Stütze statt Arbeit?

Bürgergeld Die BILD setzt ihre eigenwillige Berichterstattung über das Bürgergeld mit einer Geschichte über einen Mann, der lieber "Stütze kassieren" als arbeiten will, fort. Auch hier lohnt ein näherer Blick auf den rechtlichen Rahmen.

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"Bürgergeld-Irrsinn ++ Chef klagt an. Mein Mitarbeiter kündigt, weil er lieber Stütze kassiert" titelt die BILD-Zeitung heute und setzt damit ihre gelinde gesagt irreführende Berichterstattung über vermeintliche systematische Fehlsteuerungen im bundesdeutschen Grundsicherungssystem fort. Im Artikel kommt der Chef der Spedition Kottmeyer, Horst Kottmeyer zu Wort und beklagt sich darüber, dass einer seiner Mitarbeiter ihm "wortlos die Kündigung" überreicht habe, aber seinen Kollegen gesagt habe, er wolle "Stütze kassieren, nebenbei schwarz dazu verdienen" und damit „300 Euro netto mehr verdienen, wenn er nicht mehr offiziell arbeitet und von staatlicher Unterstützung lebt“. Der ehemalige Mitarbeiter habe bei ihm den "Einstiegslohn" von 14 Euro pro Stunde verdient. Der empörte Chef der mittelständischen Spedition sieht laut BILD das Problem beim Bürgergeld. Das solle, so Kottmeyer, ja im kommenden Jahr deutlich steigen, und dann rolle womöglich eine Welle von Kündigungen auf ihn zu. Beim Bürgergeld werde das Geld "mit der Gießkanne verteilt". Aber Deutschland sei schließlich eine Leistungsgesellschaft. Da gehe es nicht, "dass die einen sich ausruhen und die anderen dafür bezahlen.“

Schauen wir uns den Fall einmal genauer an. Zunächst haben wir es hier mit einem Arbeitnehmer zu tun, der bislang 14 Euro brutto pro Stunde verdient hat. Gehen wir von einem Vollzeitjob mit etwa 170 Stunden pro Monat aus, liegt bzw. lag der Bruttolohn bei etwa 2.400 Euro im Monat. Wenn es sich um einen Alleinlebenden ohne Kinder handelte, wären das netto etwa 1.680 Euro pro Monat. Wenn der Arbeitnehmer sozialversicherungspflichtig ist/war und damit auch arbeitslosenversichert, könnte vor dem Bürgergeld zunächst der Bezug von Arbeitslosengeld I stehen, 60 Prozent des letzten Nettoeinkommens, also in diesem Fall etwa 1.010 Euro. Kündigt ein sozialversicherter Arbeitnehmer seinen Arbeitsplatz selbst, droht ihm allerdings gemäß § 159 SGB III eine Sperrfrist von 3 Monaten für die Zahlung von Arbeitslosengeld I. Der BILD-Artikel legt freilich nahe, dass ein sofortiger Bezug des Bürgergelds folgt, weil möglicherweise die Zugangsvoraussetzungen für das Arbeitslosengeld I nicht erfüllt sind. Wie sähe es dann aus? Der Regelsatz des Bürgergelds liegt aktuell bei 502 Euro pro Monat. Bad Oeynhausen, wo die Firmenzentrale der Spedition Kottmeyer liegt (die Kündigung wurde dem Chef ja selbst überreicht), ist Teil des Kreises Minden-Lübbecke in Nordrhein-Westfalen. Die durchschnittlich übernommenen Mietkosten für eine Ein-Personen-Bedarfsgemeinschaft lagen dort im April 2023 bei 387,01 Euro. (Quelle: Statistikportal der Bundesagentur für Arbeit). Der durchschnittliche Grundbedarf für einen Bürgergeld-Bezug in der Region dürfte also in der Größenordnung von 900 Euro liegen, also 700 Euro unter dem derzeitigen Nettolohn des betreffenden Arbeitnehmers. Um zusammen mit dem Bürgergeld 300 Euro netto mehr als bisher zur Verfügung zu haben, müsste er also rund 1.000 Euro Einkommen generieren. Davor stünde allerdings noch der notwendige Beantragungsprozess für das Bürgergeld. Gemäß § 31 Abs. 2, Nr. 4 des SGB II liegt auch dann eine Pflichtverletzung vor, wenn der/die Antragstellerin die Arbeitsstelle selbst gekündigt hat. Im Bürgergeld-Bezug würde dem betreffenden Arbeitnehmer eine Minderung des Regelsatzes drohen. Das würde es nicht leichter machen, 300 Euro netto mehr als jetzt und über 1.000 Euro mehr als im reinen Bürgergeld-Bezug zur Verfügung zu haben. Mit den aktuellen Zuverdienstregeln im SGB II ließe sich dies jedenfalls nicht bewerkstelligen. Bei einem Bruttoverdienst von 1.200 Euro blieben nach den aktuellen Regelungen maximal 348 Euro anrechnungsfrei, hinzu kämen einige nötige Aufwendungen, aber insgesamt nicht annäherungsweise dieser Betrag. Ein solches Nettoeinkommen ließe sich parallel zum Bürgergeld nicht legal erzielen, sondern nur durch sog. "Schwarzarbeit", die durch das einschlägige Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz verfolgt und mit hohen Bußgeldern bedroht wird. Da der beschriebene Fall unter Nennung des Firmennamens in der BILD-Zeitung veröffentlicht wurde, dürften also sowohl die Arbeitsagentur Bad Oeynhausen, das Jobcenter Minden-Lübbecke als auch möglicherweise die Zollverwaltung ausreichend Hinweise haben, um den Vorgang zu verfolgen. Ist der beschriebene Fall ein Beispiel für die systematische Missbrauchsanfälligkeit des Bürgergelds oder der Arbeitslosenversicherung? Mit Sicherheit nicht.

Vergessen hat die BILD-Redaktion offenbar freilich eine Hintergrund-Recherche zu ihrem Zitate-Geber. Man braucht dazu nur eine Suchmaschine und findet schnell heraus, dass hier nicht nur der Chef einer mittelständischen Firma redet, sondern auch der Vorsitzende des Landesverbands TransportLogistik und Entsorgung im Verband der Verkehrswirtschaft und Logistik Nordrhein-Westfalen e.V., der sich selbst als "führende(r) Unternehmer- und Arbeitgeberverband für Transport, Logistik, Spedition, Möbelspedition und Entsorgung in NRW" präsentiert. Hier spricht also ein Verbandsvertreter, was zweifellos legitim ist, aber es zu wissen, wäre zur Einordnung der politischen Aussagen für die Leser/innen möglicherweise nicht unwichtig. Und nun warten wir auf die nächste Geschichte der BILD über das Bürgergeld.

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Geschrieben von

Alexander Fischer

Alexander Fischer. Mensch. Historiker. Vater.

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