Wahlrecht für "alle" - Vom Objekt deutscher Politik zum Subjekt der Gesellschaft Teil 2

Wahlrecht für alle; Essay Nicht nur die konkreten politischen Forderungen zur Ausweitung des Wahlrechts auf nicht-deutsche Staatsangehörige, auch die grundlegende Haltung einiger Parteien veränderte sich über die Jahrzehnte.

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Parlamentarische Debatten um das sog. „Ausländerwahlrecht“ wurden in der BRD in den 1980er Jahren v.a. in Bundesländern vorangetrieben, die sozialdemokratisch regiert waren, wie Bremen, Hamburg (1987-1991 als Koalition mit FPD) und West-Berlin (SPD-regiert ab 1989). Darüber hinaus brachten das Bündnis 90/ Die Grünen entsprechende Gesetzesinitiativen in Hessen, Rheinland-Pfalz und Bayern, sowie auf Bundesebene ein. Der SSW tat selbiges in Schleswig-Holstein. Auch nach dem ernüchternden Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf die 1989 verabschiedeten Gesetze in Hamburg und Schleswig-Holstein, zeigten sich Grüne und SPD bis Ende der 1990er Jahre weiterhin engagiert. Jedoch gingen der SPD die Forderungen der Grünen zuweit, sodass in den zwei Jahrzehnten keine gemeinsame Position entstand, sondern es immer wieder an gegenseitiger Unterstützung der jeweiligen Initiativen mangelte.

Die Forderungen der befürwortenden Parteien unterschieden sich damals wie heute hinsichtlich der zu erfüllenden Voraussetzungen zur Gewährung des Wahlrechts. Die Aufenthaltsdauer betreffend lag deren Spannweite zwischen 3 bis 8 Jahren. Die FDP positionierte sich damals mit 5 Jahren zwischen den Polen der Forderungen von Grünen und SPD. In Bezug auf den Geltungsbereich wurde von den o.g. Parteien überwiegend das kommunale Wahlrecht avisiert. Ausnahmen bildeten zum einen die Grünen, die eine Wahlberechtigung auf allen Verwaltungsebenen ab 3 Jahren Aufenthaltsdauer in Deutschland anstrebten und damit die weitreichendste Forderung stellten, zum anderen die Fraktionen in den Stadtstaaten Hamburg, Bremen und West-Berlin. Gründe für die teilweise Beschränkung auf die kommunale oder Landesebene waren in der Regel nicht inhaltlicher, sondern strategischer Natur, da man die Wahrscheinlichkeit, dass es auf schwarz-gelb-regierter Bundesebene eine Zweidrittelmehrheit zur laut Bundesverfassungsgericht notwendigen Grundgesetzänderung geben könnte, für nicht hoch genug hielt und hoffte diese so zunächst umgehen zu können.

Als Kompromissvorschlag wurde von einigen Parteien (z.B. SSW in Schleswig-Holstein) das Wahlrecht auf Gegenseitigkeit als erster Schritt gefordert. Im nördlichsten Bundesland strebte die Opposition an, das Wahlrecht zumindest auf die rechtlich anerkannte dänische Minderheit anzuwenden, da die in Dänemark lebende deutsche Minderheit dort bereits seit 1981 das aktive und passive Wahlrecht ausüben durfte. [1] Unabhängig von ihrem jahrzehntelangen Einsatz diesbezüglich erhielten die Angehörigen der dänischen Minorität dieses schließlich im Zuge der Ausweitung des Kommunalwahlrechts auf EU-Bürger:innen Anfang der 1990er Jahre - im Gegensatz zu Nicht-EU-Bürger:innen.
Ab Mitte der 1990er Jahre ging die Anzahl der Gesetzesinitiativen drastisch zurück, in der ersten Hälfe des ersten Jahrzehnts der 2000er Jahre gab es nur noch einen einzigen Vorstoß der Grünen in Mecklenburg-Vorpommern. [2]

Seit Aufkommen der ersten Initiativen zur Wahlrechtsreform und bis heute lehnt das konservative bis rechtsextreme Spektrum dem Selbstbild nach die Ausweitung des Wahlrechts grundsätzlich und vehement ab. [3] Die CDU nutzte Ende der 1980 den Rechtsweg um das Inkrafttreten der neuen Landesgesetze zu stoppen und beruft sich in seiner Position nach wie vor auf den Teil der Rechtssprechung, der die Verfassungswidrigkeit des Vorhabens betonte, während sie die Ergänzung, dass eine entsprechende Grundgesetzänderung vertretbar sei, stets weglässt. [4]

Während SPD, Grüne und Linke seit 2006 wieder Versuche unternehmen das Thema auf die Tagesordnung und zu einem aus ihrer Sicht positiven Ende zu bringen, hat die FDP von allen Parteien die interessanteste Wendung genommen. In früheren Koalitionen mit der SPD auf Landesebene und noch bis 2013 im Bundestagswahlprogramm sprach sie sich für das Kommunalwahlrecht für Nicht-EU-Bürger:innen ab einer Aufenthaltsdauer von 5 Jahren aus. Im Zuge der um 2015 zunehmenden Immigration korrigierte sie ihren Kurs jedoch und spricht sich seitdem im Einklang mit der CDU vorrangig für einen Zugang über die Einbürgerung aus.

Aktuelle Positionen der Parteien Landesebene

Die Berliner SPD-Fraktion einigte sich in ihrer Koalitionsvereinbarung mit Grünen und Linke 2021 auf den Einsatz für ein Wahlrecht für Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit ab 5 Jahren Aufenthaltsdauer auf Landes- und Bezirksebene.

Die Bundesinnenministerin und SPD-Spitzenkandidatin der hessischen Landtagswahl vom 8. Oktober 2023 Nancy Faser erhob während des Wahlkampfs zunächst öffentlich die in der Geschichte radikalste Forderung: ein Kommunalwahlrecht für Nicht-EU-Bürger:innen, die seit mindestens 6 Monaten in Deutschland leben. Die Partei ruderte daraufhin zurück und stellte die Forderung als „redaktionellen Fehler“ im Wahlprogramm dar. Das Kommunalwahlrecht solle laut SPD-Beschluss nur für „Nicht-EU-Ausländer mit einem unbefristeten Aufenthaltstitel“ und erst nach 6 Jahren Aufenthalt in Deutschland gelten. [5]

Die CDU regiert Hessen seit 2023 in einer Koalition mit der SPD. Im gemeinsamen Koalitionsvertrag heißt es nur noch schwammig man wolle „das Kommunalwahlrecht, (sic!) evaluieren und zeitgemäß ausgestalten“. Auch die aktuellen Programm(entwürf)e für die Landtagswahlen 2024 in Sachsen und Thüringen konkretisieren die Forderung nach dem Wahlrecht für Nicht-EU-Bürger:innen in Bezug auf die Aufenthaltsdauer nicht mehr. Erwähnenswert scheint, dass die SPD Thüringen ein Wahlrecht für EU-Bürger:innen auf Landes- und Bundesebene fordert, wodurch auch bei Durchsetzung des Kommunalwahlrechts „für alle“ wieder eine Ungleichbehandlung innerhalb der Gruppe der nicht-deutschen Staatsangehörigen entstünde.

Dr. Deniz Anan beschreibt ein zyklisches Muster in Bezug auf den Verlauf der Positionen der Grünen zur Ausweitung des Wahlrechts. Nach einer zwischenzeitlichen Mäßigung erhebe die Partei nun wieder radikalere Forderungen [6], so forderten sie 2014 in einem Gesetzentwurf auf Bundesebene eine Gleichstellung mit EU-Bürger:innen beim Kommunalwahlrecht (Wahlberechtigung nach 6 Monaten Aufenthaltsdauer), sowie aktuell zudem in Hessen ein Wahlrecht für EU-Bürger:innen auf Landesebene (Regierungsprogramm 2024-2029) und in Thüringen ein Wahlrecht ab 14 Jahren (Landtagswahlprogramm 2024). In den Regierungsprogramm für Hessen (2023) und Thüringen (2024) setzen sich die Grünen für das Wahlrecht für Nicht-EU-Staatler:innen ohne konkrete Angabe zur Aufenthaltsdauer ein, in jedem zur Landtagswahl Brandenburg 2024 findet es hingegen keine Erwähnung. Auch bei den Grünen scheinen sich die Landesverbände nicht einig zu sein.

Die Linke forderte in ihrem Wahlprogramm zur Hessischen Landtagswahl ein Wahlrecht für Nicht-EU-Bürger:innen ab 16 Jahren und verband die Forderung so mit der Absenkung des Wahlalters, da in Hessen das Wahlrecht auf Landesebene ab 16 Jahren im Gegensatz zu anderen Bundesländern noch nicht verabschiedet wurde. [7]

Die Wahlprogramme zu den Landtagswahlen 2024 von CDU und FDP nehmen keinen Bezug auf das Wahlrecht für Nicht-EU-Bürger:innen und die Programme der SPD und der Linken für die Landtagswahl Brandenburg 2024 lagen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels noch nicht vor.

Aktuelle Positionen der Parteien Bundesebene

Während sich in den Wahlprogrammen der GRÜNEN, SPD, FDP und den Freien Wählern zur Bundestagswahl 2021 immerhin Bekenntnisse zum Wahlrecht ab 16 Jahren für Bundestags- und/ oder Europawahlen fanden, forderte nur die LINKE das „Wahlrecht für langfristig hier lebende Migrant*innen“, wobei möglicherweise auch hier bewusst im Unklaren gelassen wurde, ab welcher Aufenthaltsdauer dies gelten sollte. Schließlich ist die Bandbreite der vorausgesetzten Aufenthaltsdauer bei den Staaten, in denen dies bereits eingeführt wurde, sehr groß und eine vage Formulierung hätte mehr Verhandlungsspielraum im Falle von Koalitionsbildungen mit anderen Parteien ermöglicht.

Im Koalitionsvertrag der Ampel wurden die Absichten bekundet, die Ausübung des Wahlrechts für im Ausland lebende Deutsche zu erleichtern sowie das aktive Wahlalter für die Wahlen zum Europäischen Parlament und zum Deutschen Bundestag auf 16 Jahre abzusenken. Das Wahlrecht für nicht-deutsche Staatsangehörige bleibt in diesem unerwähnt.

Welche Positionen die Parteien auf Bundesebene zum Wahlrecht für nicht-deutsche Staatsangehörige einnehmen werden, bleibt abzuwarten. Die oben dargestellten Inkonsistenzen zwischen den Forderungen der unterschiedlichen Landtagsfraktion einzelner Parteien lassen jedoch vermuten, dass eine Einigung innerhalb der Bundestagsfraktionen spannend werden dürfte.

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Bis zu den Kommunalwahlen am 9. Juni 2024 veröffentlicht die Autorin jede Woche Freitag einen weiteren Teil des Essays, der sich ausführlich mit folgenden Fragen befasst:

  • Wie wurde die Forderung nach einem Wahlrecht für nicht-deutsche Staatsangehörige in der Vergangenheit in Deutschland politisch verhandelt? Welche Fort- und Rückschritte gab es? Wie stehen die Parteien Bündnis 90/Die Grünen, CDU, Die Linke, FDP und SPD aktuell dazu? Wie lauten die konkreten Forderungen der verschiedenen Akteur:innen? Welche Modelle werden angestrebt?

  • Welche Aktionsformen wurden und werden von der Zivigesellschaft eingesetzt um eine Debatte über das Wahlrecht für alle anzuregen?

  • Welche Argumente werden für und wider das „Wahlrecht für alle“ angeführt?
  • Welche Effekte sind durch das „Wahlrecht für alle“ zu erwarten?

  • Wie ist die Debatte in Deutschland vor dem Hintergrund der Gesetzgebung in anderen Ländern europa- und weltweit einzuordnen?

  • Welche Möglichkeiten haben nicht-deutsche Staatsangehörige in Deutschland bisher sich auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene politisch zu engagieren?

Quellen

[1] APuZ/ Pehle, Heinrich (1988). Das schwedische Modell. Erfahrungen mit dem kommunalen Wahlrecht für Ausländer

[2] Pedroza, Luicy (2022). Staatsbürgerschaft neu definiert. Wie die Ausweitung des Wahlrechts auf Einwanderer weltweit debattiert wird. Springer VS: Wiesbaden.

[3] Laschet, Armin/ CDU-Fraktion Nordrhein-Westfalen (14.03.2017). Rot-grüne Pläne schaden der Integration, verstoßen gegen das Grundgesetz und sind politisch verantwortungslos

https://www.cdu-nrw-fraktion.de/artikel/rot-gruene-plaene-schaden-der-integration-verstossen-gegen-das-grundgesetz-und-sind

[4] Bundeszentrale für politische Bildung/ Pedroza, Luicy (2022). Die anhaltenden Debatten über das Ausländerwahlrecht in Deutschland

https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/514333/die-anhaltenden-debatten-ueber-das-auslaenderwahlrecht-in-deutschland/

[5] Hessenschau (19.9.2023). Monate mit Jahren verwechselt SPD bedauert Fehler bei Forderung zu Ausländerwahlrecht

https://www.hessenschau.de/politik/monate-mit-jahren-verwechselt-spd-bedauert-fehler-bei-forderung-zu-auslaenderwahlrecht-v1,fehler-wahlprogramm-spd-100.html

[6] Anan, Deniz (2021). Das neue Grundsatzprogramm der Grünen – eine ideologische und zeithistorische Einordnung

https://www.petrakellystiftung.de/sites/default/files/2021-11/Dr.%20Deniz%20Anan%20-%20Das%20neue%20Grundsatzprogramm%20der%20Gr%C3%BCnen%20%E2%80%93%20eine%20ideologische%20und%20zeithistorische%20Einordnung.pdf

[7] Landtagswahlrecht - Übersicht über die Wahlsysteme bei Landtagswahlen

https://www.wahlrecht.de/landtage/

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