Die Fälscher sind unter uns

Afghanistan Die afghanischen Wahlen vom 20. August haben die paschtunische Widerstandsbewegung gestärkt, auch wenn das von der NATO bis hin zu Angela Merkel bestritten wird

"Gebt uns Tünche, dann sind wir erbötig. Alles so zu machen, daß es noch mal geht", heißt es in Bertolt Brechts Lied von der Tünche. Aber "geht es noch" in Afghanistan, wenn der US-Generalstabschef, Admiral Mike Mullen, davon spricht, dass die Lage außer Kontrolle gerät? Er habe schon in der Vergangenheit des öfteren wiederholt, dass sich die Taliban in ihrer Taktik verbessert hätten und militärisch stärker geworden seien. Dieses Urteil erklärt, weshalb die Wirklichkeit in Afghanistan in den vergangenen Tagen über Gebühr mit Tünche verkleistert wird.

Noch immer will die westliche Beschwichtigungspolitik nicht davon lassen, von einem historischen Siegeszug der Demokratie zu sprechen, zu dem es am 20. August in Afghanistan gekommen sein soll. Doch nach dem Wahltag ist all solchen Phantasien der Boden entzogen. Die Wahrheit sieht so aus: Genau genommen haben diese Wahlen nicht stattgefunden. Bei einer Beteiligung von 40 bis 50 Prozent kann sich unter den gegebenen Umständen kein Präsident legitimiert fühlen. Schon gar nicht einer, der wie Hamid Karsai im Geruch der Manipulation und Korruption steht und ein Mündel der Besatzer bleiben wird. Letzteres gilt auch dann, sollte nach einer Stichwahl (wenn es denn je dazu kommt) dieser Präsident nicht mehr Karsai, sondern Abdullah Abdullah heißen.

300.000 Mann

Von den Vereinten Nationen, über die US-Regierung und die NATO bis hin zu den deutschen Kanzlerbewerbern, die immerhin über das Schicksal von Bundeswehrsoldaten entscheiden wollen, lügt man sich seit Tagen an den Realitäten vorbei. Kanzlerin Merkel hat allen Ernstes die Stirn, von der Hoffnung auf eine "selbst tragende Sicherheit" in Afghanistan zu reden, um die forschen Prophezeiungen ihres Verteidigungsministers ("noch zehn Jahre Präsenz oder mehr") aus dem Wahlkampf zu pflücken.

300.000 Sicherheitskräfte sollen am 20. August im Einsatz gewesen sein, um das Votum abzusichern. Da das ISAF-Kontingent derzeit etwa 61.000 Mann rekrutiert, die afghanische Nationalarmee offiziell nicht mehr als 33.000 einsatzbereite Soldaten aufweist (bis Ende 2010 soll nach kühner Prognose mit einer Stärke von 80.000 Mann mehr "selbst tragende Sicherheit" erreicht sein) und der afghanischen Polizei (ANP) 50.000 bis 70.000 Angehörige zugeordnet werden, muss der gesamte Sicherheitsapparat bis zum letzten Mann mobilisiert gewesen sein. Wenn das zutrifft, wirkt eine Wahlbeteiligung von unter 50 Prozent erst recht blamabel. Sie ist mehr als nur als Indiz dafür, wie sehr der Widerstand gegen die Besatzung an Einfluss gewinnt. Es könnte sein, dass viele Afghanen nicht aus Angst vor den Taliban, wie allenthalben kolportiert wird, der Wahlurne fern blieben, sondern aus Protest gegen die Besatzung, die Fremdbestimmung ihres Landes, die Degradierung zum Protektorat der USA und der NATO.

"Nicht kopflos"

Wie auch immer Hamid Karsai und sein Rivale Abdullah Abdullah die Wahl zu ihren Gunsten beeinflusst und manipuliert haben mögen – Wahlfälscher gibt es nicht nur in Kabul, sondern ebenso in New York, Brüssel, Berlin und überall dort, wo so getan wird, als habe in Afghanistan am 20. August eine Abstimmung stattgefunden, mit der sich acht Jahre Besatzung rechtfertigen lassen. Wer immer dieses Votum als Fortschritt klassifiziert, täuscht sich und die Öffentlichkeit seines Landes über die Realitäten hinweg. Viel mehr hat sich bewahrheitet, was Kritiker der US-Strategie schon unmittelbar nach dem 11. September 2001 gesagt haben, mit militärischen Mitteln, lässt sich der Kampf gegen den Terrorismus nicht gewinnen. Schon gar nicht am Hindukusch.

Deutschland sei in diesen Einsatz "nicht kopflos" hinein geraten, teilte SPD-Kanzlerkandidat Steinmeier gerade in einem seiner gehäuften Interviews mit. Er hat Recht, was im Dezember 2001 passierte, war wohl durchdacht. Der damalige SPD-Kanzler Schröder erpresste seine rot-grüne Koalition, indem er am 22. Dezember 2001 die Entscheidung für ein militärisches Engagement in Afghanistan mit der Vertrauensfrage verschweißte. Nein zu sagen, konnte bedeuten, die Regierung zu stürzen. Ein Kanzlerdiktat aus Gründen der Staatsräson. Wenn die Demokratie beim Wort genommen werden will, wird sie schnell wortbrüchig, jedenfalls die bundesdeutsche. Daran freilich hat Steinmeier nicht erinnern wollen, es soll ja "nicht kopflos" zugehen. Und deshalb ist nicht nur beim Thema Afghanistan viel "frische Tünche nötig! Wenn der Saustall einfällt, ist‘s zu spät!" (Brecht)

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden