Stütze statt Arbeit für 3,9 Millionen Menschen?

Bürgergeld Was sich hinter einer BILD-Schlagzeile über 3,9 erwerbsfähige Leistungsberechtigte verbirgt. Spoiler: Nein, in Deutschland leben nicht 3,9 Millionen Menschen von "Stütze", obwohl sie "arbeiten könnten".

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Mit einer reißerischen Schlagzeile macht die BILD dieser Tage auf: "So viele Menschen könnten arbeiten, kriegen aber Stütze". Berichtet wird über "neue Zahlen" der Bundesagentur für Arbeit, die für April 2023 rund 3,9 Millionen "erwerbsfähige Leistungsberechtigte". Für die BILD: Menschen, die "arbeiten könnten", aber "Stütze kriegen". Moment mal? Hat nicht die Bundesagentur für Arbeit noch vor wenigen Tagen noch eine Gesamtzahl von knapp 2,7 Millionen Arbeitslosen gemeldet? Wie passt das zusammen? Das tut es, man muss nur dafür einen differenzierten Blick auf die Zahlen werfen. Das hat zwar auch die BILD-Redaktion getan, aber eben auf eine, nun ja, eigene Weise. Denn differenziert werden die Zahlen hier nach der Nationalität der Leistungsberechtigten im Bürgergeld präsentiert. Und weil unter den 3,9 Millionen Leistungsberechtigten rund 1,8 Millionen Ausländer*innen sind, kommt auch noch ein junger CDU-Politiker zu Wort, der mitteilt, die deutschen Sozialleistungen seien ein "Pull-Faktor" für Flüchtlinge und sollten jedenfalls für abgelehnte Asylbewerber*innen schrittweise abgebaut werden. Das Politisieren mit statistischen Daten ist eine auf allen Seiten des politischen Spektrums gern ausgeübte Disziplin. Aber sie sollten wenigstens richtig gelesen und interpretiert werden. Kriegen wirklich 3,9 Millionen Menschen Bürgergeld, obwohl sie arbeiten könnten? Die Antwort lauet (Überraschung): nein.

Zum einen könnte auch die BILD-Redaktion im Statistik-Portal der Arbeitsagentur vollständig recherchieren und würde dann heraus finden, dass die aktuellsten veröffentlichten Zahlen nicht aus dem April sondern aus dem Mai 2023 stammen, so weit reicht jedenfalls die Datenreihe des jüngsten veröffentlichten Berichts zu Strukturen der Grundsicherung SGB II. Die Zahlen haben sich zwischen April und Mai freilich nur geringfügig verändert, ein detaillierter Blick auf die Zahlen lohnt dennoch. Von den (Stand Mai 2023) 3.938.782 "erwerbsfähigen Leistungsberechtigten" waren nämlich lediglich 42 Prozent, bzw. 1.664.831 Menschen tatsächlich arbeitslos. 58 Prozent der "erwerbsfähigen Leistungsberechtigten" (2.273.951 Menschen) waren sog. "nicht arbeitslose erwerbsfähige Leistungsberechtigte". Welche Lebenssituationen verbergen sich hinter dieser zweiten Zahl? Zum Beispiel: 440.478 Menschen in ungeförderter Erwerbstätigkeit, also Menschen, die zwar einer Erwerbstätigkeit nachgehen, aber nicht ausreichend verdienen, um ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Zum Beispiel: 412.796 Menschen in Schule, Studium oder ungeförderter Ausbildung, also meist junge Menschen, die einen Berufsabschluss erwerben, aber in dieser Zeit nicht ausreichend verdienen, um ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Zum Beispiel: 539.200 Menschen in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, also Menschen, die trotz ihrer Erwerbslosigkeit nicht zu Hause sind, sondern sich fortbilden oder einer geförderten Beschäftigung nachgehen. Zum Beispiel: 290.082 Menschen in Erziehung, Haushalt und Pflege, also Menschen, die deshalb nicht erwerbstätig sind, weil sie Kinder betreuen müssen, Angehörige pflegen usw. Mit anderen Worten: ein sehr erheblicher Teil der 3,9 Millionen Menschen, die laut BILD "arbeiten könnten, aber Stütze kriegen", geht tatsächlich einer Erwerbstätigkeit nach, ist in einer Ausbildung, qualifiziert sich oder kann schlicht wegen familiärer Pflege- und/oder Betreuungsverpflichtungen keiner Erwerbstätigkeit nachgehen. Die Behauptung, dass 3,9 Millionen Menschen Bürgergeld beziehen, obwohl sie arbeiten könnten, ist mit Blick auf die veröffentlichten Zahlen, schlicht falsch.

Übrigens, tatsächlich sind rund 1,8 Millionen erwerbsfähige Leistungsberechtigte Ausländer*innen. Darunter sind aber, wie auch die BILD fairerweise berichtet, fast 500.000 Ukrainer*innen, die erst seit 2022 nach Deutschland geflüchtet sind. Und richtig ist auch, dass der nach Abschluss eines Asylverfahrens automatisch erfolgende Übergang in den Rechtskreis des SGB II bzw. XII dazu führt, dass Flüchtlinge zunächst eine überdurchschnittliche Quote an Hilfebedürftigkeit in der Grundsicherung haben. Ein Gutteil dieser Menschen dürfte sich aber unter denjenigen befinden, die zwar Bürgergeld beziehen, aber erwerbstätig sind, in einer Ausbildung oder einer geförderten Beschäftigung, mithin: auf dem Weg der Integration. Dass Menschen hierher mit dem Traum kommen, in einer Sammelunterkunft von Grundsicherungsleistungen zu leben, gehört zu den unsterblichen Mythen der deutschen Migrationspolitik. Und ja, die Zahlen hinterlassen Fragen. Mir fallen auf Anhieb drei ein: Warum sind mehrere hunderttausend Menschen erwerbstätig und benötigen trotzdem existenzsichernde Transferleistungen zum Überleben? Warum sind über 550.000 Alleinerziehende grundsätzlich erwerbsfähig, beziehen aber Bürgergeld? Warum ist häusliche Pflege und Betreuung ein hunderttausendfaches Armutsrisiko? Und wie lässt sich dies mit guter Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ändern?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Alexander Fischer

Alexander Fischer. Mensch. Historiker. Vater.

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