Der Wendepunkt

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Die Bundeskanzlerin erlebt gerade einen Wendepunkt in ihrer Kanzlerschaft. Gestützt durch eine breite Mehrheit in den Umfragen und der Folgenlosigkeit einschneidender Regierungsentscheidungen traut sie sich nun höhere Risiken einzugehen. Ihre Macht erscheint durch das Krisenmanagement in Europa auf unbestimmte Zeit gesichert.

"We have become a grandmother"

Als Maggie Thatcher 1989 zur Geburt ihres Enkelsohns den majestätischen Plural verwendete, um zu verkünden, sie sei Großmutter geworden, brachte ihr das in der Bevölkerung einiges an Kritik ein, da sie sich im zehnten Jahr ihrer Regentschaft als Premierministerin von Großbritannien dadurch mit der Queen auf eine Stufe begab.

Je länger eine Regentschaft dauert, so scheint es, desto mehr verweben Macht und Amt mit der Person, die das Amt innehat. Die französische Revolution und die anschließende Demokratisierung Europas hatte an diesem auch in der Gegenwart zu beobachtenden Prozess kaum einen Einfluss. Maggie Thatcher, 1990 mit großer Anstrengung durch Parteigeschacher um den Vorsitz der Tories aus dem Amt gedrängt, sah am Ende ihrer Amtszeit das Vereinigte Königreich in wesentlich besserer Verfassung als bei ihrem Einzug in die Downing Street Number 10. Sie verließ als vom Thron gestoßene Regentin den Regierungssitz.

"I have become the European leader"

Dieses Zitat wird Angela Merkel wohl niemals abgeben. Die von der Bundeskanzlerin in den Jahren seit 2005 angelegte Machtarchitektonik ihrer Kanzlerschaft beruhte bisher auf einen präsidiablen Stil, einer abwägenden Grundhaltung und der berühmte Politik der kleinen Schritte, die sie in ihrer ersten Regierungserklärung als Kanzlerin in der großen Koalition auch offiziell zu ihrer Richtschnur im Regierungshandeln erhoben hat.

Auch wenn solch offen überhöhte Zitate dem Naturell der Kanzlerin nicht entsprechen, so zeichnet sich doch seit einiger Zeit ein Paradigmenwechsel in Auftreten und Regierungshandeln von Frau Merkel ab. Da sie de facto "the European leader" geworden ist und in aller Welt und Europa als unangefochten gilt, gibt dies ihr einen neuen Handlungsspielraum, der die Politik der kleinen Schritte aus heutiger Sicht als zu klein und eng für diese aufstrebende Kanzlerin erscheinen lässt.

Atemberaubende Wenden - ohne Folgen

Ob die Energiewende, die mannigfachen Wendungen in der Griechenlandkrise oder die Neupositionierungen in der Handhabung der Schuldenkrise aller europäischen Staaten, nichts ficht die Glaubwürdigkeit der Kanzlerin an.

2007 noch galt sie als die Klimakanzlerin, das verlieh ihr auf sozial-ökologischen Seite der Gesellschaft Respekt und Sympathie. Schon nicht mal drei Jahre später verlängerte sie 2010 im "Herbst der Entscheidungen" die Laufzeit für einige Kernkraftwerke in Deutschland, um der siechen schwarz-gelben Koalition einen Hauch von Handlungsfähigkeit zu verleihen.

Als sie erkennen musste, dass dieses Vorhaben, das man als ersten Ausbruchversuch von der Politik der kleinen Schritte und dem präsidiablen Stil einordnen kann, zum Scheitern verurteilt war, nahm sie die Fügung des Schicksals im März 2011 durch den Super-GAU in Fukushima dankend auf und revidierte gründlich und endgültig diesen gescheiterten Ausbruchversuch. Sie ging gar über den status quo ante hinaus, indem sie eine umfassende Abkehr von der Kernenergie verkündete.

Die Umsetzung der Energiewende versinkt dieser Tage im Klein-Klein um den Ausbau der Netze und der teilweisen sehr komplexen Neuschaffung an Infrastruktur. Die Kanzlerin sitzt derweil auf Krisengipfeln der Europäischen Union, um Europa vor dem Abgrund zu retten.

Das Erstaunliche und ja Faszinierende ist die Unbeschadetheit der Bundeskanzlerin nach all ihren zum Teil diametral entgegengesetzen Wenden.

Die gewonnene Aura als Europa-Retterin ist die geglückte Transformation

Allerdings konnte sie bisher dem Käfig der Politik der kleinen Schritte, des Hin- und Hertaktierens nicht entrinnen. Dies ändert sich gerade, der Respekt und die Furcht der anderen, die ihr aus allen Teilen Europas und der Welt entgegengebracht werden, der Rückhalt bei der deutschen Wählerschaft und nicht zuletzt die Schwäche der Opposition im Inland ergeben zusammen die günstige Konstellation endlich die ständige Furcht vor dem Machtverlust durch risikobehaftete Regierungsentscheidungen abzustreifen.

In der Causa Wulff beispielsweise kann sie nun mühelos ihre Solidarität bekunden ohne fürchten zu müssen, dass das ramponierte Image des Bundespräsidenten auf sie abfärbt. Bereits bei Herrn zu Guttenberg und ihrer damaligen haarsträubenden Solidaritätsbekundung, sie habe keinen wissenschaftlichen Mitarbeiter berufen, konnte sie studieren, dass nach dem Rücktritt des Freiherrn, an ihr nichts wirklich hängenblieb.

So wäre ein baldiger Rücktritt Wulffs zwar eine kleine Turbulenz in der Regierungsarbeit, aber angesichts der viel drängenderen, existenziellen Herausforderung Europa eine zu handhabende sogar Prestige einbringende Angelegenheit. Etwa wenn sie durch die Größe mit den Sozialdemokraten und den Grünen auf Kandidatenfindung zu gehen, zeigt, dass dies ihrem Machterhalt nichts mehr anhaben kann. Die zurzeit große Wertschätzung Merkels für Herrn Wulff wird dann keiner mehr Beachtung schenken. Sie wird ins Archiv der Widersprüche und Wenden abgelegt werden.

Merkel wird sich in den kommenden Monaten mehr Mut zum Risiko leisten und aus ihrem Schatten treten. In der Krise schwimmt sie allmählich im ruhigen Fahrwasser.

Eine von Idealen getragene Richtschnur im Regierungshandeln Merkels ist nicht mehr zu erwarten

Was bleibt nun von der zu glückenden Transformation zur "Super-Kanzlerin". Die ständigen Wenden des Machterhalts wegen legten schon von Anfang an offen, dass die Kanzlerin eine von Idealen getragene Richtschnur in ihrem Regierungshandeln niemals besessen hat. Das neoliberale Gebaren Angela Merkels auf dem Leipziger Programmparteitag 2003 und der damit bestrittende Wahlkampf 2005 mit der Fastniederlage löschte rasch die Vorstellung von der Wiederkehr einer deutschen Maggie Thatcher aus.

Praktisch mit Amtsantritt 2005 stand Frau Merkel vor der Aufgabe dieses freigesetzte Vakuum mit flexiblen Variablen zu füllen.

Bei allem Respekt vor der Leistung der Kanzlerin im siebten Jahr ihrer Kanzlerschaft eine derartige Machtstellung innezuhaben, wird die Ära Merkel, wann immer sie enden möge, von der Abwesenheit von Idealen und inneren Übezeugungen geprägt sein.

Auf dem Schreibtisch der Kanzlerin ziert ein Portrait von Katharina II. den Raum. Sie ließ 1762 ihren Mann Peter III. in einem Staatsreich als Zar absetzen, umbringen und sich zur Alleinherrscherin Russlands erklären.

Ihre Amtszeit währte 34 Jahre.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Daniel Martienssen

Enttarnung durch Analyse: ein privates Blog zu Demokratie und Rechtsstaat, Soziales und ein bisschen Kultur.

Daniel Martienssen

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