerung gebracht werden. Der Reaktorstandort selbst, wird nun das zukünftige, unfreiwillige Endlager einer großen Masse radioaktiven Materials!

Unbedingt verhindern will man offensichtlich nur noch, dass es zu einer unkontrollierten, gar explosiven Verbreitung der radioaktiven Materials kommen kann. In der Zukunft wird man die Unglücksstelle „versiegeln“ müssen, so wie es mit dem Meiler in Tschernobyl bereits geschah, denn weg transportieren kann man eine Schmelze oder Teilschmelze kaum. Das wird ein Projekt, fast auf „Ewigkeit“ angelegt, denn die gewählten Hüllmaterialien müssen der materialzerstörenden Radioaktivität und der enormen, nuklearen Prozesswärme über lange Zeiten trotzen, bzw. über einen langen Zeitraum muss der „aufgegebene“ Katastrophen-Reaktor immer wieder saniert und neu dicht gehalten werden.

Bor als Moderatorsubstanz

Borwasser wirkt als Moderatorsubstanz, weil es Neutronen, die Antreiber der weiteren Kettenreaktion, abfängt. Das Element Bor wirkt dabei deshalb so gut als „Moderator“ (Neutronenfänger) weil es durch seines atomaren Kernaufbaus auch Neutronen einfängt oder abbremst, die nicht direkt auf seinen Kern zufliegen.

Das heißt, das Bor-Atom funktioniert wie ein Eishockey-Torwart, der seine Fangfläche durch übergroße Handschuhe und Beinschützer vergrößert und diese dem schnellen Puck entgegen streckt, der ohne die Flächenpolster entweder vorbei, ins Tor sauste, oder aber so wenig beim Aufprall gedämpft wird, dass er unkontrolliert abprallt, Schmerzen (das wäre einer Art Zerstörung analog) verursacht und auf keinen Fall gefangen werden kann.

(Zur Erinnerung: Ein Atom konzentiert seine Hauptmasse aus Protonen und Neutronen in einem sehr dichten und kleinen Kern, während seine Elektronen wie eine große Wolke um den Kern kreisen. Das gesamte Atom aus Kern und Hülle ist ca. 1800 mal größer im Durchmesser, als der Kerndurchmesser.)

Borwasser funktioniert vor allem gut, um thermale, „langsame“ Neutronen abzufangen, die vor allem weitere Kernspaltungen auslösen. Das sind also diejenigen Neutronen, die beim immer weiter laufenden radioaktiven Zerfall des Brennstabmaterials austreten. Sie fliegen ca. 40-50 cm weit, bevor sie nun entweder ihre Energie an die Schutz- und Steuereinrichtungen abgeben und diese dadurch weiter schwächen (!), zerstören, oder aber von Moderatorsubstanzen im Reaktor gefangen werden. Diese fast unendliche Neutronenproduktion ist auch für die Zukunft das Hauptproblem, weil sie, zusammen mit der dabei frei werdenden, enormen Prozesswärme, fast jedes Material auf Dauer ermüdet und schwächt.

Mit diesem Moderator Bor-10 der vorsichtig und vor allem immer als eine homogene Salzlösung mit dem Meerwasser gemischt werden muss, kann zumindest ein Teil der Kettenreaktion verhindert werden, so, dass sich die zusammenstehenden, vielleicht schon teilweise zusammengeschmolzenen, dann auf den Boden der Schutzbehälters abgesunkenen, nuklearen Brennstäbe (die Brennstabmasse am Boden des Containments) so weit erhitzen, dass das Material zunehmend in Gasform übergeht, sich ein Druck aufbaut und dann das Containment sprengen.

Grüße

Christoph Leusch

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