In völlig verschiedenen Welten: Politiker, ihre Wähler und die Werte

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Dass die Politiker und die Wähler ein und derselben Partei unterschiedlich ticken, gehört zu den Standards jeder skeptischen Betrachtung des parlamentarischen Status quo. In der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte finden sich nun einige Zahlen dazu – die nicht zuletzt für die Mandatsträger und Sympathisanten der Linken aufschlussreich sind. Grundlage ist eine schon etwas ältere Studie des Kölner Instituts YouGov. „Die herausragende Erkenntnis“, schreiben Ulrich von Alemann, Joachim Klewes und Christina Rauh mit Blick auf die YouGov-Zahlen, „scheint uns zu sein, dass Bürger und Politiker in völlig unterschiedlichen Wertewelten leben.“ Auffällig sei, „dass die Volksvertreter weniger die klassischen, alltäglichen Tugenden präferieren als ihre jeweiligen Wähler, wenn sie nach ihren ,fünf wichtigsten Werten‘ gefragt werden“. Werte wie Treue, Pünktlichkeit, Freundschaft und Loyalität werden von den Wählern in den Vordergrund gestellt – während diese von Politikern „deutlich weniger stark präferiert werden“. Abgeordnete aller Parteien würden stattdessen eher „politisch-ideologisch besetzte Begriffe wie Toleranz oder Gerechtigkeit“ betonen, und zwar „viel stärker, als es dem Bedeutungsempfinden ihrer Wähler entspricht“.

Beim Wert „Toleranz“ zeigten sich die deutlichsten Unterschiede bei den Politiker und Wählern der Linken. „85 Prozent der linken Abgeordneten stufen Toleranz als bedeutsamen Wert ein, während es unter den Wählern nur knapp die Hälfte, 45 Prozent, sind.“ Als Erklärung schlagen die Autoren vor, dass es sich „hier um ein Phänomen der politischen Klasse handelt: Parteipolitiker präferieren in ihrer Rolle konventionelle Werte, von denen sie glauben, dass sie in der öffentlichen Wertschätzung hoch angesehen werden. Bürger und Wähler dagegen präferieren eher Alltagswerte, die das unmittelbare menschliche Zusammenleben prägen und bestimmen.“ Umgekehrt ist es beim Wert „Familie“: Während unter den Linken-Politiker nur gut 22 Prozent diesen Wert zu den fünf wichtigsten zählen, sind es unter den Anhängern der Partei deutlich über 45 Prozent. Auffällig – und auch für die Debatte um den so genannten Markenkern der Linkspartei interessant – sind die Zahlen für den Wert „Gerechtigkeit“: „Während 96 Prozent der Linken-Parlamentarier Gerechtigkeit zu den fünf wichtigsten Werten zählen, folgen dem nur 61 Prozent ihrer Wähler.“ Differenzen zwischen den Wertevorstellungen von Politiker und Wählern gibt es natürlich auch bei anderen Parteien – bei der Linken sind diese aber unter dem Strich und im Schnitt am größten.

„Ist diese Wertedifferenz ein Grund für die vielbeschworene Politik- und Politikerverdrossenheit der Bürger?“, fragen die Autoren – und schlagen drei Interpretationen vor. Erstens könnten die Zahlen zeigen, dass Politiker und Bürger „offensichtlich in unterschiedlichen Bezugssystemen. Mit dem Einstieg in den Politikerberuf entfernt sich die Lebenswirklichkeit vieler Abgeordneter gegenüber den Bürgern so stark, dass sie, jeder für sich, unterschiedliche Wertehierarchien reklamieren“. Zweitens könnte ein Grund „in der Heterogenisierung der modernen Gesellschaft zu suchen“ sein. „Werden die jeweiligen Parteiwählerschaften heterogener, so vergrößern sich die Wertedifferenzen auch gegenüber den sie vertretenden Parlamentariern.“ Drittens, so von Alemann, Klewes und Rauh, sei folgendes denkbar: „Parlamentarier artikulieren sich zu Werten deutlicher unter dem Aspekt der (vermuteten bzw. in den jeweiligen politischen Milieus erwarteten) sozialen Erwünschtheit.“

auch erschienen auf lafontaines-linke.de

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Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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